Russland sieht sich als »Friedensbringer« in der Ukraine

Der Krieg, den es nicht gibt

Die russische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie eine Niederlage der Separatisten in der Ostukraine nicht hinnehmen wird.

Wie moderner Pazifismus aussieht, wird derzeit in der Ostukraine anschaulich durchexerziert: Alle kämpfen mit der Waffe, aber keiner führt Krieg. Dabei ziehen alle beteiligten Seiten ihren Nutzen aus dem nicht enden wollenden Konflikt. Nur die nicht bewaffnete lokale Bevölkerung hat das Nachsehen. Sie kann nur abwarten oder fliehen und sich für unbestimmte Zeit eine andere Bleibe suchen. Die Anzahl der Todesopfer hat sich im August auf inzwischen über 2 500 verdoppelt. Aber auch das macht offiziell noch keinen Krieg aus. Die ukrainische Führung hält an ihrer sogenannten Antiterroroperation fest, Anhänger der Donezker und Lugansker »Volksrepubliken« schlagen sich dank militärischer Unterstützung des östlichen Nachbarn durch und ruhen sich von den Kampfstrapazen gelegentlich jenseits der Grenze im russischen Hinterland aus, während die russische Regierung sich als Friedensbringer in Szene setzt.
Fast schon einem Mantra gleicht die Beteuerung, die der russische Außenminister Sergej Lawrow am Montag vor Studenten einer Moskauer Eliteuniversität wiederholte: Russland strebe kein militärisches Eingreifen an. »Wir treten für eine ausschließlich friedliche Beilegung dieser schweren Krise ein«, sagte das dienstälteste Regierungsmitglied. Übersetzt aus der Diplomatensprache lautet die Botschaft, dass es eine Kriegserklärung an die Ukraine nicht geben wird. Vor dem Hintergrund eines Informationskrieges, in dem der Wahrheitsgehalt medialer Berichte schwer einzuschätzen ist, wirkt Lawrows Aussage glaubwürdig. Was nicht heißt, dass russisches Militär nicht an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt ist, obwohl die russische Führung dies bislang vehement bestreitet.
In der letzten Augustwoche wurden Informationen bekannt, die sowohl Lawrows Beteuerung als auch die Präsenz russischer Militäreinheiten auf ukrainischem Gebiet bestätigten. Niemand bestreitet, dass auf Seiten der Aufständischen russische Staatsangehörige kämpfen. Alexander Sachartschenko, Anführer der Donezker »Volksrepublik«, spricht von 3 000 bis 4 000 Personen, ein Großteil davon ehemalige Angehörige der russischen Streitkräfte mit Kampferfahrung in Konfliktregionen. Den Beweis für die Präsenz regulärer Truppen blieb die Ukraine jedoch bislang schuldig, was deren Präsidenten Petro Poroschenko vergangene Woche nicht davon abhielt, von einer russischen Invasion zu sprechen. Auf von der Nato präsentierten Satellitenaufnahmen waren zwar russische Panzer zu sehen, im Kreml schien dies jedoch keinerlei Beunruhigung hervorzurufen.

Ein größerer Patzer unterlief den Streitkräften allerdings mit zwei gescheiterten Operationen. Am Donnerstag voriger Woche gab der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU die Festnahme von zehn Soldaten der russischen Luftlandetruppen aus Kostroma bekannt, die etwa 20 Kilometer von der russischen Grenze entfernt aufgegriffen worden waren. Das russische Verteidigungsministerium reagierte mit der lapidaren Erklärung, die Soldaten hätten sich verlaufen, schließlich sei die Grenze nicht überall eindeutig kenntlich gemacht. Alle Soldaten dürfen wieder nach Russland zurück. Kein Krieg – keine Kriegsgefangenen. Lediglich ein Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts wurde eingeleitet. Vier der Festgenommenen teilten mit, dass sie zu einer Übung einberufen und über ihren wahren Zielort bis zuletzt in Unkenntnis gehalten worden seien.
Tragisch endete hingegen der Beschuss russischer Soldaten regulärer Einheiten im Donezker Gebiet. Bereits Mitte August brach der Kontakt Angehöriger zu einer in Pskow stationierten Luftlandedivision ab. Erste Hinweise, dass es zu Todesopfern kam, bestätigten sich nach der Beerdigung mehrerer in der Ukraine ums Leben gekommener Soldaten. Dabei sollten die Bestattungen unter größter Geheimhaltung stattfinden. Lew Schlosberg, Abgeordneter der Partei Jabloko aus Pskow und Geschäftsführer der Lokalzeitung Pskowskaja Gubernija, sorgte allerdings für die Veröffentlichung erster Bilder von den Grabstätten und brach damit offenbar ein Tabu. Wenige Tage später griffen Unbekannte ihn vor seinem Haus an und fügten ihm Kopfverletzungen zu, die zu einem kurzzeitigen Gedächtnisverlust führten. Der Zusammenhang der Tat mit Schlosbergs brisanter Entdeckung ist offensichtlich, anzunehmen ist demnach auch, dass viele andere Beerdigungen in den Medien gar keine Erwähnung finden werden, auch wenn Kenntnisse über beigesetzte Soldaten in einigen weiteren Regionen vorliegen.
Mehr als 100 sollen es sein. Diese Zahl nannten Sergej Kriwenko und Ella Poljakowa, Mitglieder im Präsidialrat des Präsidenten für Menschenrechte, die sich seit vielen Jahren für die Rechte von Wehrpflichtigen einsetzen. Sie gehen von etwa 300 Verletzten aus. Dabei beziehen sie sich auf ihnen von Militärangehörigen und Verwandten zugetragene Informationen. Auch hier ließ die Bestrafung nicht lange auf sich warten. Das Justizministerium veranlasste kurzerhand die Eintragung der »Soldatenmütter St. Petersburg«, die Ella Poljakowa leitet, in das Register für »ausländische Agenten«.

Militärisch gesehen läuft es derzeit schlecht für die Kiewer Zentralregierung. Einige Positionen konnten die Separatisten zurückerobern, darunter die grenznahe Stadt Nowoazowsk, zudem musste die ukrainische Armee den Flughafen von Lugansk räumen. Die nächste Station, um den Landweg von russischem Territorium auf die Halbinsel Krim zu ebnen, wäre Mariupol mit knapp einer halben Million Einwohnern. Dabei sah es eine Zeitlang ganz nach einer unvermeidlichen Niederlage für die Aufständischen gegen das ukrainische Militär aus. Dort jedoch steht es mit der Kampfmoral nicht zum Besten. Von einer einheitlich strukturierten Armee kann immer noch keine Rede sein, dabei erklärt beispielsweise der Anführer des paramilitärischen nationalistischen »Rechten Sektors«, Dmytro Jarosch, die recht hohen Verluste bei den Kadern seiner Organisation mit mangelnder Militärtechnik und der Dis­ziplinschwäche Einzelner sowie der Inkompetenz der Generäle.
Aber die ukrainische Regierung sieht sich eben auch verstärkt mit dem Einschreiten des russischen Militärs konfrontiert. Russland hält den bewaffneten Aufstand in »Noworossija« (Neurussland), mit allen nötigen Mitteln aufrecht und ist offenbar bereit, noch weiter aufzustocken, um dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko deutlich zu machen, dass er sich, was auch immer er unternimmt, keinerlei Chance auf eine militärische Überlegenheit ausrechnen darf. Eine Absage an ein weiteres militärisches Vorgehen und Zugeständnisse an die »Volksrepubliken«, die auf einem kompletten Rückzug ukrainischer Truppen aus dem Donezker und Lugansker Gebiet beharren, bergen für ihn jedoch ebenfalls hohe Risiken. Im Gegensatz zum unangefochtenen Putin benötigt Poroschenko dringend vorzeigbare Erfolge, um bei den Parlamentswahlen eine Mehrheit zu erlangen, aber auch, um gegenüber der ukrainischen Oligarchie eine starke Position einnehmen zu können. Insbesondere Ihor Kolomojskyj, Oligarch und Gouverneur von Dnepropetrowsk, konnte seinen Machtbereich bereits ­erheblich erweitern, nicht zuletzt weil er finanziell und mit eigenen Truppen nicht unwesentlich zur »Antiterroroperation« beiträgt.
Der Zentralregierung mangelt es an Möglichkeiten, die Krise im Osten der Ukraine unter Kontrolle zu bringen. Angesichts des Einflusses Russlands auf die Separatisten liegt es nahe zu fordern, dass Putin eingreifen solle, doch er weigert sich, selbst mit den »Volksrepubliken« in Verhandlungen zu treten. Ein innerukrainisches Problem, so das Argument, müsse innerhalb der Ukraine geregelt werden. Die ukrainische Regierung solle sich, so die klaren Worte Putins, umgehend um Verhandlungen bemühen, um die politische Verfasstheit und im Weiteren die Frage des staatlichen Status der Region zu klären.
Es wäre auch zu einfach zu glauben, Russland habe alle separatistischen Kräfte in den »Volksrepubliken« unter Kontrolle und könne nach Belieben jene zurückpfeifen, die sich gerade erst in ihrer neuen Rolle eingerichtet haben. Zu viel Eigenständigkeit der aus Russland eingesetzten Führungskader passt allerdings auch wieder nicht ins Konzept, weshalb vermutlich der militärische Kommandant Igor Strelkow und der politische Anführer Alexander Borodaj nach Russland abgezogen worden sind.

Tatsächlich hat die russische Führung an der politischen Ausgestaltung von »Noworossija« an sich kein Interesse, vielmehr dient die Region als eine Art Pfand gegen einen potentiellen Nato-Beitritt der Ukraine. Zur Erleichterung der politischen Einflussnahme pocht Russland zudem auf die Föderalisierung der gesamten Ukraine. Ende August sagte der Separatistenführer Alexander Sachartschenko jedoch, er könne der Idee einer Föderalisierung nichts abgewinnen, und sprach sich stattdessen für die Unabhängigkeit der Donezker »Volksrepublik« aus. Bei den Verhandlungen in Minks forderten die Separatisten hingegen weitreichende Autonomie mit einem »besonderen Status« für ihre bewaffneten Kämpfer.
In der Hauptstadt Weißrusslands gehen die Verhandlungen im Rahmen einer Kontaktgruppe weiter, an der sich Vertreter Russlands, der Separatisten aus der Ostukraine, Gesandte der ukrainischen Regierung sowie Angehörige der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beteiligen. Zuletzt fanden Gespräche vor einem Monat statt. Das Ziel ist es, zunächst einen Waffenstillstand zu erreichen. Westliche Politiker machen sich halbherzig Gedanken über weitere Sanktionen gegen Russland, während Putin sicher sein kann, über genügend Reserven zu verfügen, um die ukrainische Regierung in die Enge zu treiben.