Zweiter Teil ­eines Berichts aus Israel

Eine Wohnung für alle Fälle

Der Gaza-Konflikt bestimmt die Berichterstattung der israelischen Medien, aber auch der Antisemitismus in Europa wird dort wahrgenommen. Juden aus Europa wandern daher wieder vermehrt nach ­Israel aus. Zweiter Teil eines Berichts aus Israel.

Inzwischen herrscht Waffenruhe, doch mitten im Krieg mit der Hamas beschäftigte sich die Titelgeschichte der kostenlosen Wochenzeitung ­Israel Hayom (Israel heute) mit dem Antisemitismus in Europa. Der Rechtsanwalt Nathan Gelbart beklagt dort, dass in Berlin vor den Augen der untätigen Polizei eine israelische Fahne verbrannt worden sei. Sacha Stawski berichtet von Todesdrohungen, die er erhalten habe, weil er eine antiisraelische Demonstration in Deutschland dokumentierte. Die Antisemitismusforscherin und Chefhistorikerin von Yad Vashem, Dina Porat, die unter anderem auf die sozialen Probleme von Migranten mit muslimischem Hintergrund eingeht und die Erfolge der extremen Rechten in Belgien, Frankreich, Griechenland und Ungarn erwähnt, schreibt auch über die radikale Linke. Sie zeige der Jugend in Europa »ein Symbol des Bösen – Israel und die Juden – auf welches sie ihre Aggressionen richten können. Diese Jugendlichen kennen den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht und ich bezweifle, dass sie Gaza auf der Landkarte finden könnten.«
Der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer ist zwar kein radikaler Linker, könnte aber Gaza auf der Landkarte finden, zumal er Israel besucht und dort Reden gehalten hat. Dennoch klagte er jüngst in einer Rede in Österreich, die Zahl der Opfer im Gaza-Krieg weise eine »beträchtliche, wenn nicht extreme Unverhältnismäßigkeit« auf. Wird er im kommenden Jahr bei den Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der Befreiung Österreichs beklagen, dass die Opferzahlen der Westalliierten im Verhältnis zu den deutschen unverhältnismäßig gering gewesen seien? Außerdem behauptete er, nicht jede Kritik an Israel könne »auf die Ebene des Antisemitismus gehoben werden«. In der zivilisierten Welt holt man den Antisemitismus aus der untersten Schublade, nicht so in der Wiener Hofburg. Während des Kriegs schickte die jüdische Gemeinde in Wien hingegen eine Delegation, die verletzte Soldaten im Spital und israelische Städte und Dörfer in der Nähe Gazas besuchte. Andere jüdische Gemeinden Europas folgten diesem Beispiel.

Trotz des Krieges ließ ein in New York lebender Freund die Bar-Mizwa seines Sohnes in einer sephardischen Synagoge in Jerusalem veranstalten. Familienangehörige und Freunde aus den USA und Europa kamen. Sicher heben solche Solidaritätsgesten und die Immigration von einigen hundert Olim (jüdische Einwanderer) aus den USA und Frankreich die Stimmung der Israelis. Aber eine Masseneinwanderung wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird nicht erwartet. Die Einwanderer werden natürlich willkommen geheißen. Doch über diejenigen, die sich »für alle Fälle« in Tel Aviv oder Jerusalem eine Wohnung kaufen, sie aber nur ein oder zweimal im Jahr nutzen und sonst nicht vermieten, freut man sich überhaupt nicht, da dies die Wohnungspreise steigen lässt. Es gibt ganze Gegenden in ­Jerusalem, die am Abend dunkel bleiben, weil die Besitzer der Wohnungen und Häuser in Paris, London oder Berlin leben. Im vergangenen Jahr stiegen die Wohnungspreise um fast acht Prozent, was wiederum viele junge Israelis ins Ausland treibt.
Soziale Themen wurden während des Kriegs jedoch im Fernsehen vernachlässigt, da es laufend Berichte über den Beschuss Israels mit Raketen und über die Lage in Gaza gab. Der Hamas-Sprecher Sami Barhum sagte, es gehe nicht um die Öffnung der Übergänge nach Gaza, sondern um die Eroberung Jerusalems. Er halluzinierte die Eroberung der heiligen Stadt herbei und die Zuhörer stimmten begeistert »Khaibar, Khaibar, ya Yahud!« an – ein sich auf einen frühislamischen Sieg beziehender Aufruf, Juden abzuschlachten. Solche Sendungen führen den Israelis vor Augen, wie unsinnig die Behauptung einer »Mäßigung« der Hamas ist. Eine andere Sendung zeigte fünf jüdische Jugendliche im Gerichtsgebäude, die wegen rassistischer Rufe gegen einen arabischen Spieler von Maccabi Tel Aviv zu zwei Jahren Stadionverbot verurteilt wurden. Die Verurteilten trauten sich nicht, ihr Gesicht zu zeigen, und verhüllten dieses mit ihren hochgezogenen T-Shirts. So pluralistisch wie die israelische Demokratie ist auch das dortige Fernsehen. Am gleichen Abend sah man auch die arabische Knesset-Abgeordnete Hanin Soabi, die arabische Polizisten anschrie und als Waschlappen bezeichnete, »mit denen man den Boden aufwischen sollte«. Sie gehört der nationalistischen Balad-Partei an und rechtfertigt – wie ihre Partei – den Terror gegen Israel. Trotzdem hat der Oberste Gerichthof ein Verbot dieser Partei aufgehoben.

Am interessantesten fand ich die politischen Diskussionen. Einmal diskutierten eine rechte und eine linke Abgeordnete, die sich ins Wort fielen und vom Moderator ermahnt wurden: »Meine Damen, wir sind hier nicht in der Knesset.« Auf den Vorschlag, Gaza unter die Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) unter Mahmoud Abbas zu stellen, antwortete ein rechter israelischer Abgeordneter mit dem Hinweis, die PA sei korrupt. Das erinnerte mich ein wenig an eine alte jüdische Anekdote: Ein Rabbi lobt am Grab das verstorbene Gemeindemitglied: »Er sprach immer die Wahrheit und half den Armen.« Nach dem Verlassen des Friedhofs fragen erboste Juden: »Weshalb hast du diesen Lügner und Geizhals derart gelobt?« Der Rabbi rechtfertigt sich: »Ihr habt ja Recht, aber im Vergleich zu seinem Sohn war der Verstorbene ein Zadik (Gerechter).« Im Vergleich zu den Führern der Hamas kann Abbas tatsächlich als Zadik gelten.
Im Zug zum Flughafen in Tel Aviv saß ich neben einer muslimischen Familie, die Frau trug Kopftuch. Wie die meisten jungen arabischen Israelis sprachen alle ausgezeichnet Hebräisch. Sie hatten im Internet ein Schnäppchen gefunden und flogen nach Antalya. Auf meine Frage, wie es ihnen während des Kriegs ergehe, kam die traditionelle Antwort: »Alhamdulillah (Gottseidank), ausgezeichnet.« Jüdische und jüdisch-arabische NGOs berichten laufend über die Lage der arabischen Minderheit in Israel, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, und äußern Kritik an deren Behandlung.

Doch Israel hat mehr getan, um die sozioökonomische Ungleichheit zu verringern, als die meisten Länder, in denen es so verschiedene ethnische oder religiöse Bevölkerungsgruppen gibt. So ist die Lebenserwartung arabischer Israelis zwar um zwei Jahre geringer als die jüdischer Israelis, aber mit 79 Jahren sogar um ein Jahr höher als die von US-Amerikanern. Auch die durchschnittliche Zeit des Schulbesuchs ist zwischen 1961 und 2007 bei arabischen Israelis um das neunfache gestiegen und liegt nur knapp hinter der jüdischer Israelis. Die meisten arabischen ­Israelis wissen, dass sie im demokratischen und jüdischen Staat Israel wesentlich besser leben als in irgendeinem arabischen Staat.
Einer in diesem Frühjahr erfolgten Umfrage des Pew Research Center zufolge sind 84 Prozent der Israelis und 79 Prozent der Einwohner des Gaza-Streifens aufgrund des islamistischen Extremismus besorgt, in der West Bank sind es 57 Prozent. Der gewalttätige Islamismus bedroht aber nicht nur Israel und die Juden in Europa, sondern den gesamten Nahen Osten sowie Afrika nördlich des Äquators und das demokratische Europa. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man verschont bleiben wird, wenn man die Juden Europas und Israel im Stich lässt.