Social Media und Jihadismus

Katzenbilder und Leichenfotos

Warum werden ganz normale Menschen zu Terroristen? Dieser Frage geht ein britisches Institut auf den Grund. Ein ehema­liger Jihadist hilft dabei.
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Seit die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) die Nachrichten dominiert, kann sich Shiraz Maher vor Anfragen von Journalisten kaum noch retten. Der ehemalige Jihadist ist einer von neun Mitarbeitern am International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) in London. Dort beobachtet er Islamisten auf den verschiedenen sozialen Medien wie Facebook und Twitter. Forscher, Regierungen und Journalisten erhoffen sich von ihm Antworten: Wer sind diese jungen Kämpfer? Wie leben und denken sie? Und wie könnte beispielsweise verhindert werden, dass ein Jugendlicher wie Mustafa K. aus Nordrhein-Westfalen seinen Job hinschmeißt, um im Irak für den IS zu kämpfen?
2012 postete Mustafa K. noch Fotos von sich in der Berufsschule. Einige Monate später nannte er sich Abu Asiya al-Turki und posierte neben abgeschlagenen Köpfen in Syrien, was elf seiner Facebook-Freunde mit einem »Like« quittiert haben. Shiraz Maher hält zu Menschen wie ihm Kontakt. Sie vertrauen ihm, da er ihre Sprache spricht und weiß, wie man mit ihnen umgehen muss. Schließlich war er früher selbst einer von ihnen. In Saudi-Arabien aufgewachsen schloss er sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir an. Der Wendepunkt war das Londoner Attentat von 2005, bei dem 50 Menschen in der U-Bahn im Berufsverkehr ums Leben kamen. Shiraz Maher stieg aus.
Spricht man ihn heute auf diese Zeit an, gibt er ausweichende Antworten und macht nur spärliche Angaben. Er hat Morddrohungen erhalten und Teile seiner Familie halten sich weiter in islamis­tischen Kreisen auf. Wahrscheinlich ist es seine eigene Geschichte, die ihn heute antreibt. Er möchte herausfinden, wie es passiert, dass junge Männer, die eben noch gesellschaftlich integriert in westlichen Ländern lebten, alles hinter sich lassen und ihr Leben als Kämpfer im Irak fortsetzen.
Ist es das private Umfeld, die Familie, ein radikaler Imam oder sind es falsche Freunde? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Fest steht, dass sie aus allen sozialen Schichten kommen. Muslimische Migranten sind genauso betroffen wie konvertierte Christen. Ein ungelernter Gemüseverkäufer kann genauso in den heiligen Krieg ziehen wie ein wohlhabender Akademikersohn. Um Näheres herauszufinden, verbringt Shiraz Maher einen großen Teil seines Tags auf Facebook, Instagram und Twitter.
Dort posten die Islamisten Propagandamaterial, das gerade jetzt während der Konflikte in Sy­rien, im Irak und im Gaza-Streifen das Internet überschwemmt. Die Bilder und Videos sind Teil eines Propagandakrieges, der über die sozialen Medien ausgetragen wird und eine seltsame Doppelfunktion hat: Während echte und manipulierte Bilder von Gräueltaten in Gaza Israel als Aggressor darstellen sollen, um die Taten der Hamas zu legitimieren, wollen die Terroristen des »Islamischen Staates« mit Enthauptungsvideos Angst und Schrecken verbreiten: »Seht her: Es ist unser blutiger Ernst.« Diese Doppelstrategie ist durchaus erfolgreich. In Deutschland und den anderen westlichen Ländern verbreiten sich Vorurteile gegenüber Muslimen, während zugleich der Antisemitismus immer salonfähiger wird. Wenn den Islamisten eines gelungen ist, dann, den Konflikt in die Welt zu tragen.

Unter einem Foto, auf dem ein Jihadist stolz ­neben einer Leiche posiert, steht »Mein erstes Mal«. Wer täglich solche Bilder sichtet, muss ei­niges ertragen können. Während die Welt gerade schockiert ist über die Brutalität, mit der der IS im Irak vorgeht, ist Shiraz Maher abgehärtet: Er kennt das schon aus Syrien und anderen Konflikten – es sei nur eben bisher weniger sichtbar gewesen. Wer sich heute mit 20 Jahren einer Terrororganisation anschließt, ist mit sozialen Medien aufgewachsen und ist es gewohnt, seinen Alltag im Internet zu verbreiten. Was Jihadisten in sozialen Netzwerken posten, geht weit über den Propagandakrieg hinaus und zeichnet ein Bild der Banalität des Bösen. Sie posten Katzenbilder neben Leichenfotos. Sie filmen sich selbst, wie sie triumphierend mit Pick-ups herumfahren und fotografieren ihre Mahlzeiten. Sie ­geben sich Tipps für den Häuserkampf und diskutieren über Markenklamotten. Über welche Routen reist man ins Kriegsgebiet ein? Wie kommt man an Waffen? Wie ist das Essen?
Shiraz Maher interessiert sich für die Frage, warum so viele der Jihadisten ausgerechnet zum »Islamischen Staat« gehen. Heute mag der mili­tärische Erfolg eine große Rolle spielen, der aber vor der Einnahme von Mossul im Juni 2014 so nicht abzusehen war. Ein Grund könnte sein, dass der IS seinen Kämpfern Wohnungen, Essen und bis zu 400 Dollar Taschengeld im Monat bietet. Das ist mehr als in den meisten anderen Terrororganisationen, die eher darauf bauen, dass die Jihadisten von sich aus und allein aus religiösem Fundamentalismus in den Kampf ziehen.
Im Institut hat Shiraz Maher den Spitznamen »Precog«. Das Wort stammt aus dem Film »Minority Report«, in dem es darum geht, Verbrechen zu erkennen, bevor sie begangen werden. Wenn beispielsweise ein britischer Islamist aus seinem westlichen Alltag plötzlich in Richtung Krisengebiet verschwindet, schickt Shiraz Maher schon mal eine E-Mail an die britischen Behörden. Als verlängerter Arm der Polizei sieht er sich hingegen nicht. Wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass eine Person ein Verbrechen begehen könnte, teilt er das mit, damit sich Polizei oder Sozialarbeiter einschalten können. Aber das würde er genauso bei jeder anderen Person tun, die glaubhaft damit droht, ein Verbrechen zu begehen.

Vorverurteilungen möchte Shiraz Maher jedoch vermeiden. Derzeit läuft in Großbritannien eine Debatte über die Verfolgung von Islamisten. So fordert der Londoner Bürgermeister Boris Johnson, dass alle britischen Jihadisten als schuldig zu betrachten seien, solange sie ihre Unschuld nicht beweisen können. Das lehnt Shiraz Maher scharf ab – unter anderem, weil dadurch den Kämpfern die Möglichkeit genommen wird, auszusteigen und in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Wenn ihnen nach ihrer Heimkehr automatisch eine harte Gefängnisstrafe droht, seien sie quasi gezwungen, im Nahen Osten weiterzukämpfen.
Wissenschaftlich gesehen arbeitet Shiraz Maher in einer Grauzone aus Überwachung und Forschung. Mit seiner Kommunikation kann er gar nicht verhindern, das Verhalten derjenigen mit zu beeinflussen, die er studiert. Ethische Richtlinien fordern eigentlich, dass Menschen informiert werden müssen, wenn sie Teil eines Forschungsprojektes werden. Wenn er sich mit ihnen auf Facebook »befreundet«, outet er sich früher oder später. Anders ist die Arbeit wohl auch nicht zu machen. Man sollte sich Shiraz Maher nicht als »Schlapphut« vorstellen, sondern wie einen Anthropologen, der fremde Stämme studiert. Die Jihadisten halten auch dann noch Kontakt zu ihm, wenn sie seine Arbeit kennen. Sie sehen sich auf einer Mission für Allah und gegen die USA und möchten, dass die Welt das erfährt. Zu einigen hält er telefonischen Kontakt über ein zweites Handy. Sein privates Telefon benutzt er dafür nicht, da er Angst hat, wegen seiner eigenen Vergangenheit abgehört zu werden.
Finanziert wird das International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence über die kanadische Regierung, die EU, Stiftungen und private Spender – normale Forschungsgelder. An seine gesammelten Daten lässt Shiraz Maher angeblich niemanden heran, obwohl sich unter anderem die Geheimdienste CIA, MI5 und BND sehr dafür interessieren. Derzeit unterhält er eine Datenbank mit rund 600 Personen – darunter 45 Deutsche. Pro Person werden rund 60 Einträge gesammelt: wo sie leben, woher sie stammen, welche Sprachen sie sprechen, mit wem sie vernetzt sind. Dazu nutzt er die Software »Torch« des US-amerikanischen Herstellers »Palantir«, an dessen Gründung auch die CIA beteiligt war. Shiraz Maher versucht, Muster in den Daten zu entdecken, zum Beispiel ob eine Person plötzlich anfängt, sich wesentlich intensiver mit anderen Jihadisten auszutauschen. Er hofft, dass aufgrund dieser Muster Präventionsprogramme entwickelt werden können, mit denen man Menschen davon abhalten kann, in den Jihad einzusteigen.