Der Abschlussbericht des thüringischen Untersuchungsausschusses zum NSU

Sabotage im Untergrund

Der Abschlussbericht des thüringischen NSU-Untersuchungsausschusses liefert ein verheerendes Bild von den Behörden. Angesichts der weiterhin bestehenden Unklarheiten wäre ein weiterer Untersuchungsausschuss nötig.

Harte Worte kursierten in den Medien, nachdem der Abschlussbericht des thüringischen Untersuchungsausschusses zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) Ende August veröffentlicht worden war. »Abschlussbericht bezeichnet Ermittlungen als Fiasko«, titelte der Spiegel. »Untersuchungsausschuss hält auch Absicht der Behörden für möglich«, vermeldete der MDR. Die Freie Presse konstatierte: »Thüringer NSU-Bericht nährt Verdacht der Sabotage.« In einem Sondervotum stellten Katharina König und Dieter Hausold, Abgeordnete der Linkspartei im Landtag und Mitglieder des Untersuchungsausschusses, fest, dass es aus heutiger Sicht unvorstellbar scheine, »wie sich die Ermittlungsbehörden derart irren konnten«. Sie halten es für »unbegreiflich, dass Hinweisen, es könne sich um rassistisch motivierte Gewalttaten von rechts handeln, nur sehr oberflächlich oder gar nicht nachgegangen wurde«. Aber eine wirkliche Erklärung können auch sie nach zweijähriger Arbeit, dem Durchforsten von 7 000 Aktenordnern, knapp 70 Sitzungen und über 100 Zeugenbefragungen nicht liefern.
In dem knapp 1 900 Seiten umfassenden Abschlussbericht wird dargestellt, was welche Behörde getan oder unterlassen hat, um der drei untergetauchten Neonazis habhaft zu werden. Selten wird nachvollziehbar, warum so und nicht anders entschieden wurde. Viele Zeugen konnten oder wollten sich an wenig oder nichts erinnern. Diejenigen, die sich noch gut erinnerten, berichteten, dass sie in der Ermittlungsarbeit stark behindert worden seien. So gab der frühere Leiter der Staatsanwaltschaft Gera, Arndt Koeppen, in seiner Aussage zähneknirschend zu, dass Zielfahnder der Polizei immer wieder verraten worden seien. »Wenn die sich irgendwo angepirscht und versucht haben, jemanden festzunehmen, seien die Zielpersonen vorher offenbar gewarnt worden«, wird seine Aussage im Bericht wieder­gegeben.

Warum dieser Verdacht zu keinerlei Konsequenzen seitens der jeweiligen Behörden geführt hat, bleibt ungeklärt. Die »Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen«, die »Organisationsmängel« in den Behörden und die völlige Missachtung üblicher Vorgehensweisen lasse »auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu«, stellt der Untersuchungsausschuss fest. Die Mitglieder des Ausschusses konnten nicht klären, ob es an dem Desinteresse vieler Beteiligter lag, dass die Fahnder scheiterten, oder ob »gezielte Sabotage« im Spiel war. Zwar spekulieren sie im Bericht darüber, aber einen Beweis bleiben sie schuldig.
Dafür werfen die Ausschussmitglieder den Verfassungsschutzämtern eine »mittelbare Unterstützung« und »Begünstigung« von Rechtsextremen vor. Als bekanntestes Beispiel wird im Bericht der Gründer des rechtsextremen Thüringischen Heimatschutzes, Tino Brandt, genannt. Die an ihn geleisteten Zahlungen in Höhe von über 100 000 Mark hält der Ausschuss für weit überhöht. In ihrem Sondervotum kommen die beiden Abgeordneten der »Linken« zu dem Schluss, dass gerade die »vom Verfassungsschutz eingesetzten V-Personen im rechten Milieu« oftmals die »Radikalisierungsprozesse in ihrem Umfeld« befördert hätten. Bei den V-Leuten handele es sich zumeist um »führende Persönlichkeiten in den Strukturen«, denen ihre Tätigkeit als Kader »mit Geld- und Sachmitteln erleichtert oder gar erst ermöglicht« worden sei. Dank der Unterstützung sei es ihnen überhaupt erst gelungen, »Vernetzungsprozesse voranzutreiben, die dann der Verfassungsschutz im Nachgang beklagt« habe. Die Behörden hätten von diesen überzeugten Nazis nur die ­Informationen erhalten, die diese ihnen geben wollten.
König und Hausold werfen vor allem dem Landesamt für Verfassungsschutz vor, »in fortgesetzter Weise Straftäter und Führungskader vor Verfolgung« geschützt und die »neonazistischen Organisationen und Strukturen« alimentiert zu haben. Unqualifizierte Sachbearbeiter hätten die Informanten ohne große schriftliche Vorgaben mehr oder weniger nach Gutdünken angeleitet, weil die zuständigen Beamten ihrer Kontrolltätigkeit nur unzureichend oder gar nicht nachgingen. Häufig sei Geld das einzige Mittel gewesen, um diese Quellen zu steuern. Ein Verfassungsschützer bezeichnete es in seiner Zeugenaussage als »normal«, dass staatliche Mittel zu einem Gutteil in den Aufbau von Organisationen flossen.
Organisationen, aus denen sich dann später der NSU und seine Unterstützer rekrutierten. König und Hausold sind überzeugt davon, dass Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe nicht allein handelten, sondern zu einem Netzwerk militanter Neonazis gehörten. In ihrem Sondervotum schreiben sie, dass dieser Personenkreis mehr als 200 Neonazis umfasse, »deren Rolle im Netzwerk, ihre jeweiligen Tätigkeiten und Handlungen bis heute nur in Teilen bekannt sind«. Zwar sei es »dem Untersuchungsausschuss gelungen, Verwicklungen, Fehlverhalten bis hin zu möglichen Sabotageakten durch Sicherheitsbehörden aufzuzeigen«, sagt König im Gespräch mit der Jungle World. »Aber die Vielzahl an bestehenden offenen Unklarheiten und Fragen macht einen weiteren NSU-Untersuchungsausschuss, nicht nur in Thüringen, unerlässlich.«
Nicht nur die Vergangenheit soll dabei untersucht werden. Zahlreiche Betätigungen in Thüringen für den wegen des Vorwurfs der Unterstützung des NSU inhaftierten Neonazikader Ralf Wohlleben zeigen aus Königs Sicht, dass solche Strukturen nicht nur in den neunziger Jahren existierten. Auch außerhalb rechtsextremer Schwerpunktregionen wie Ballstädt, Crawinkel und Kahla finden regelmäßig Solidaritätskonzerte für den Angeklagten statt. Zuletzt wurde am 1. März zwischen Saalfeld und Jena eine konspirative Veranstaltung mit einschlägigen Neonazimusikern abgehalten. Nach Königs Kenntnissen nahmen daran sowohl Anhänger des »Freien Netzes« als auch ehemalige Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes teil. Auf solchen Szeneveranstaltungen werden T-Shirts und Buttons mit der Aufschrift »Freiheit für Wolle« verkauft, auch eine »Soli-CD« ist erhältlich.

»Der Abschlussbericht macht deutlich, dass längst nicht alles aufgeklärt ist«, sagt König. Weder seien im NSU-Verfahren alle verantwortlichen Neonazis angeklagt, noch gebe es entsprechende Ermittlungen gegen verantwortliche Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Auch auf die für die Angehörigen der Ermordeten quälende Frage, wie die einzelnen Opfer der NSU-Mordserie ausgewählt wurden, gibt es bisher keine Antwort. »Eines der Hauptprobleme, der Rassismus der Gesellschaft«, so die Abgeordnete, gehöre ebenfalls »auf die Agenda der Landespolitik«. Der jährlichen Bevölkerungsbefragung »Thüringen-Monitor« zufolge gingen fast 50 Prozent der Teilnehmer davon aus, dass Deutschland »überfremdet« sei, sagt König.