Wer cool ist, trägt keine Tasche

Jesus hatte auch keinen Turnbeutel

Wer braucht schon Beutel? Ein Plädoyer gegen die Unsitte des Menschen, ständig Dinge mit sich herumschleppen zu wollen.

Die längste Zeit meines Lebens trug ich einen schweren Rucksack auf dem Buckel. Erst einen Scout-Schulranzen mit Dschungelmotiv, der so groß war wie ich selbst und außer dem Kleinen Brockhaus, einem Setzkasten mit Bleilettern und einem Atlanten im Format DIN A1 noch die zwei Zentnergewichte enthielt, die wir für den Sport brauchten. Dann den üblichen Eastpak, der mir fast ein Jahrzehnt im Nacken klebte und am Ende auch so aussah. Ihm wollte ich ewig treu sein, notfalls sollte meine Asche in ihm beerdigt werden. Dann erregte das abgewetzte Ding einmal das Missfallen des Dichters Max Goldt, der mich zu einer Umhängetasche überredete. Mit roten Ohren entließ ich den Eastpak in die Wildnis und kaufte eine Umhängetasche, die ich so lange trug, bis sie sich einmal beim Fahrradfahren um mich wickelte und mich mit Schmackes auf die Fresse legte.
Ich ließ auch von der Umhängetasche und trug fortan alles in einer Jutetüte herum, bis ich merkte, dass mich das doch sehr stark als alternden Single-Mann kennzeichnete, denn die erledigen grundsätzlich alle Besorgungen mit einer leicht verranzten Jutetüte in den schwielengegerbten Händen. Ja, schlimmer noch: Eventuell wirkte ich gar wie einer jener urbanen Modetoren, die sich durch das Tragen dieser Taschen über exakt solche alternden Single-Männer lustig machen, und das kratzte doch etwas an meinem Stolz als alternder Single-Mann.

Heute bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es Kennzeichen eines Gentleman sein sollte, nichts mit sich zu tragen, oder so wenig wie möglich. Denn was genau trägt man denn mit sich? Der einzige Gegenstand, den ich regelmäßig aus der Tasche zog, war eine Schachtel mit Kopfschmerztabletten, und Kopfschmerztabletten bekommt man heute wirklich überall, im Zweifel von so mittelalten Damen in Kneipen, die auch noch sehr dankbar sind, sich als Heilerin und Kräuterweiblein produzieren zu können.
Ansonsten waren meine Taschen bis zum Rand mit Kabeln und Adaptern gefüllt, die ich jedoch niemals benutzte. Ich wollte sie lediglich dabeihaben für Fälle, in denen sich plötzlich irgendwelche Schnittstellen- und Kompatibilitätsprobleme ergeben sollten. Aber die wenigen Probleme dieser Art, deren Zeuge ich wurde, waren so kompliziert, dass sie auch mit einer ganzen Wagenladung Kabel nicht hätten gelöst werden können.
In der Zeit meiner Taschenschlepperei antwortete ich, so ich gefragt wurde, warum ich stets all dieses Zeug mit mir schleppte, mit mokantem Zungenschlag: »Falls plötzlich die Apokalypse ausbricht, kann ich zwei Tage lang aus diesem Ränzlein leben.« Das stimmte zwar, sofern ich im Fall des Weltuntergangs meine Diät auf Kabel umgestellt hätte, kam mir aber im Laufe der Zeit immer seltsamer vor. War ich damit nicht auch einer dieser Survival-Irren geworden, ein Jack-Wolfskin-Opfer, ein Prepper gar? Und war dieses Klientel nicht von einer tiefen Zivilisationsskepsis, ja, -feindschaft geprägt? Vulgo: beinharte Nazis? Und war es nicht meine Pflicht als wurzelloser Kosmopolit und hedonistischer Salonkosmonaut eben diese Zivilisation zu beschützen? Indem ich ihr einfach schon habituell mein Vertrauen aussprach? Diese Zivilisation ist so gut, sollte mein Auftritt letztlich signalisieren, dass ich nichts anderes mitzunehmen brauche als eine Kreditkarte, ein Handy und gute Laune.

Und ich erinnerte mich früherer Ausflüge in unsere hochkompetitiven Provinzdiskos, wo es Pflicht war, auf möglichst alles zu verzichten, was die Polinie stören könnte, Schlüssel, Geldbeutel, alles wanderte in einen wohlverborgenen Brustbeutel, um den in knallenge Jeans gepackten Knackarsch, den ich damals tatsächlich hatte, nur ja zur Geltung zu bringen. Wie dekadent, wie nichtsnutzig! Und wie cool! Wie weit, so dachte ich, war ich heruntergekommen: von einem sorglosen Hüpfer voller Lebenskraft zu einem angsterfüllten, frühvergreisten Mühlenschrat mit Buckel, der mit zitternden Fingern sein Louis-Vuitton-Täschchen an sich presst, wenn er mal nach zehn Uhr allein U-Bahn fahren muss.
Heute weiß ich: Richtig coole Leute kaufen sich alles, was sie brauchen, immer wieder neu vor Ort und geben den alten Plunder direkt an die Arbeiterwohlfahrt, statt ihn noch jahrelang mit sich herumzutragen. Was trägt man denn schon mit sich, jetzt ganz existenziell gesprochen? Ein Kreuz, genau! Und was tat Jesus mit seinem Kreuz? Genau, er verbrannte es im Garten Gethsemane, stieg ohne Handgepäck in den Flieger Richtung Paradies. Ohne Koffer, Beutel oder Utility-Belt. Genau darin kann uns Jesus heute Vorbild sein.