Die bessere Hauptstadt

Es gab natürlich gewichtige historische Gründe, die seinerzeit dagegen gesprochen haben, wahrscheinlich hätte es auch niemals funktioniert, trotzdem hätte es zumindest erwogen werden sollen: ob nämlich Wien, nicht Brüssel, zur Hauptstadt Europas gekrönt hätte werden müssen. Wieviel Gutes hätte eine solche Verlagerung bewirkt! Die deutsch-französische Achse, heute wie damals maßgeblich für viel europapolitischen Unfug, wäre ins Wanken geraten, der Schwerpunkt Europas wäre gleich von Anfang an mehr im Süden, mehr im Osten gelegen, also dort, wo Europa seine Wurzeln und auch seine Zukunft hat; auch hätte die Peripherie nicht so aggressiv vernachlässigt werden können. Wien wäre ein glaubwürdiges Gegengewicht zu Berlin und Paris, Brüssel hingegen ist bloß eine Bushaltestelle auf dem Weg dazwischen. Mit einer Hauptstadt Wien hätte die EU aufgesetzt auf die integrativen Leistungen der k.u.k.-Mo­narchie, dem ersten Staat auf dem Kontinent, der den Islam als vollwertige Religionsgemeinschaft anerkannt hat. Es hätte auch eine andere symbolpolitische Bedeutung gehabt, nicht eine wuselige Handelsmetropole, sondern eine glanzvolle Kunst- und Residenzstadt zum Herzen Europas zu erheben; wer weiß, die Dominanz der Wirtschaftsbeziehungen wäre von vornherein schwächer ausgefallen. Nicht zuletzt hätte eine europäische Hauptstadt Wien die Österreicher zum Guten hin verändert, hätte Eigenbrötlerei, Provinzlertum, der Sehnsucht nach einem besseren Gestern und den sich daraus entwickelnden rechtspopulistischen Bewegungen keinen Spielraum gegeben. So bleibt Wien der Schatten einer Hauptstadt, entwickelte sich zu einem verwilderten Museum, in dem sich selbst seine eingefleischtesten Bewohner nie ganz zu Hause fühlen, Nachlassverwalter in eigener Sache.