Die österreichische »Identitätssuche«

Österreichs neues Seelenheil

Hundert Jahre lang laborierten die Bewohner der Alpenrepublik an ihrem Minderwertigkeitskomplex: gegenüber Deutschland, der Welt und ihrer eigenen Vergangenheit. Davon ist nichts mehr zu spüren.

Es war im Sommer 1988, als die österreichische Seele wieder einmal öffentlich zum Vorschein kam. Der junge Parteiobmann der FPÖ, Jörg Haider, wurde von einem Reporter des ORF interviewt. Mitten im Gespräch platzte es aus Haider heraus: »Das wissen Sie so gut wie ich, dass die österreichische Nation eine Missgeburt gewesen ist, eine ideologische Missgeburt, denn die Volkszugehörigkeit ist die eine Sache und die Staatszugehörigkeit ist die andere Sache.« Man hat diesen Satz Haiders oft als Indiz für seinen Rechtsextremismus ausgelegt, für seine Trauer über den Zerfall des Großdeutschen Reichs, für seine Nähe zur NS-­Ideologie. Doch man konnte Haiders Worte auch als Ausdruck eines verbreiteten nationalen Minderwertigkeitskomplexes interpretieren, als Ausdruck der beständigen Suche der Österreicher nach einer »österreichische Identität«, wie das der Historiker Friedrich Heer einmal genannt hat. Also als etwas durch und durch Österreichisches. Diese Sehnsucht und Suche nach einer nationalen Identität ist ein Prozess, der fast 100 Jahre andauerte und in jüngster Zeit offenbar zu einem Ende findet.

Wenn man von Österreich redet, muss man wissen, dass es zwei Österreichs gibt. Sie unterscheiden sich nicht räumlich voneinander, sondern zeitlich. Das eine Österreich ist die alte Habsburger-Monarchie, wie sie bis 1918 existierte. Das andere Österreich ist die Zweite Republik, also das heutige Österreich, das formell seit 1945 besteht und nach dem Abzug der Alliierten 1955 in seine Unabhängigkeit entlassen wurde. In der Zeit zwischen Ende des Ersten und Ende des Zweiten Weltkriegs konnten sich die Österreicher nicht entscheiden, ob sie Altösterreicher sein wollten oder Republikaner, Deutschösterreicher, Weimarer, Ost- oder Westeuropäer, Welt- oder Kleinbürger, Nationalisten oder Internationalisten, Liberale oder Reaktionäre, Faschisten oder Antifaschisten, Deutsche oder Ungarn, Tschechen oder Slowenen. Es war der Beginn einer langen Suche nach einer eigenen Identität. Doch was sollte das sein? Was zeichnet Österreich aus?
In der Tat hat kaum ein Land soviel Gutes wie Schlechtes über die Welt gebracht wie die Alpenrepublik. Auf der Plusseite verbucht werden Mozart, Schubert, Gustav Klimt, Bertha von Suttner, Sigmund Freud und die Psychoanalyse, Ludwig von Mises, Udo Jürgens, Falco, André Heller, Peter Alexander und der Schlagzeuger von Depeche Mode. Auf der Minusseite müssen die Österreicher sich die größten Übel zuschreiben lassen: den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, Hitler.
Doch die Österreicher wären nicht sie selbst, würden sie nicht einen Weg finden, ein bisschen an der Wahrheit herumzuschrauben. Sie haben es, wie es so schön heißt, geschafft, aus Sissi und Beethoven Österreicher zu machen und aus Hitler einen Deutschen. Dennoch oder gerade deswegen ist die österreichische Seele von einem tiefen Minderwertigkeitskomplex gezeichnet. War Österreich um das Jahr 1900 das Zentrum der Welt, eine Kultur- und Militärmacht, mit Meereszugang in Pula und Triest, so wurde es spätestens nach Ende der Nazi-Zeit zurückgeworfen auf ein kleines, kaum beachtetes Häufchen Land in Mitteleuropa. Weltpolitisch nicht wichtiger als Holland oder Dänemark. Wien ist seit den siebziger Jahren zwar Sitz der Vereinten Nationen, aber die wichtigen Entscheidungen werden allesamt in Genf oder New York getroffen. Und wenn die Österreicher gelegentlich doch für interna­tionale Schlagzeilen sorgten, dann bloß wegen Haider, Fritzl oder Natascha Kampusch.

Aus diesem Grund ist man stolz, wenn es einer »schafft«. Wenn Österreicher wie Christoph Waltz, Daniel Kehlmann oder Felix Baumgartner Ruhm im Ausland ernten, ist das Balsam für die gekränkte österreichische Seele. Und doch ist man zerrissen. Auf Arnold Schwarzenegger ist man stolz, weil er es aus der steirischen Einöde bis nach Hollywood »geschafft« hat. Aber er könnte doch bitte ein wenig mehr Feingeist sein! Für Elfriede Jelinek, die Literaturnobelpreisträgerin, schämt man sich. Sie könnte doch ruhig ein ­wenig bodenständiger sein! Am Ende ist es dem Österreicher nie recht.
Was Österreich wie kaum ein anderes Land gelingt, ist, seine Tradition mit der Moderne zu versöhnen. Zwar lautet das oberste Credo des modernen Homo Austriacus: »Man muss mit der Zeit gehen, sonst geht man mit der Zeit.« Dennoch gibt es sie noch, und es wird sie immer geben, die »Würstelstandel«, die Kaffeehäuser, die Fiaker, den mondänen Ringstraßen-Boulevard, die parfümierten Kommerzialratsgattinen zwischen Tuchlauben und Getreidemarkt, die Bussi-Bussi-Gesellschaft am Wörther See, das jährliche Stelldichein bei den Salzburger Festspielen, die Mozart-Doubles vor der Wiener Oper, die Kultivierung des Habsburger-Mythos. Die Starbucks-­Filialen haben keine Chance gegen die alteingesessenen Traditionscafés, die Fastfoodketten verblassen neben den klassischen Wirtshäusern. Man pflegt mit Hingabe die österreichischen Idiome in der deutschen Sprache. Alles Dinge, worauf die Österreicher sehr stolz sind.

Vor einigen Jahren erschien eine Studie, die das Maß an Patriotismus in verschiedenen Ländern verglich. Auf Platz 1 landeten die USA, auf Platz 2 Irland und auf Platz 3 Österreich. Interessant war vor allem, wie der Nationalismus jeweilis begründet wurde. Worauf waren Amis, Iren und Ösis stolz? Die Amerikaner führten den Jazz an, Woody Allen, die Unabhängigkeitserklärung mit ihren unveräußerlichen Menschenrechten, Hollywood, die größte Streitmacht der Welt. Die Iren gründeten ihren Nationalstolz auf ihre Dichter, ihre Lebensfreude, die Pub-Kultur, ihren unkaputtbaren Freiheitswillen. Und die Österreicher? Waren stolz auf ihre Wiesen, Seen und Berge. Es ist diese einfache, gemütliche Heile-Welt-Zufriedenheit, die man so nur zwischen Bregenz und dem Neusiedler See findet.
Aber worauf sollen die Österreicher auch sonst stolz sein? Ihre komplette Identität haben sie ­zusammengeklaut. Die Kultur ist deutsch, die Küche böhmisch und die Währung europäisch. Nach außen sind die Österreicher neutral wie die Schweiz, im Inneren korrupt wie Albanien. Die Wiener Jugend im Jahr 2014 ist zu gleichen Teilen türkisch, arabisch, jugoslawisch, osteuropäisch und ur­österreichisch. Ihre Eltern und Großeltern heißen Achleitner, Pospischil, Dordevic, Yildirim, Mohammed. Über die Österreicher heißt es, ein Österreicher sei der misslungene Versuch, aus einem Italiener einen Deutschen zu machen.
Aber Österreichs Image-Problem ist natürlich ein Luxus-Problem. Es gibt schlimmere Vor­urteile, als im Ausland immer auf »The Sound of Music« reduziert zu werden oder sich mit dem vermeintlich schweren Los eines Vielvölkerstaats herumzuschlagen. Aus Österreich zu kommen, heißt, überall willkommen zu sein. Man liebt dieses Völkchen auf der ganzen Welt, obwohl oder vielleicht auch weil man wenig über es weiß und obwohl oder vielleicht auch weil man das Land gerne mit Australien verwechselt. Austria oder Australia? Hauptsache sympathisch!

Die Österreicher lieben das Leben. Aber sie ­lieben es mit Verachtung. Freude ist immer auch ein wenig Schadenfreude. Selbst der größten Heiterkeit wohnt ein wenig Skepsis inne. Vielleicht, weil man doch ahnt, dass ein 3:0 bei einem Spiel der österreichischen Fußballnationalmannschaft nichts wert ist, wenn es nach 90 Minuten 3:3 steht. Wie gegen Nordirland in der Qualifi­kationsrunde für die WM 2006. Ein Spiel, das der damalige Teamtrainer Hans Krankl auf sehr ­österreichische Weise mit den Worten zusammenfasste: »Ich bin gezeichnet von einem Match, drei drei, das wir gewonnen haben.« Man schafft es, eine schöne Stimmung mieszureden, aber eben auch, eine bittere Niederlage als Sieg zu verkaufen.
Für Österreichs Image heute stehen Begriffe wie Fortschritt, Sicherheit und Lebensqualität. Aber auch Korruption. Nicht, weil die Bestechlichkeit weiter verbreitet wäre als früher. Sondern weil das Thema Korruption inzwischen offen thematisiert und in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen erörtert wird. Schmiergeld, Parteibücher, Freunderlwirtschaft waren Jahrzehntelang der Motor der österreichischen Wirtschaft. Sie schufen eine bürgerliche Aristokratie, in der man ohne Bekannte und Kontakte »aufgeschmissen« war. Aber das ist eine innerösterreichische Angelegenheit, an der das Ausland keinen Anstoß nimmt.
Papst Paul VI. nannte Österreich einmal eine »Insel der Seligen«. Das ist es heute mehr denn je. Man löst sich langsam von der Kränkung, die man meint, sich vor 100 Jahren zugezogen zu haben, als 1914 der Zerfall des großen Habsburger-Imperiums begann und die Österreicher sich daran machten, eine neue nationale Identität zu konstruieren. Heute hat man sie scheinbar gefunden – und sie ist überraschenderweise bunt und weltoffen. Es sind Menschen wie Sebastian Kurz, Conchita Wurst, David Alaba, Andreas Gabalier und Daniel Kehlmann, die Österreich heute repräsentieren. Das Land steht zu seiner alten, neuen Vielfalt. Ein Land, das nach Jahrzehnten der Kränkung mit sich im Reinen ist – der Rest wird einfach offensiv vergessen.

Oliver Jeges ist ein österreichisch-deutscher Journalist und Autor des Bestsellers »Generation Maybe – Die Signatur ­einer Epoche«.