Nur eine wird gewinnen: Brasilien vor den Präsidentschaftswahlen

Basis gegen Charisma

Bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl in Brasilien wird ein knappes Rennen zwischen der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff und der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva erwartet. Sonderlich progressiv sind beide nicht.

So hatte sich das Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff nicht vorgestellt. Lag die 66jährige Politikerin der Arbeiterpartei (PT) in Umfragen Anfang August noch weit vor den anderen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl am 5. Oktober, wurden die Karten praktisch über Nacht neu gemischt. Der Grund für die Wendung: Nach dem tragischen Tod von Präsidentschaftskandidat Eduardo Campos, der am 13. August bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, nominierte die Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) die populäre Marina Silva als Nachfolgerin. Die 56jährige war vom PSB eigentlich als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft vorgesehen. Während Campos in Umfragen abgeschlagen hinter der amtierenden Präsidentin Rousseff und dem Kandidaten der wirtschaftsliberalen Sozialdemokra­tischen Partei (PSDB), Aécio Neves, lag, stiegen die Zustimmungswerte für Silva in Umfragen rasant. Eine Stichwahl mit ihrer einstigen Parteikollegin Rousseff ist nun wahrscheinlich. Dass weiterhin eine Frau das höchste Amt des Landes bekleiden wird, bezweifelt kaum noch jemand.
Mit Silva könnte auch erstmals eine Nachfahrin schwarzer Sklaven Präsidentin werden. Ihr Werdegang ist bewegend. Aufgewachsen als Tochter einer armen Kautschukzapferfamilie im Amazonas-Bundesstaat Acre, lernte Silva erst in ihrer Jugend Lesen und Schreiben. Nach dem Tod ihrer Eltern zog sie in die Landeshauptstadt Rio Branco. Hier begann ihre politische Laufbahn, erst an der Seite des weltbekannten Umweltschützers und Gewerkschaftsführers Chico Mendes, später in der Arbeiterpartei PT. Sie machte als Abgeordnete in der Hauptstadt Brasília Karriere. Nach dem Wahlerfolg des PT 2002 wurde sie schließlich Umweltministerin. Aus Protest gegen die Amazonas-Politik von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der die Abholzung für die Ausweitung der Agroindustrie nicht stoppen wollte, verließ sie 2008 die Partei. Bei der Präsidentschaftswahl 2010 trat Marina Silva für die Grüne Partei (PV) an und erzielte mit 19 Prozent der Stimmen überraschend den dritten Platz. Im vergangenen Februar gründete sie ihre eigene Partei, scheiterte aber an der Zulassung zur diesjährigen Präsidentschaftswahl. Um doch noch im Rennen zu bleiben, tat sich Silva im Oktober 2013 mit Campos zusammen und trat in den PSB ein.

Neben einer filmreifen Lebensgeschichte und ihrem Charisma ist es vor allem ein breites politisches Programm, das Silva populär macht. Dieses wird von ihr als »neue Politik« bezeichnet. Sie verbindet umweltpolitische Fragen mit wirtschaftsliberalen Konzepten und wertkonservativen Ansichten. Damit gelingt es Silva, verschiedenste Wählergruppen anzusprechen. Der PT und die linke Opposition warnen jedoch vor einem Rückschritt. »Ihre Wirtschaftspolitik ist bei weitem neoliberaler als die des rechten PSDB«, meint der PT-Ökonom Marcio Pochmann. In der Tat plädiert Silva für eine autonome Zentralbank, fordert eine Beschränkung staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft sowie eine stärke Hinwendung zu den USA und Europa. Als ihren Stellvertreter ernannte sie den Anwalt Beto Albuquerque, der wiederum dem Agrobusiness nahesteht.
Als Mitglied der Pfingstkirche Assembleia de Deus kann Silva außerdem mit der Unterstützung der einflussreichen evangelikalen Kreise rechnen. Mehrmals positionierte sie sich bereits öffentlich gegen Schwangerschaftsabbruch und Drogenkonsum. Mitte August löste die Mutter von vier Kindern eine Debatte aus, einige Passagen ihres Regierungsprogramms hatte sie keine 24 Stunden nach der Veröffentlichung zurückgenommen. In der ersten Version wurde Unterstützung für die Zivilehe von Homosexuellen und das Adoptionsrecht für Schwule und Lesben zugesichert. Nach öffentlichem Druck von evangelikalen und konservativen Gruppen ließ sie alle wesentlichen Punkte in Hinblick auf die Gleichbehandlung von Homosexuellen verändern oder streichen. »Sie hat mit der Hoffnung von Millionen von Menschen gespielt«, kritisierte Jean Wyllys, ein Abgeordneter der linken Oppositionspartei PSOL und LGBT-Aktivist, Silvas Rückzieher auf seiner Facebook-Seite.

Trotz aller Kritik gelingt es Silva, sich auch für junge Wählerinnen und Wähler als Alternative darzustellen. Der »dritte Weg« ihrer Partei entspricht dem Wunsch vieler Brasilianerinnen und Brasilianer, die zwei Jahrzehnte währende Dichotomie zwischen PT und PSDB zu überwinden. Zudem wird von Silva eine bei weitem progressivere Umweltpolitik erwartet als von der derzeitigen Regierung, die die Nähe zum agroindustriellen Sektor suchte und die Rechte von Indigenen hintanstellte. Auch wird Silva nicht müde zu betonen, dass sie die populären Sozialprogramme weiterführen will, etwa die von Präsident Lula da Silva initiierte »Bolsa Família« (Familienzuschuss), ein Programm, das arme Familien finanziell unterstützt, die ihre Kinder in die Schule und zur Gesundheitsvorsorge schicken. »Ich weiß, was es heißt, Hunger zu leiden. Wer so etwas erlebt hat, wird niemals den Familienzuschuss streichen«, sagte Silva während einer emotionalen Wahlkampfrede in der nordöstlichen Stadt Fortaleza.
Im omnipräsenten Wahlkampf gegen Silva präsentiert der PT die Konkurrentin als Instrument der Rechten und stilisiert sich als Vorreiter gegen »Finanzmarktkapitalismus« und soziale Ungleichheit. Allerdings entfernt sich die Arbeiterpartei zugunsten einer unternehmerfreundlichen Politik immer weiter von ihrer Basis und sozialistischen Idealen. »Durch mangelhafte Dialogbereitschaft und fehlende Antworten auf unsere Probleme hat sich der PT in den zwölf Jahren Regierungszeit immer weiter von den sozialen Bewegungen distanziert«, sagt Josué Rocha von der Wohnungslosenbewegung MTST der Jungle World.
Trotzdem kann sich der PT auf eine relativ breite und loyale Wählerbasis jener Brasilianerinnen und Brasilianer verlassen, die dank der Sozialprogramme aus der extremen Armut aufgestiegen ist. Die Aufbruchstimmung der Anfangsphase ist jedoch längst verflogen und durch die Massenproteste im vergangenen Jahr verlor die Präsidentin enorm an Popularität, wovon sie sich nur schwer erholen konnte. Auch die WM im eigenen Land brachte nicht den gewünschten Imageschub und ökonomischen Aufschwung. Die Wirtschaft des Brics-Staates wächst seit längerer Zeit nur gering.

Unterdessen erwartet Brasilien ein neuer Korruptionsskandal. Paulo Roberto Costa, ein ehemaliger Manager des halbstaatlichen Ölkonzerns Pe­trobras, erhebt schwere Korruptionsvorwürfe gegen Dutzende Politikerinnen und Politiker, darunter auch mehrere Mitglieder des PT. Bereits zuvor hatten Korruptionsskandale den einst als »unbestechliche Partei« geltenden PT tief erschüttert. Aber auch Eduardo Campos, Silvas verstorbener Vorgänger und Parteikollege, soll Schmiergelder in Millionenhöhe erhalten haben.
Das Misstrauen vieler Brasilianerinnen und Brasilianer gegenüber dem politischen Establishment wächst. Experten rechnen für die Wahlen erneut mit einem historischen Höchstwert an Enthaltungen sowie Nichtwählerinnen und -wählern. Im Großraum São Paulo rufen linke Gruppen und soziale Bewegungen dazu auf, niemandem die Stimme zu geben. »Unsere Kampagne ist eine radikale Absage an das aktuelle politische System. Keine der Parteien repräsentiert die Stimme der Straße«, sagt Henrique Souza da Silva von der Kampagne »Voto Nulo« (Ungültige Stimme) der Jungle World.
Die politische Rechte präsentiert sich derweil ideenlos. »Vor allem weil sie große Schwierigkeiten hat, sich als Alternative für die arme Bevölkerung darzustellen«, meint der Politikprofessor André Singer. Der Versuch, den Petrobras-Skandal politisch auszuschlachten, scheiterte bislang kläglich. Trotz der Schwäche der Rechten wird die zukünftige Präsidentin weiterhin auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen sein. Ideologieübergreifende Koalitionen sind im brasilianischen Parlament nicht unüblich. Hier dominieren neben Vertretern des Agrobusiness Erzkonservative und Evangelikale als mögliche Partner. »Wir werden uns den reaktionären Sektoren entgegenstellen«, ruft Luciana Genro den Studierenden im überfüllten Hörsaal der staatlichen Universität von São Paulo zu. Dafür erntet die Spitzenkandidatin des PSOL tosenden Beifall. Jedoch kann sich die linke Partei höchstens auf lokaler Ebene Chancen ausrechnen. Viele Linke erwarten deshalb trotz eines Duells zwischen zwei vermeintlich progressiven Kandidatinnen keine grundlegende Reform des politischen Systems.