Die Schweizer Volkspartei will Schweizer Recht vor Völkerrecht gelten lassen

Mit dem Volk gegen das Völkerrecht

Die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei (SVP) will in einer neuen Volksinitiative Schweizer Recht über das Völkerrecht stellen. Damit würden sämtliche Schranken fallen, die der Umsetzung ihrer bisherigen erfolgreichen Mehrheitsentscheide im Weg stehen.

Man muss wahrlich kein Freund der Menschenrechtskonvention von 1950 sein. Bereits im zweiten Artikel kann man lesen, dass die Tötung ­einer Person nicht als Verstoß gegen die Konvention betrachtet wird, wenn sie dazu diene, »jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern« (Art. 2). Es soll also bitteschön erst in Rechtsform gegossen werden – darum ist die Todesstrafe explizit vom Tötungsverbot ausgenommen –, bevor man jemanden auf der Flucht oder anderswo erschießt. Die Menschenrechtskonvention entspricht formal dem normalen kapitalistischen Vollzug, der analog zur Warenform die Rechtsform als Grundbedingung seines eigenen Funktionierens voraussetzt. Aber nicht nur die Form entspricht dem kapitalistischen Katastrophenzusammenhang, auch der Inhalt korrespondiert mit den Geschäftsgrundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Man könnte also die Frage stellen, warum eine antagonistisch verfasste Gesellschaft die Rechtsform und eine bewaffnete Gewalt, die sie durchsetzt, braucht, um die eigentlich vernünftigen Banalitäten des menschlichen Zusammenlebens zu garantieren. Wenn die Menschenrechte aber von rechts an­gegriffen werden, sollte man aufhorchen.

Mitte August hat die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei (SVP) die erste Version eines Ini­tiativtextes vorgelegt, der die Relativierung des internationalen Rechts am Landesrecht zum Inhalt hat. Die Bundesverfassung soll »oberste Rechtsquelle« der Eidgenossenschaft sein und über dem Völkerrecht stehen. Einzig ausgenommen ist das »zwingende Völkerrecht«. Die SVP grenzt dieses zwingende Völkerrecht auf einen bestimmten Vertragszustand von 1969 ein, der unter anderem das zwischenstaatliche Gewaltverbot, das Verbot des Völkermordes sowie das Verbot der Sklaverei und der Folter festschreibt. Es geht der Partei um einen Angriff auf jene Teile des internationalen Rechts, die ihr bei der Umsetzung der sogenannten Ausschaffungsinitiative von 2010 einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Damals hatte die SVP die automatische Abschiebung von Ausländerinnen und Ausländern gefordert, die eine kriminelle Handlung begangen haben. Das Schweizer Bundesgericht argumentierte 2012, dass das völkerrechtliche Grundprinzip der Verhältnismäßigkeit dies verbiete. Die SVP schreibt in ihrer Pressemitteilung zur nun vorgelegten Initiative, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Falle der »Ausschaffungsinitiative« das »Interesse verurteilter Krimineller am Schutz ihres Familienlebens konsequent höher als die öffentliche Sicherheit« bewerte. Dieser Fall zeigt exemplarisch, was sich die SVP von der neuen Initiative erhofft: Die Menschenrechte kollidieren mit Abstimmungserfolgen der Partei und sollen deshalb dem Schweizer Recht untergeordnet werden.
Die Politik der SVP zielt auf die Mobilisierung ihrer Wählerinnen und Wähler, Schweizer Recht soll durch Mehrheitsentscheide willkürlich verändert werden können. Genauer betrachtet sieht die vorliegende Initiative nicht nur den Vorrang des Landesrechts vor dem Völkerrecht vor, sondern privilegiert auch Mehrheitsentscheide gegenüber rechtlicher Regulierung. Bereits seit Jahren wird in den Publikationen der Partei davon gesprochen, dass dem »Volkswillen« nichts im Weg stehen dürfe und der einzige Souverän »das Volk« sei.

Die SVP ist in der Schweiz jene Kraft, die die direkte Demokratie am offensivsten vertritt. Damit ist die Partei weit realitätsnäher als die freund­lichen Anarchos, die von einer utopischen direkten Demokratie träumen. Die Rechtspopulisten wissen sehr genau, auf welche gesellschaftlichen Kräfte sie sich stützen können. Man denke nur an die letzte Abstimmung, in der die SVP die Ressentiments mobilisieren konnte. Zwar gab es auch großen Widerstand, doch die Partei konnte praktisch im Alleingang eine knappe Mehrheit der Stimmbürgerinnen und -bürger für die »Masseneinwanderungsinitiative« (Jungle World 6/2014) gewinnen, die eine Einführung von Zuwanderungsquoten vorsah und gegen Freizügigkeitsabkommen mit der EU verstieß. Und das war kein Einzelfall.
Meist konnte sich die SVP durchsetzen, wenn es um ressentimentgeladene Abstimmungen ging. Erinnert sei an die »Verwahrungsinitiative«, die sich gegen die Entlassung nicht therapierbarer Gewalt- und Sexualstraftäter nach Abgeltung ihrer Haft wendete und nach Jahren des Widerstands schließlich 2007 umgesetzt wurde, und an die »Minarettinitiative«, als 2009 die Mehrheit der Wahlberechtigten in der Schweiz für ein Bauverbot von Minaretten stimmte.
Bisher hatte sich die SVP damit begnügt, die rechtsstaatlichen Institutionen, die sich eben auch auf internationales Recht stützen, punktuell anzugreifen. Zum einen in den Parteipublika­tionen, in denen immer wieder gegen »fremde« Richterinnen und Richter gewettert wird, die die direkte Demokratie unterhöhlen und schließlich zerstören würden. Zum anderen wurden immer wieder politische Vorstöße unternommen, die mit Rechtsnormen kollidieren mussten. Dass die Partei jetzt auf direkte Konfrontation mit dem internationalen Recht und den es vertretenden Instanzen geht, ist neu. Offensichtlich schätzt die SVP das Kräfteverhältnis so ein, dass das mobi­lisierte Ressentiment ihre Vorstellung von der direkten Demokratie gegen alle Widerstände durchsetzen kann. Leider widerspricht die Erfahrung mit den entsprechenden Abstimmungen dieser Einschätzung nicht.