Nachruf auf den Hamburger Sprayer »Oz«

Partisan der Farbe

Im Grau der Stadt verbarg sich für ihn das Grauen. Dagegen protestierte Oz mit seinen Graffiti.

Zwei Jahre zuvor: KP Flügel, Buchautor und Hörfunkjournalist, rief mich im Hamburger Verlagsbüro von Assoziation A an und erzählte, er plane gemeinsam mit Jorinde Reznikoff die Herausgabe eines Buches über Oz, das dessen Werk im Spannungsfeld »zwischen Revolte, Repression und Kommerz« beleuchten solle. Er suche dafür einen Verlag. Ich war spontan Feuer und Flamme für das Projekt. Der Produktionsprozess des Buches gestaltete sich allerdings schwieriger als gedacht und zog sich in die Länge. Walter selbst war anfangs extrem misstrauisch und nur schwer von dem Projekt zu überzeugen. Ohne seine Einwilligung würde ich das Buch aber nicht machen, so viel stand fest. Erschwerend kam hinzu, dass sein Umfeld zerstritten war und von vielen Seiten – sei es mit den besten, sei es mit eigennützigen Absichten – an ihm herumgezerrt wurde.
Der Vorteil war: Ich lernte Walter nun genauer kennen. Walter Josef Fischer wurde am 7. Januar 1950 in Heidelberg geboren. Als uneheliches Kind wird er von seiner Mutter getrennt und von den Verwandten in ein katholisches Waisenhaus abgeschoben. Dort arbeiten zum Teil Erzieher und Erzieherinnen, deren Haltung noch von der nationalsozialistischen Ideologie der »Ausmerze« von der Norm abweichender Menschen geprägt ist. Als uneheliches Kind, das zudem an einer Sprachbehinderung aufgrund einer – später operierten – Gaumenspalte leidet, erfährt er mannigfache Demütigungen und Erniedrigungen, die er sein Leben lang nicht vergessen wird und die ihn für immer prägen werden. Mit 15 Jahren verlässt er das Heim. Pläne, Gärtner oder Friseur zu werden, zerstreuen sich. Walter bricht die Lehre ab. Anfang der siebziger Jahre trampt er durch Europa und unternimmt eine Weltreise, die ihn bis nach Indien und Afghanistan, schließlich nach Indonesien führen wird. Go East. Er verliebt sich in die tropische Natur, empört sich aber auch über Raubbau und soziale Ungerechtigkeit.
Schließlich zieht die indonesische Polizei seinen Pass ein und schiebt ihn nach Deutschland ab. Zurück in Baden-Württemberg macht er in Stuttgart eine Entdeckung, die sein Leben verändern wird. Es ist die Zeit des RAF-Prozesses in Stammheim und die Straßen sind voller Sprühereien, die zur Solidarität mit den Gefangenen aufrufen. Walter Fischer ist fas­ziniert und experimentiert mit der Sprühdose als Mittel des politischen Ausdrucks. Mitte der achtziger Jahre will er die Freistadt Chris­tiania in Kopenhagen besuchen, kommt aber nur bis Flensburg, wo er 1986 zum ersten Mal wegen Sachbeschädigung vor Gericht gestellt wird. Anfang der neunziger Jahre zieht er nach Hamburg. Erst hier entwickelt er sein charakteristisches Oz -Logo, das er in den nächsten Jahren zehntausendfach – neben Smileys, Spiralen, farbigen Gemälden – an die Hauswände, Stromverteilerkästen, Poller, Pfeiler und Brücken der Hansestadt sprühen wird.
Bald sind ihm die Polizei und die Hochbahnwache auf den Fersen. Schließlich wird sogar eine eigene Soko Graffiti gegründet, die ihm auflauert. Wiederholt wird er brutal zusammengeschlagen. Wegen seiner Sprü­hereien wird er mehrfach zu Gefängnisstrafen verurteilt, er verbringt insgesamt fast acht Jahre seines Lebens im Gefängnis. Der Kampf gegen die »Saubernazis« wird zu seinem Lebensinhalt. Er hat als Heimkind und sprachbehinderter Mensch den Terror der Normalität am eigenen Leibe erfahren. Aus diesem permanenten Gefühl der Demütigung heraus hat er ein hochempfindliches Sensorium für das unterschwellige Gewaltpotential von Sauberkeitsfimmel, Ordnungswahn und bürgerlichen Sekundärtugenden, die dieses Land noch nie am Morden gehindert haben, entwickelt. Das Grauen der deutschen Geschichte ist ihm stets präsent, auf den Leib gebrannt, als tiefe Beunruhigung und innerer ­Antrieb zum Handeln, als Verpflichtung zum »Dagegenhalten«. Wiederholt ist ihm gedroht worden, unter den Nazis sei »so jemand wie er vergast worden«. Als er in den Strafprozessen Schilder hochhält, auf denen »KZ OZ« oder »Jude« steht, wird dies häufig kritisiert. Genauso wie sein Statement, er wolle mit seinen Kringeln und Spiralen an jeden einzelnen ermordeten Juden und »Zigeuner« erinnern. ­Illegitime Einnahme einer Opferrolle und Banalisierung der NS-Verbrechen lautet der Vorwurf, in Wirklichkeit ist dies jedoch Ausdruck seiner Hypersensibilität gegenüber der Kontinuität einer untergründigen Gewaltbereitschaft gegenüber allem Abweichenden in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und Ausweis seines aufrichtigen Versuchs, mit bescheidenen Mitteln Widerstand und Erinnerungsarbeit zu leisten. Im Grau – »Wehrmachtsgrau«, wie er gern sagte – lauerte für ihn stets auch das Grauen. In der Übertünchung der Graffiti durch die Stadt, die Verkehrsbetriebe und Privateigentümer sah er einen Fanatismus am Werk, dem er kompromisslos den Kampf ansagte.
In vielen Kommentaren wurde die rhetorische Frage aufgeworfen, ob denn jeder, der um die frischgestrichene Fassade seines Eigenheims fürchte, nun ein Nazi sei. Wie auf die meisten rhetorischen Fragen, ist die Antwort eindeutig: In diesem Fall ein Nein. Die Frage ignoriert jedoch das Wesentliche: den eklatanten Überschuss an latenter und nur zu oft ­exzessiver Gewalttätigkeit, wie er sich selbst nach dem Tod in zahllosen Internet-Kommen­taren Bahn bricht, die sich nicht scheuen, den Tod dieses »Schmierfinks« zu feiern. Ein Hass, den er nicht wegen eines Gewaltverbrechens oder Massenmords, sondern wegen harm­loser Graffiti auf sich zieht. Es ist genau diese Mentalität, gegen die Oz mit vollem Recht zu Felde zog. Dabei ist das Schaffen von Oz wesentlich vielfältiger, als gemeinhin wahrgenommen wird. Neben dem Schriftzug »OZ«, den von den Hauswänden lächelnden Smileys und den tausendfachen Kringeln und Spiralen umfasst es auch großformatig-farbige Werke, die manchmal an Zellstrukturen erinnern, manchmal wie kosmische Visionen auf einem LSD-Trip wirken. Farbexplosionen, in denen Mikro- und Makrokosmos sich ineinander spiegeln. Darin verwoben aufblitzende menschliche Gesichter, mal lächelnd, mal einen aufrüttelnden Schrei artikulierend. Die Reduktion, die Fokussierung auf das Elementare zeichnet sein Werk aus. Darin ist er Keith Haring ähnlich.
Die schwarzen Tags sollten jedoch nicht aus dem Blick geraten lassen, dass das Universum von Oz im Wesentlichen bunt ist. Der Stadt die Farbe zurückzugeben, sie zu verschönern, war das erklärte Ziel von Oz. Deutlich wird dies auch in den Atelierbildern, die Oz auf Leinwand gesprüht hat. Als Spiritus Rector stand ihm dabei in einem bisweilen durchaus konfliktiven Verhältnis über Jahre sein Galerist Alex Heimkind von der OZM Art Space Gallery zur Seite, der mehrere Ausstellungen mit und von Oz organisierte und ihn zu Gemeinschaftsproduktionen mit anderen Künstlern ermunterte. Insbesondere in der letzten Ausstellung »Untitled« ist ein qualitativer Sprung in der künstlerischen Entwicklung von Oz erkennbar, der sein ungeheures Potential erahnen lässt.
Paradoxerweise hat Walter selbst das nie recht würdigen können. Immer wieder betonte er, dass er für die Galerie nur arbeite, weil er seine Anwälte finanzieren müsse. Sein Arbeitsfeld war definitiv die Straße. Sein Werk kann ­indes nur angemessen gewürdigt werden, wenn man es in seiner komplexen Gesamtheit ins Auge fasst. Wie er im Laufe von knapp einem Vierteljahrhundert die Hamburger Stadtlandschaft gestaltet hat, lässt sich nur mit dem Begriff des Gesamtkunstwerks erfassen, als monumentale soziale Plastik, die sein Leben mit einbezieht. Mit feinem Gespür hat das Hamburger Streetart-Duo Los Piratoz ein Graffiti gesprüht, das den chinesischen Dissidenten und Künstler Ai Weiwei mit Piratendreispitz neben die Parole »Free OZ« stellt. Beider Leben erscheint als ein Gesamtkunstwerk – nur dass bei Oz das Moment der Selbstinszenierung gänzlich fehlt.
Wohl auf lange Sicht einzigartig sind die Konsequenz und Zielstrebigkeit, mit denen Oz ­seinen Weg beschritt. Er ließ sich darin durch nichts und niemanden beirren: nicht durch Gewalt, Repression und Gefängnis, die ihn nicht brechen konnten; nicht durch ein Leben in bitterer Armut, das er mit völliger Bedürfnislosigkeit konterte; nicht durch Lob, Schmeichelei oder Winken mit materiellen Vorteilen, ­denen gegenüber er gänzlich unempfindlich blieb. Ich kenne kaum jemanden, der so unabhängig von den Meinungen anderer Menschen war wie er. Darin war er unerreichbar und unkorrumpierbar. Felsenfest in seinen Überzeugungen. Walter hatte seine Entscheidung getroffen, seinen Weg, seinen Kompass gefunden und folgte ihm unbeirrt. Zu sprayen war für ihn so selbstverständlich wie für andere das Atmen oder die Nahrungsaufnahme. Ein existentieller Akt. Auch wenn seinem Handeln eine offenkundige Besessenheit innewohnte: Oz war für mich in einem grundlegenden Sinn das aufrüttelnde Beispiel eines freien Menschen.
Im März 2014 lag das Buch »Free OZ! Streetart zwischen Revolte, Repression und Kommerz« schließlich druckfrisch vor uns. Oz hielt sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Hamburg auf. Wieder einmal war er von der Hochbahnwache verprügelt und mit dem Kopf auf das Trottoir geschlagen worden, was – möglicherweise verbunden mit einem leichten Schlaganfall – seine Artikulationsprobleme wieder hatte aufleben lassen. Zur Rehabilitation befand er sich in einer neurologischen Klinik in der Lüneburger Heide. Zu dritt fuhren wir nach Soltau, um Walter das Buch offiziell zu überreichen. Der Weg vom Bahnhof zur Klinik gestaltete sich als Schnitzeljagd: Wir brauchten nur den zahllosen Kringeln in der zuvor super-cleanen Kleinstadt zu folgen, um zielsicher zur am Waldrand gelegenen Klinik zu gelangen. Und selbst hier waren zwischen den Bäumen auf einsamen Schildern seine Embleme zu finden. »Walt-Art« nannte sie KP Flügel mit treffendem Witz. Wir verbrachten einen schönen, sonnenbeschienenen, frühlingshaft warmen Tag mit Walter, der das Buch bereits über einen Gewährsmann erhalten hatte. Er hatte es von vorne bis hinten durchgearbeitet und mit Kommentaren versehen. Wenn ihm etwas nicht gefiel, stand da zum Beispiel: »Von nichts ’ne Ahnung, aber dumm rumlabern.« Wie er es denn insgesamt finde, fragten wir ihn leicht beunruhigt. »Na ja, hätte schlimmer kommen können, nicht wahr.« Aus seinem Mund war das fast das höchste Lob.
Am 15. April 2014 folgte die Buchpremiere im Gängeviertel. Der Veranstaltungsraum war bis auf den letzten Platz gefüllt, und die mit einer Overheadprojektion seiner Arbeiten verbundene Lesung gelang als wunderschöne, beglückende Würdigung des Werkes von Oz und setzte ein klares Zeichen gegen die Kriminalisierung seiner Kunst und von Streetart im Allgemeinen. Walter war incognito in der freundschaftlich-beschützenden Begleitung seines Anwalts Andreas Beuth anwesend, von fast niemandem erkannt. Aber diesmal war er wirklich gerührt. »Zu mehr als hundert Prozent« zufrieden sei er, wie er mir sagte. Tatsächlich hatte er sich einen Platz erkämpft, den ihm niemand mehr nehmen konnte.
In der Presseberichterstattung hatte es einen Wandel gegeben, und mit den Ausstellungen und Veröffentlichungen der letzten Zeit war die Frage, ob es sich bei »Oz« um Kunst handele, entschieden. Oz hatte sich aus einem geschmähten, beleidigten, misshandelten und eingekerkerten »Schmierfinken« in einen anerkannten Graffiti-Künstler verwandelt. Unumkehrbar. Seine Peiniger und Verfolger waren auf immer gescheitert. Mit seinem Werk hatte sich Oz unauslöschlich in das Gedächtnis der Hansestadt eingeschrieben, war Teil ihrer Geschichte geworden. Ihm selbst war das wie immer völlig schnuppe. »Und wozu soll das gut sein?« fragte er. »Damit mich die Schergen beim nächsten Mal noch besser erkennen können?«
Wir haben danach noch einige Male telefoniert und uns gesehen. Einmal fragte ich ihn, ob er es nicht bequemer fände, auf einem Damenfahrrad zu fahren. »Nee«, sagte er. »Weißt du, wozu ich das brauche?« Er hielt an, lehnte sein »Herrenrad« an ein Straßenschild, stieg auf die Querstange und klebte oben einen Sticker an. »Da kommen die Schergen nicht so schnell ’ran und können ihn nicht wieder entfernen.«
Walter besaß eine ausgeprägte Guerillamentalität. Er sah sich in einem einsamen Kampf gegen die Mächte des Grau: Werbung, Ordnungshüter, Polizei. Ein Partisan der Farbe gegen das Einerlei der kapitalistischen Stadt, gegen das er mit friedlichen Mitteln kämpfte. Gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums reklamierte er ein Recht auf Stadt für alle und setzte es in einem selbstbewussten Akt der Aneignung und Umgestaltung in die Tat um. Seine einzige Waffe war die Sprühdose, mit der er seine Umwelt verschönern wollte. Zumeist war er als Einzelkämpfer unterwegs. Obwohl er von zahlreichen Streetartists und Graffiti-Writern als Vorbild verehrt wurde und auch in der Fanszene des FC St. Pauli auf große Resonanz stieß, suchte er nur selten den Kontakt. »Was hab’ ich mit denen zu tun?« sagte er häufig. Er war schon vom Alter her eine Ausnahme und spielte auch sonst in einer anderen Liga. Walter konnte auch anstrengend, starrsinnig und nervig sein. Ich erinnere mich, wie ich in einer schwierigen Situation in das Anwaltsbüro von Andreas Beuth kam. Im Besprechungsraum saß Walter mit mehreren Anwälten und weiteren Personen, um das Vorgehen in diversen Streitfällen zu besprechen. Der Einzige, der sprach, war Walter. Kerzengerade auf seinem Stuhl. Entschieden und stur. Unverrückbar in seinen Vorstellungen und Wertungen, die er endlos wiederholen konnte. Er wusste genau, was er wollte.
Von dem OZ-Schriftzug fühle er sich buchstäblich gegrüßt, wenn er in Hamburg unterwegs sei, hat Bent Angelo Jensen vom Mode­label Herr von Eden in unserem Buch geschrieben. Genauso ging es mir. Bei jedem Streifzug durch die Stadt begegnete mir ein Graffiti von Oz, und jedes Mal entlockte es mir ein inneres Lächeln. Seine Omnipräsenz hatte etwas Tröstliches, war Teil meines Heimatgefühls geworden. Home is where your heart is. Oz gehörte definitiv dazu. Als ich heute im Fahrstuhl zu meinem Arbeitsplatz in unserer Bürogemeinschaft hinauffuhr, fiel mein Blick auf einen Kringel von Oz, der den klapprigen Kasten, der manchmal stecken bleibt, seit seinem letzten Besuch zierte. Nun muss ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe, daran denken, dass Walter ihm keine weiteren Zeichen mehr hinzufügen wird. Die Welt ist durch seinen Tod ärmer geworden. Wie jemand im SWR richtig bemerkte: Hamburg hat sein Lächeln verloren.

Theo Bruns ist Übersetzer und Lektor und leitet den ­Verlag Assoziation A in Hamburg.