Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen im Gespräch über die reaktionäre Bewegung der »Lebensschützer«

»Weißer, heteronormativer Mainstream«

Am 20. September zogen auf dem »Marsch für das Leben« 5 000 Abtreibungsgegner und -gegnerinnen durch Berlin. Welche gesellschaftliche Bedeutung hat diese Bewegung? Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen, Mitarbeiter des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums in Berlin (Apabiz), haben kürzlich das Buch »Deutschland treibt sich ab« veröffentlicht, eine Analyse der Bewegung der »Lebensschützer«.

Für Ihr Buch haben Sie die Argumentation der »Lebensschutzbewegung« untersucht. Können Sie die Ergebnisse der Recherchen kurz zusammenfassen?
Eike Sanders: Wir beobachten die sogenannte Lebensschutzbewegung schon seit vielen Jahren, 2008 waren wir zum ersten Mal auf dem damals noch »1 000 Kreuze für das Leben« genannten Schweigemarsch in Berlin. Wir wollten wissen, wer die Akteure sind und welches Weltbild sie vertreten. Die »Lebensschützer« würden nicht nur gerne Abtreibungen verbieten, sondern betreiben auch eine umfassende Kulturkritik. Sie kämpfen gegen eine liberale Sexualmoral, gegen Feminismus und die Aufweichung der Zweigeschlechtlichkeit. Dabei sind sie überwiegend christlich motiviert, berufen sich auf Gott und die Bibel. Einige Protagonistinnen und Protagonisten haben eine klare inhaltliche Überschneidung mit der extremen Rechten, vor allem in ihrer Sorge um das »Aussterben der Deutschen«.
Was macht die »Lebensschützer« so gefährlich?
Ulli Jentsch: Zum einen ist es eine Bewegung, die stetig wächst, vor allem die zentrale Veranstaltung, der alljährliche »Marsch für das Leben« in Berlin. Außerdem hat die Bewegung ihre Themen auf alle biopolitischen und viele ethische Fragen sowie auf die Familienpolitik ausgeweitet. Dort kann sie eine gesellschaftlich wich­tige Stimme entwickeln. Daher denken wir, dass es wichtig ist, die Entwicklung ganz genau zu verfolgen. Die Alternative für Deutschland (AfD) sieht sich in weiten Teilen als Fürsprecherin der Bewegung. Ganz besonders Beatrix von Storch, die ja seit Jahren auf dem Berliner Marsch mitläuft. Ob nach den Erfolgen der AfD bei den Europawahlen und den letzten Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg jetzt wieder mehr Themen des »Lebensschutzes« in die Parlamente kommen, wird man sich angucken müssen.
Die Bewegung ist auch von einem Widerspruch zwischen der Skurrilität mancher Aktionsformen und der behaupteten Seriosität gekennzeichnet. Welche gesellschaftlichen Schichten werden davon angesprochen?
Felix Hansen: Es hat in den vergangenen Jahren eine enorme Professionalisierung stattgefunden, was die Kampagnenfähigkeit angeht. Das sieht man daran, wie »Lebensschützer« bei Gesetzesvorhaben intervenieren und Abgeordnete gezielt ansprechen, sowohl in Berlin als auch auf europäischer Ebene. Die Organisationen, die da aktiv sind, allen voran der Bundesverband Lebensrecht, agieren mittlerweile enorm geschickt.
Sanders: »Lebensschutz« findet für die Aktivisten ja nicht nur einmal im Jahr auf dem Marsch in Berlin statt. Die machen eben auch ganz viel Gemeindearbeit mit dem Thema, engagieren sich beispielweise für einen Gedenkstein auf dem örtlichen Friedhof für das »getötete ungeborene Leben«. Das finden die Leute vor Ort völlig normal und der Bürgermeister kommt auch zur Einweihung.
Jentsch: Es gab dieses Milieu ja schon immer, das sehr fundamentalistisch-christlich orientiert ist und ein konservatives bis reaktionäres Familienbild pflegt. Die »Lebensschutzbewegung« mobilisiert dieses Milieu, das ansonsten kaum sichtbar wird. Da ist dann der soziale Aspekt ganz stark, den man ja auch auf dem Marsch sieht und der zeigt, dass es sich um mehr als eine Ein-Punkt-Bewegung handelt. Die Frage ist schon, wie viel Schlagkraft die Bewegung mit den Leuten entwickeln kann, die zu diesem Milieu gehören. Das wird sich auch daran entscheiden, welche Teile der CDU sich zugehörig fühlen.
Kommt das Mobilisierungspotential mit dem eigenen Milieu an eine Grenze oder werden durch die Themenerweiterung über die Abtreibung hinaus auch andere Menschen angesprochen?
Sanders: Ich denke, es gilt beides. Den »Lebensschützern« gelingt momentan vor allem die Mobilisierung eines bestimmten Milieus, das sich angegriffen fühlt: ein weißer, heteronormativer Mainstream aus der Mittelschicht, der meint, sich und das christliche Abendland mit einer reaktionären Familienpolitik und einem Anti-PC-Diskurs verteidigen zu müssen.
Jentsch: Zurzeit ist es wohl noch vor allem dieses Milieu, das sich bedroht fühlt. Es ist auch ein Erfolg der Rhetorik des Kerns der Bewegung, dass der gefühlte Druck ansteigt. Der Durchbruch über das eigene Milieu hinaus ist noch nicht da, aber man merkt ganz deutlich, dass die »Lebensschützer« das anstreben. Ich habe beim diesjährigen Marsch mindestens drei Mal gehört, dass sie mehr als 10 000 Teilnehmer werden wollen. Das ist das kurzfristige Ziel. Und streng genommen sind sie erst dann eine Bewegung, wenn es ihnen ­gelingt, über ihre eigenen Kreise hinaus zu mobilisieren.
Sie schreiben in Ihrem Buch, das langfristige Ziel der Abtreibungsgegner sei ein christlicher Staat. Wie ernst muss man das nehmen?
Jentsch: Die Aktivistinnen und Aktivisten stellen sich nicht hin und sagen: »Wir wollen in Deutschland einen Gottesstaat.« Sie wollen allerdings tatsächlich Recht und Gesetz nach ihren Vorstellungen umformen. Sie wollen eine Verfassung, die sich an »Gottes Geboten« orientiert.
War der diesjährige Marsch Ihrer Einschätzung nach ein weiterer Erfolg für die Abtreibungsgegner oder hat die Gegenmobilisierung dies verhindert?
Sanders: Zahlenmäßig ist der Marsch nicht mehr so gewachsen wie in den vergangenen Jahren, dafür waren die Gegenproteste um einiges größer. Auch gab es in diesem Jahr auf jeden Fall eine Zuspitzung durch die breitere und entschlossene linke Mobilisierung und die stärkere inhaltliche Auseinandersetzung vorab. Es wäre allerdings fatal, sich darauf auszuruhen und zu glauben, dass die Märsche jetzt von selbst kleiner würden. Die Abtreibungsgegner selbst sehen die weiter steigende Zahl der Teilnehmer als Erfolg und stilisieren sich zugleich zu Opfern, weil ihnen Widerstand spürbar entgegenschlägt.
Jentsch: In ihrer Bilanz geht es auch die ganze Zeit darum, dass es so schlimm war wie noch nie mit den Gegenprotesten. Daher auch der frenetische Applaus für die Polizei beim Abschlussgottesdienst. Auch die Grußworte sind interessant, einerseits gab es eines vom Papst, andererseits explizit keines mehr von Markus Dröge, dem evangelischen Bischof von Berlin. Für die weitere Entwicklung sind das wichtige Fragen: Wie verhält sich eine Amtskirche perspektivisch dazu? Wie schaffen es die CDU-Mitglieder, sich einerseits als moderne, moderate Christen in Deutschland auszugeben und andererseits mit den schlimmsten Fundamentalisten, die es hier gibt und die immer noch gegen die Aufklärung kämpfen, ein außerparlamentarisches Bündnis zu schmieden? Da hat sich dieses Jahr erneut gezeigt, wer bereit ist, wie weit zu gehen: Der ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung ist mitgelaufen und hat auch eine Rede gehalten. Das ist auch ein Zeichen von Zuspitzung und darum wird es in den nächsten Jahren gehen.

Eike Sanders, Ulli Jentsch, Felix Hansen: »›Deutschland treibt sich ab!‹ Organisierter ›Lebensschutz‹, christlicher Fundamentalismus und Antifeminismus«. Unrast-Verlag, Münster 2014, 7,80 Euro