Die Regierungsbildung in Thüringen und Brandenburg

Die Gegenwart der Vergangenheit

Statt sich mit den Chancen und Risiken von Regierungsbeteiligungen zu beschäftigen, streitet die Linkspartei über die Charakterisierung der DDR.

Es ist, als befände sich die Linkspartei in einem Paralleluniversum. Hätte sie allen Grund, nach den Wahlen in Thüringen und Brandenburg über ihre künftige parlamentarische und außerparlamentarische Strategie zu diskutieren, beschäftigt sie sich lieber mit ihrer Vergangenheit. Heftigen Streit gibt es um eine Passage, auf die sich die Vertreter von Linkspartei, SPD und Grünen bei ihren Sondierungsgesprächen in Thüringen geeinigt haben. In ihrer Erklärung zur DDR-Geschichte, die auch in die Präambel eines eventuellen Koalitionsvertrages aufgenommen werden soll, heißt es: »Weil durch unfreie Wahlen bereits die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns fehlte, weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn einer der kleinen oder großen Mächtigen es so wollte, weil jedes Recht und Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat.«

Dass die DDR ein Willkürstaat war, »der in der Konsequenz Unrechtsstaat genannt werden muss«, stand bereits in einem Papier, auf das sich die rot-rot-grünen Unterhändler bei den Sondierungen 2009 verständigt hatten. Doch das ging offenkundig an vielen in der Linkspartei vorbei. »Die Brandmarkung der DDR als Unrechtsstaat entwertet, ob gewollt oder nicht, die Lebensleistung vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Staates«, empörte sich nun Wolfgang Gehrcke. Die Vorsitzende der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dagmar Enkelmann, sagte: »Der Begriff ist ein politisches, moralisches Urteil, das nicht erfasst, wie die DDR entstanden ist und wie sie sich entwickelt hat.«
Da die Linkspartei eine auf Profit und Krieg basierende Gesellschaft durch eine solidarische Gesellschaft ablösen wolle, sei es »unerlässlich, alle Quellen einer solchen Gesellschaft kritisch zu prüfen«, gab die ehemalige Parteivorsitzende Gesine Lötzsch zum Besten. »Verordnete Pauschalbegriffe sollen uns daran hindern«, so Lötzsch. Auch das Neue Deutschland wetterte gegen die »bigotte Geste«. »›Unrechtsstaat‹ ist der hierzulande sanktionierte Begriff zur Delegetimierung des gleichnamigen Sozialismusversuchs.« Selbst der sonst so schlaue Gregor Gysi ging auf Distanz. »Wir sind uns einig, diese Bezeichnung nicht zu verwenden«, sagte er der Super Illu. Als Reaktion auf die Verstimmung seiner Thüringer Genossen relativierte Gysi seine Aussage. Die DDR sei »eine Diktatur« und »kein Rechtstaat« gewesen. Erstaunliche Verrenkungen, die allerdings ihren Grund haben. Denn einer Emnid-Umfrage zufolge halten zwar 64 Prozent der Bundesbürger die DDR für einen »Unrechtsstaat«, bei Anhängern der Linkspartei sind es jedoch nur 28 Prozent.
»Dass die DDR ein unappetitlicher Drecksstaat war, sollte jedem klar sein, der einigermaßen klar bei Sinnen ist«, schreibt Heiko Werning in der Taz. Für die heutige Politik sollte die Frage, »wie man die DDR denn nun nennt, völlig schnurz sein«. Da irrt er. So unpräzise der Begriff »Unrechtsstaat« auch ist: Die allergischen Reaktionen zeugen davon, dass es in der Linkspartei immer noch keinen Konsens gibt, dass die DDR ein »Drecksstaat« war. Von einer »denunziatorischen Beschreibung der DDR« spricht denn auch die Kommunistische Plattform. Das sei eine »demütigende Zumutung« für die Genossen, die »mit Überzeugung für eine nicht vom Kapital dominierte Gesellschaft in der DDR gearbeitet haben«.
Unter denen, auf die es in der Thüringer Linkspartei ankommt, wird das mit dem »Unrechtsstaat« pragmatischer gesehen. Die Landtagsabgeordnete Ina Leukefeld, die als »IM Sonja« für die politische Kriminalpolizei K1 tätig war, sagte dem MDR: »Die Gretchenfrage ist tatsächlich: Ist es ein Unrechtsstaat gewesen?« Für sich selbst könne sie »diesen Kampfbegriff, dieses moralische Werturteil nicht annehmen«. Sorgen um ihr Abstimmungsverhalten im Landtag muss sich die Thüringer Parteiführung deswegen aber nicht machen. »Wegen eines Begriffs darf R2G nicht scheitern!« versicherte Leukefeld. Nicht nur wegen ihrer Spitzelvergangenheit lässt sich an Leukefeld zeigen, dass die Diskussion über die Vergangenheit viel mit der Gegenwart zu tun hat. Es geht nicht nur um abstrakte Geschichtspolitik, sondern auch um konkrete Biographien. Leukefeld, die Mitglied der Suhler SED-Kreisleitung war, sitzt seit 2004 im Thüringer Parlament. Ihr Fall illustriert, dass die heutige Linkspartei nicht nur die Rechtsnachfolgerin der SED ist, sondern auch in einer personellen Kontinuität steht. Daraus ergeben sich Konsequenzen, die der frühere Berliner Linkspartei-Staatssekretär Benjamin Hoff auf Freitag Online benannt hat: »Will sie mit denjenigen Parteien ein auf Dauer angelegtes Bündnis eingehen, deren Gründer/-innen in der DDR zum Teil jahrelangen systematischen Repressalien und politischer Justiz ausgesetzt waren, wird sie sich einer kritischen Würdigung dessen stellen müssen, die über den in der Linkspartei dazu geführten Diskurs hinausgeht.«

Die Debatte über eine angemessene Charakterisierung der DDR verdeckt, dass sich die Linkspartei eigentlich über anderes streiten müsste. Schließlich ist es abenteuerlich, dass sie nach ihrem Einbruch bei der Landtagswahl in Brandenburg der SPD dort wieder ihre Juniorpartnerschaft angedient hat. Die Quittung, die ihre Wähler ihr für ihre Regierungsbeteiligung ausstellten, hätte kaum deutlicher ausfallen können: Von 27,2 Prozent im Jahr 2009 auf nur noch 18,6 Prozent abgestürzt, hat sich die absolute Stimmenzahl der Linkspartei sogar mehr als halbiert.
Eine der Ursachen benennt die Rosa-Luxemburg-Stiftung in ihrer Wahlanalye ganz ohne Ironie: »Die Linke war dort erfolgreich, wo die größte Übereinstimmung mit den Positionen der SPD bestand.« Dass die Partei geschwächt und ohne Aufarbeitung ihrer bisherigen Regierungszeit erneut in eine Koalition mit der SPD gehen will, erscheint aberwitzig. Das erinnert an das betriebsblinde Agieren der PDS in Berlin 2006, die auch keine Konsequenzen aus ihrem Wahldesaster zog. Mit der Folge, dass sie sich nach weiteren Verlusten bei der Wahl 2011 in der Opposition unfreiwillig wiederfand. In Berlin haben damalige Akteure nun, drei Jahre danach, mit der Auseinandersetzung über das Scheitern begonnen. Ihr Bilanzpapier sei »getrieben von der Erkenntnis, dass die Verteidiger dieser zehnjährigen Regierungsbeteiligung in vielen Punkten eine radikalere Kritik am eigenen Tun formulieren könnten, wären nicht die Angriffe auf vermeintlichen Opportunismus, Feigheit, Sozialdemokratismus und mancher Mythos abzuwehren«, schreiben Carola Blum, Malte Krückels und Udo Wolf. Damit benennen sie ein Dilemma der Linkspartei. Statt über die Chancen und Risiken von Regierungsbeteiligungen zu diskutieren, drehen sich die Debatten »um Opportunismus und Verrat oder Sektierertum und Linksradikalismus«, stellen die Autoren fest. Während den einen das Mitregieren als Selbstzweck erscheint, negieren die anderen, dass es einen Unterschied macht, ob die Linkspartei wie in Thüringen – mit 28,2 Prozent als stärkste von drei Parteien – mit dem Anspruch auf den Ministerpräsidentenposten über eine Koalition verhandelt oder wie in Brandenburg als Juniorpartner der SPD.

Jenseits der Koalitionsfrage hat die Linkspartei allerdings mit generellen Problemen zu kämpfen. So kommt Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in seiner Auswertung der Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zu einem alarmierenden Befund. »Es waren in allen drei Ländern die über 60jährigen, die das Gesamtergebnis nach oben gezogen haben«, schreibt Kahrs und konstatiert eine »Tendenz zur ›Vergreisung der Wählerschaft‹«. Bei den Jüngeren sei der Rückhalt unterdurchschnittlich, »wobei hierunter bereits alle unter 45jährigen zählen«. Falls es der Partei nicht gelingt gegenzusteuern, könnten Wahlergebnisse unter 20-Prozent im Osten künftig Normalität werden. Eine Antwort auf die Frage, wie der Weg zur Seniorenpartei aufgehalten werden kann, hat aber auch Kahrs nicht. Was auf jeden Fall nicht schaden könnte: etwas weniger DDR-Nostalgie.