Die Angst vor Deflation

Geschürte Angst

Ökonomen warnen vor einer Deflation. Doch die seit 2002 hierzulande übliche Methode der Inflationsmessung bewirkt, dass die Inflationsrate zu niedrig ausgewiesen wird.

Die Horrormeldung dieser Tage: Nur 0,8 Prozent Inflation in Deutschland! Ökonomen sorgen sich. Steigen die Preise wenig, könnten sie bald fallen. Eine Abwärtsspirale aus sinkenden Preisen und unterlassenen Käufen würde die Wirtschaft in den Ruin treiben. Das ist Deflation: Konsumenten, die in Erwartung fallender Preise nicht kaufen, Unternehmer, die mangels Kunden nicht produzieren, nicht investieren und Arbeitskräfte entlassen. Deflation walze die Wirtschaft platt wie der Bulldozer die überschüssige Orangenernte. Die Arbeitsgruppe »Alternative Wirtschaftspolitik« lobt die niedrigen Zinsen der Zentralbank. Mit dem Vorwurf, diese »enteigne die Sparer und belaste die private Kapitalvorsorge für das Alter«, würden »die positiven Folgen dieser vorausschauenden Geldpolitik ausgeblendet«, schreiben die Autoren in ihrem diesjährigen Memorandum. »Diese Geldpolitik lässt sich mit dem Hinweis auf eine erfolgreiche Verhinderung der Deflation bis hin zu einer tiefen Wirtschaftskrise rechtfertigen«, so die Autoren.

Doch deren Lob beruht auf einer erstaunlichen Überschätzung der Zentralbankpolitik, überbewertet mögliche negative Wirkungen sinkender Preise für die Anbieter und zeigt, wie leicht man in die Falle der herrschenden Lehre tappen kann. Menschen, die nichts essen, weil Wurst und Brot bald billiger sein könnten? Beschäftigte, die zu Hause bleiben, weil der Benzinpreis fallen soll? Reparaturen am Dach, die unterbleiben, weil die Schindelpreise sinken könnten? Spekulative Erwägungen spielen bei Kaufentscheidungen eine gewisse Rolle, doch die Menschen können ihren notwendigen Konsum nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Sollen sie sich vor Preissenkungen fürchten? Sollen sie lieber eine deftige Inflation herbeiwünschen, von der die reichen Schuldner und Sachvermögensbesitzer auf Kosten der wenig Besitzenden profitieren?
Das Argument, eine Deflation berge derartige Gefahren, ist genauso schwach wie der Versuch, es mit der Weltwirtschaftskrise zu belegen. In Überproduktionskrisen sinken Preise und Löhne, die Arbeitslosigkeit steigt. Fabriken schließen, die Produktion bricht ein. »Seit 1825, wo die erste allgemeine Krise ausbrach«, schreibt Friedrich Engels, »geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisierter Völker (…), so ziemlich alle zehn Jahre aus den Fugen. Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar (…). Bankrott folgt auf Bankrott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte wie Produkte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Warenmassen unter größerer und geringerer Entwertung« – also sinkenden Preisen – »endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen.« Niedrige Preise und geringe Preissteigerungsraten sind eine Folge der Überproduktion und zugleich eine Bedingung dafür, dass diese irgendwann überwunden wird. Arme Menschen können sich satt essen und vielleicht ein Auto kaufen. Familien gehen wieder ab und zu ins Kino oder Theater, reisen in den Urlaub oder lassen das Eigenheim instandsetzen. Niedrige Preise, wie sie sich gegen Ende der Krise einstellen, könnten – wenn die Verhältnisse insgesamt reif dafür sind – die Wirtschaft beleben und Investitionen anregen, die aus der Krise herausführen.

Die Ökonomen des Memorandums begründen ihre Warnung vor Preissenkungen damit, dass dadurch die Stückgewinne sinken und dies zu niedrigen Löhnen und mehr Arbeitslosen führe. Sie übernehmen damit aus den Lehrbüchern die Auffassung, dass alles am Profit zu messen sei, blenden andere denkbare Abläufe – höhere Gewinnmasse bei sinkenden Stückgewinnen durch Mehrabsatz – aus und ignorieren die enormen Gewinnspannen vieler Produkte. Zulässig sei nur, was Rendite bringt? Sieht so eine antikapitalistische Alternative aus? Wären sie konsequent, müssten sie auch gegen höhere Löhne sein, die sie seit Jahren wegen der Verteilungsungerechtigkeit mit Recht fordern. Denn Lohnzuwachs ist für Unternehmer ein Grund, die Preise zu erhöhen, um zu verhindern, dass die Profite sinken. Und steigende Preise können sich negativ auf den Konsum der Verbraucherinnen und Verbraucher mit geringem Einkommen auswirken, mit negativen Konsequenzen für Produktion und Absatz. Man kann nicht beklagen, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, und zugleich gegen einen Korrektur der Primärverteilung zugunsten der Benachteiligten sein.
Doch geht die Inflation überhaupt zurück? Verbraucher zahlen von Jahr zu Jahr höhere Preise. Sie zweifeln, dass die offiziellen Angaben über die Inflation zutreffen. Autos, Schuhe, Blumen, Benzin, Heizöl, viele Nahrungsmittel und Karten für das Fest der Volksmusik kosten in Euro heute mehr als einst in DM. »Geldexperten« nennen das herablassend die »gefühlte« Inflation. Aber man fühlt nicht, dass im Portemonnaie 100 Euro fehlen, sondern stellt es fest. Statistiker ermitteln die Inflation als durchschnittliche Preissteigerung, in Deutschland für einen Korb aus 750 Waren. Ihr jüngster Rückgang habe zu tun mit gesunkenen Öl- und Benzinpreisen. Diese sind 2014 tatsächlich wenige Cent niedriger als 2013, aber viel höher als in den Jahren zuvor. Und da soll Deflation drohen?

In welchen Läden für den Warenkorb die Preise welcher Käsesorten erfragt und ob die Preise für Brot im Supermarkt oder beim Biobäcker erkundet werden, ist nicht bekannt. Der Durchschnittspreis steigt schwach, wenn technische Güter einbezogen werden, deren Preise geringer steigen als die der Güter, die man häufiger kauft. Noch schwächer, wenn Sonderposten und Lockvogel­angebote berücksichtigt würden, die nur kurze Zeit gelten. Die Inflationsrate kann sinken, obgleich in ihre Bestimmung Waren eingehen, die teurer geworden sind. Das hat jeder Durchschnitt so an sich: Die Kuh ist ersoffen, obwohl das Wasser durchschnittlich 60 Zentimeter, an der betreffenden Stelle aber drei Meter tief war. Je nach individuellem Warenkorb trifft die Verbraucher die Inflation unterschiedlich stark. Das ist ein Grund für die Kluft zwischen Erfahrung und offizieller Zahl. Unternehmer verschweigen den Statistikern hohe Preissteigerungen. Wer will schon als Preistreiber gelten? Statistiker üben sich in »stabilisierender Kreativität«, halten den Anteil der Waren und Dienstleistungen mit großen Preissprüngen klein, den mit stabil niedrigen Preisen hoch. Folker Hellmeyer von der Bremer Landesbank schreibt, wenn sich Rindfleisch um 30 Prozent verteuere, Pute aber nur um zwei Prozent, werde Rindfleisch durch Pute ersetzt.
Der Clou ist die sogenannte hedonische Preisbereinigung: Ein angenommener Zuwachs an Qualität fließt in die Berechnung des Preises ein. Ein Computer, der heute wie einst 1 000 Euro kostet, aber doppelt so leistungsfähig wie das Vorgängermodell sein soll, wird nur mit 500 Euro berücksichtigt. Schließlich bekomme die Käuferin für denselben Preis etwas doppelt so Gutes. Seit der Einführung des Euro 2002 ist diese Methode der Inflationsmessung auch in Deutschland üblich. Sie bewirkt, dass die Inflation zu niedrig ausgewiesen wird. Der Zweck der geschönten Zahlen: Je niedriger angeblich die Inflation, um so leichter ist es, angemessene Lohnforderungen als überzogen zu bezeichnen. Auch heute gilt, worüber die Süddeutsche Zeitung bereits vor Jahren berichtete: Die USA wiesen 2008 die Inflation offiziell mit vier Prozent aus. Der US-Ökonom John Williams rechnete nach und kam auf zwölf Prozent.
Monopole und Oligopole, die weltweit die Märkte beherrschen, werden auch weiterhin Preise absprechen und erhöhen, allen Verboten und Strafen für derartige Komplizenschaften zum Trotz. Sie vernichten eher Überschüsse, als dass sie die Preise nachhaltig senken. Politik und Medien verharmlosen oder übertreiben Gefahren, verhindern Aufklärung und beschönigen Wirtschaftsdaten, denn das stabilisiert das System.