Soziale Proteste in Argentinien

Jenseits der bekannten Linken

Nicht nur wegen des Konflikts um die Schuldenzahlungen Argentiniens gibt es soziale Proteste im Land.

Der Streit zwischen Hedgefonds und der argentinischen Regierung (Jungle World 31/2014) geht auch nach Zahlung der jüngsten Schuldentranche am Dienstag voriger Woche weiter. Die Kochtöpfe werden in Argentinien trotz des erneut drohenden Staatsbankrotts nicht geschlagen. Dennoch wird beinahe täglich protestiert, oft jenseits der institutionalisierten und intellektuellen Linken. Es gibt etwa den Widerstand und die Militanz in den villas, den informellen Armenvierteln, und die Bewegungen der Indigenen und der Landarbei­terinnen und -arbeiter, die zwar kämpferische Organisationen unterhalten, deren Kämpfe aber so gut wie nie erwähnt werden. Zur Linken in Argentinien gehören auch die Front der Linken und Arbeiter (Frente de Izquierda y de los Trabajadores, FIT), die fábricas recuperadas (instandbesetzte Betriebe) und die »internen Kommissionen« in den Betrieben. Der FIT entstand 2011 aus dem Zusammenschluss dreier trotzkistischer Parteien, um die für die zweite Runde der Parlamentswahlen im vergangenen Jahr neu eingeführte 1,5-Prozent-Hürde zu überwinden. So errangen sie trotz des veränderten Wahlsystems, das ohnehin anfällig für Manipulation und für Stimmenkauf berüchtigt war, drei Sitze.

3 000 Beschäftigte des Autozulieferers Lear, des Druckhauses RR Donnelley und des Zugbauers Emfer-Tatsa, die gegen Firmenschließungen und Entlassungen kämpfen, hielten am 16. August ein großes gemeinsamen Treffen ab, bei dem sie, unterstützt von Verbündeten vom FIT und aus anderen Betrieben, unter anderem die Enteignung und Verstaatlichung von RR Donnelley, die Wiedereinstellung der Entlassenen bei Lear sowie die Anerkennung der dem FIT nahestehenden »internen Kommissionen« in den Betrieben forderten.
Am 12. August hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter das Unternehmen RR Donnelley besetzt. Der US-amerikanische Mutterkonzern hatte Bankrott erklärt und wollte beim argentinischen Tochterunternehmen 400 Beschäftigte entlassen. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner kündigte an, gegen das Unternehmen das Antiterrorgesetz anzuwenden, durch das seit 2011 Unternehmen und Geschäftsleute verfolgt werden können, denen die Destabilisierung der Wirtschaft und des Finanzsystems durch Spekulation vorgeworfen wird. Doch das war nur ein weiteres Beispiel für die Doppelstrategie aus öffentlichkeitswirksamer Unterstützung und Repression der Regierung gegen diejenigen, die gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze kämpfen.
Das Treffen vom 16. August stand im Kontext der Bewegung der fábricas recuperadas, auf deren reiche Erfahrung nun zurückgegriffen werden kann. Die Bewegung war nach dem Zusammenbruch des neoliberalen Modells entstanden. Seit dem Jahr 2000 kämpft diese Bewegung für den Erhalt und die egalitär-genossenschaftliche Selbstverwaltung ihrer Betriebe, Schulen und anderer Einrichtungen. Manche dieser Betriebe wurden vom Staat unter Druck gesetzt oder insgeheim übernommen und werden nun im Billiglohnsektor benutzt, um selbstorganisiert wettbewerbsfähige Produkte auf den Markt zu bringen. Die Beschäftigten verdienen weniger, sie ­arbeiten länger und in anderen Organisationsformen, so dass ihre Erzeugnisse schließlich billiger verkauft werden können als die anderer Firmen.

Ein Großteil der instandbesetzten Betriebe hat keinen sicheren Rechtsstatus, so dass von Zeit zu Zeit mit Räumung gedroht wird. So ergeht es besonders Betrieben in der konservativ regierten Hauptstadt Buenos Aires, darunter mit IMPA und 18 de Diciembre, ehemals Brukman, zwei der wichtigsten und bekanntesten. Kein nationales Gesetz regelt ihre Situation, alles hängt von wechselnden Auslegungen des Insolvenzrechts und von den lokal oder regional erlassenen Enteignungsgesetzen ab, die in jedem Einzelfall anders aussehen und von vielen Variablen abhängen – wer in der Stadt regiert, welche Verbindungen es zu den lSicherheitskräften gibt, wie der Fall in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Regionale Regierungen und die Bundesregierung versuchen, den recuperadas ihre egalitäre Struktur (gleicher Lohn für alle, Verwaltung durch die Vollversammlung) zu nehmen und verbindliche Hierarchien durchzusetzen. Zudem werden diesen Betrieben fast alle Subventionen verweigert, auch die branchenüblichen, so dass sie auch wirtschaftlich erpressbar bleiben. Dennoch bleibt von den derzeit knapp über 300 recuperadas der Großteil widerständig, die Beschäftigten verbinden sich mit Kämpfen anderer Bewegungen.

Gehören die villas zur Linken? Die informellen Siedlungen, die meist durch Besetzungen entstehen, sind die gesellschaftliche Antwort auf ein ungerechtes System und gesellschaftliche Ungleichheit. Die villas sind kein neues Phänomen, sie wachsen seit 60 Jahren, alte versuchen, sich mit Infrastruktur zu urbanisieren, neue kämpfen um ihr Existenzrecht. Am 24. August wurde eine neue Siedlung, benannt nach Papst Franziskus, durch einen brutalen Einsatz der Polizei geräumt. Dergleichen geschieht oft, und in Verbindung mit einem restriktiven Mietsystem und dem ökonomischen Ausschluss setzen diese Räumungen die Menschen wieder auf die Straße.
Auch die verbliebene indigene Bevölkerung kämpft für ihre Rechte, so die Gruppe der Qom in Formosa, einer armen und konservativen Provinz. Sie wehren sich gegen die Ausweitung des Sojaanbaus und die Einschränkung ihrer Landrechte. 2010 besetzten sie ihr ehemaliges Territorium, bei der brutalen Räumung starben ein Qom und ein Polizist, weitere Qom kamen in dem jahrelangen Konflikt ums Leben. Felix Díaz, ihr gewählter Anführer, wurde wegen Waffendiebstahls angeklagt. Sowohl die Qom als auch das CELS, eine juristische Vereinigung zur Unterstützung sozialer Bewegungen, wiesen die Vorwürfe zurück, die ihnen zufolge nur den Widerstand brechen sollen. Provinzgouverneur Gildo Insfrán erhielt für seine Diffamierungskampagne gegen Díaz mediale Unterstützung von Kirchner, die eine Ausdehnung der Agroindustrie verfolgt.

Aus dem Englischen von Daniel Kulla.