Der Streit um die Kunstaktion »Wanna Play?« in Berlin

Auf Datenwolke sieben

Nur auf die Algorithmen ist noch Verlass. Dries Verhoevens Kunstaktion »Wanna Play?« und das Vertrauen in die Versprechen der Digitalwirtschaft.

Wer E-Mails schreibt, bei Partnerportalen eingeloggt ist oder seinen Facebook-Account pflegt, bewegt sich in erster Linie nicht in sozialen Netzen, sondern in einer kommodifizierten Sphäre des E-Commerce. Dass die Datensicherheit nicht mehr gewährleistet ist, wo man doch nichts anderes will, als ein wenig Kontakte zu knüpfen oder seinen Selbstdarstellungsdrang zu befriedigen, ist nur ein Teil des Problems; denn vor allem ist es ja so, dass die Daten bereits bei Vertragsabschluss als Waren einem oder mehreren Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.
Was dann und wann als Skandal diskutiert wird, ist eigentlich nichts weiter als die Konsequenz, ja logische Notwendigkeit technologischer Rationalität im Zeitalter der sogenannten Informationsgesellschaft. Nachvollziehbar ist das anhand des – vermeintlichen – Skandals um die Aktion des holländischen Performancekünstlers Dries Verhoeven. Er wollte Anfang Oktober für zwei Wochen in einen Container ziehen, um mit Hilfe der Chats auf der Sex-Dating-App Grindr zu zeigen, wie das Internet soziale Beziehungen verändert: »Hey! Whats up?« – »Hey! Not much!« war dann zu lesen, groß in den durch eine Glasfront einsehbaren Raum projiziert. Nach Protesten gegen die Veröffentlichung der Chats und Profilbilder wurde das Projekt abgebrochen.
Früher gab es, wenn ich es richtig erinnere, bereits auf der ersten Doppelseite der Bravo, auf der auch der jeweilige Heftinhalt präsentiert wird, in einer kleinen Ecke die Rubrik »Brieffreundschaften«, wo die pubertäre Leserschaft die Möglichkeit hatte, sich mit anderen Pubertierenden aus aller Welt über Hobbys (Reiten, Reisen, Briefeschreiben etc.) und Musik (The Teens, Bay City Rollers, The Runaways etc.) auszutauschen. Das war in Ordnung und hatte überdies den pädagogischen Nebennutzen, junge Menschen aus zumeist bildungsfernen Schichten mit den Grundfunktionen moderner Informationstechnik (eben Briefpost) und sowieso dem Gebrauch der Schriftsprache vertraut zu machen. Briefeschreiben und Briefelesen wie ebenso das Telefonieren – 1980 kostete ein Ortsgespräch pro 8 Minuten 23 Pfennig –, wie schließlich auch Radio und Fernsehen verliehen der medialen Apparatewelt noch etwas Gemütlichkeit. Ein Brief, nach McLuhans Definition wahrscheinlich eher ein »heißes Medium«, gab nicht nur intime Einblicke in das Privatleben, sondern galt – und gilt ja immer noch – in seiner Form als intim, »persönlich«. Die jungen Leute aus der Bravo-Brieffreundschaftsecke hatten eigenes Briefpapier, bemalten oder beklebten die Umschläge hübsch, geschrieben wurde leserlich in Schönschrift. Insgesamt konnte ja die sogenannte Kommunikationsgesellschaft, die sich im Übergang von den Siebzigern zu den Achtzigern weltweit etablierte – in der Bundesrepublik mit großen Namen wie Jürgen Habermas oder Friedemann Schulz von Thun theoretisch unterfüttert –, noch glaubwürdig einiges an Humanisierung der Verhältnisse versprechen: Sich vernünftig und verständigungsorientiert miteinander zu unterhalten, gilt bis heute als eine demokratische Basiskompetenz.
In den neunziger Jahren schlägt das um, die Kommunikationsgesellschaft wird ungemütlich, die »heißen« Medien werden wie die Gesellschaft kälter, wesentlich bedingt durch die technische Versachlichung zwischenmenschlicher Beziehungen (Stichworte: Computerisierung, Digitalisierung), und ebenso wesentlich – da es sich um leitungsvermittelte Technik handelt – abhängig von der voranschreitenden ökonomischen Privatisierung der Informations- und Kommunikationsangebote.
Die weiteren Daten sind gemeinhin gekannt: 1984 kommt der Apple Macintosh auf den Markt, im selben Jahr wird in Deutschland die erste E-Mail empfangen, das Anfang der neunziger Jahre eingeführte Mobilfunknetz wird immer weiter ausgebaut, die Computer werden kleiner, die Telefone auch, bis beide Geräte als PCs, also als persönliche Rechenmaschinen, in Tablets und Smartphones verwandelt werden. Dann kommen Kommunikationstechniken, die von vornherein schon gar keinen spezifischen Funktions-, geschweige denn Substanzbegriff haben (im Gegensatz zu Brief, Kino, Radio, Telefon, Fernseher etc.), sondern nur noch Markennamen sind, nämlich mit ihrem Unternehmen in ihrem Sinn und Zweck synonym: Facebook, Twitter, Instagram, schließlich Grindr und die Hetero-Version Blendr.
»Home« – wie früher bei Home Computer – ist jetzt nicht mehr die Sphäre der Wohnung, die eine Tür hat, die man hinter sich zuziehen kann, um seine Ruhe zu haben, sondern eine Wolke von privaten Daten, irgendwo im virtuellen Raum des allgegenwärtigen Netzes. Was sich hier technisch vollzogen hat, ist eine Entwicklung vom Primat des Apparats zum Primat der App. Bedeutung hat das für das Verhältnis von Leib und Seele, Körper und »Geist« – materielle Zwangsverhältnisse werden durch ideelle Zwangsverhältnisse überlagert: Existentielle Inklusion und Exklusion werden zumeist nur noch – und dafür aber umso grausamer – in den sozialen Randzonen physischer Gewaltverhältnisse erfahren, zumeist gekoppelt an die klassischen Disziplinaranstalten wie Gefängnis, Hospital, Schule, Heim, Auffanglager etc. Ob die Anpassung an lebensweltlich erforderliche Strukturen gelingt, ist indes eher davon abhängig, ob die richtige App installiert ist, ob man sich ins richtige soziale Netzwerk eingeschaltet hat, ob man also in korrekter Weise alle wichtigen Informationen zur Selbstoptimierung der technisch adäquaten Plattform übermittelt hat. Den Rest besorgt ein Algorithmus, auf dessen Zuverlässigkeit die Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft offenbar gerade in den menschlich unzuverlässigsten Bereichen vertrauen, nämlich bei Liebe, Sex, Freundschaft und sonstiger Zuneigung.
Um sich allerdings entsprechend für solche Anpassungsleistung und Leistungsanpassung parat zu machen, muss von vornherein noch der letzte Rest bürgerlicher Subjektivität abgelegt werden, um sich im sozialen Netz als Avatar authentisch zu präsentieren. Dem geht voraus, dass das Individuum das, was es zumindest ideologisch befähigt, gesellschaftlich »autonom«, eben als Individuum aufzutreten, bereits vollständig einem Prozess der Sozialisation überlässt, der nicht mehr der psychischen Konfiguration von Ich, Es und Über-Ich folgt, sondern mit den behavioristischen Mustern einer – heute selbstverständlich liberal und postmodern ausdifferenzierten – Typologie von Rollen konform geht.
Die Menschen, die zur Befriedigung ihrer Triebwünsche sich die entsprechende Dating-App installiert haben, agieren nicht mehr als Subjekte, sondern als digitale Schauspieler einer Rolle, bei der letztlich unerheblich ist, ob sie mit der Realität des eigenen Lebensalltags und seinen Widrigkeiten übereinstimmt oder nicht.
Im Zuge der Skandalisierung der NSA-Praxis wurden auch – mit weitaus leiseren Tönen – zum Beispiel die Sicherheitslücken bei Facebook problematisiert; das Software-Unternehmen Adobe hat gerade mit Datenschutzangelegenheiten zu kämpfen, weil es unverschlüsselt Nutzerinformationen ihrer E-Book-Reader-Kundschaft gesammelt und ausgewertet hat. Eine Fernsehwerbung für verschiedene E-Mail-Account-Anbieter zeigt eine Frau, die Leuten beim Tippen von Chat-Einträgen über die Schulter guckt: »Das will man doch nicht«, lautet die Botschaft. Tatsächlich kann man sich ohne Weiteres einen unterhaltsamen Zeitvertreib daraus machen, im öffentlichen Nahverkehr die Chat-Kolonnen der Smartphone-Facebook-Kommunizierenden mitzulesen (allein schon, weil die alte soziolinguistische Unterscheidung zwischen einem elaborierten und einem restringierten Sprachcode noch einmal eine völlig neue Dimension in Richtung Vollverblödung bekommt). Dass man die ganzen Idiotismen von »ey aller«, »digger«, »lol« und »ich geh nachher noch h&m – küsschen mein schatz« mitbekommt, scheint also an sich nichts Schlimmes zu sein, um das sich der gemeine Sozialenetzbewohner Sorgen machen müsste.
Was also ist bei Dries Verhoevens Aktion der Skandal? Abgesehen davon, dass er eine nichtkünstlerische Praxis in den hehren Bereich der Kunst hineinzieht, wo es ja nachgerade nur noch darum geht, hier und da sich über das vermeintlich Skandalöse zu echauffieren – vermutlich nichts weiter, als dass er eine neue Sozialtechnologie rückübersetzt in eine Situation, die ausstaffiert ist nach dem alten Vergesellschaftungsmodell der Intimität des Privaten: dass er nämlich die über die Dating-App verschickten Nachrichten großflächig projiziert in einem Raum, der in seiner Gestaltung eben nicht als Ausstellungsraum fungiert, sondern als Wohnzimmer, einschließlich der Vorhänge, die zugezogen werden sollten, wenn es zur Sache geht.
Die verwaltete Welt wird zur verschalteten Welt. Die Trennung zwischen Hard- und Software, die uns heute technologisch selbstverständlich scheint, bestimmt nicht nur den Charakter der Maschinen und ihrer Programme, sondern auch die Programmierung von Nutzern und ihrer Profile. Früher hat eine – nicht zuletzt wegen der Größe der Apparate – immobile Technik den Menschen in den demokratisch verfassten Gesellschaften Mobilität versprochen, nämlich gerade bewegliche Unabhängigkeit von den Apparaten, über die zwischenmenschliche Verständigung funktioniert; die Mobiltechnik hingegen hat den Menschen als permanenten User immobil gemacht.
Dries Verhoeven hat mit seiner Aktion zeigen wollen, was eigentlich bei jedem Besuch auf Amazon auch passiert: dass sichtbar wird, wie aus einem sogenannten Information-Pull-System, bei dem nach Informationen gesucht werden muss, ein Information-Push-System geworden ist, in dem unablässig Informationen geliefert werden, die eigentlich niemand braucht – es sei denn als Elemente sehr privater Angelegenheiten, für die es aber im Prinzip überhaupt keine App und auch keinen Apparat geben kann.