Das Buch »Arztroman« von Kristof Magnusson

Am Ende fehlt ein Finger

In seinem neuen Buch »Arztroman« schildert Kristof Magnusson den Alltag einer Notfallmedizinerin in Berlin.

Ein neuer Roman von Kristof Magnusson ist immer ein Ereignis, zumal der Autor sein Publikum gern ein bisschen warten lässt. 2005 erschien »Zuhause«, 2010 »Das war ich nicht« und nun also »Arzt­ro­man«. Es gibt auch Theaterstücke und Übersetzungen aus dem Isländischen zu vermelden, aber hier soll von den Romanen des Autors die Rede sein. Von Anfang an wurde er als »der deutsche Isländer« oder wahlweise »der isländische Deutsche« bezeichnet, schöne Beinamen, und die in Berichten über ihn oft zitierten Eckdaten, also: halber Isländer (mit einem isländischen Elternteil), in Island gewohnt, dann lange in der Lüneburger Heide ansässig, bürgen für Weltoffenheit und Bodenständigkeit zugleich, Blick in die Welt und auf die heimatliche Scholle. Und bestimmt ist das auch alles wahr, aber geboren wurde er in Hamburg, das teilt seine Website ganz unbarmherzig mit, und jetzt lebt er in Berlin.
Sein erster Roman, »Zuhause«, beginnt und endet in Hamburg, an den Landungsbrücken. Tor zur Welt und so. Der Held, Lárus Ludvigson, fährt zu Weihnachten nach Island und muss feststellen, dass er dort amtlich als tot gemeldet ist. Und so kann er nicht einmal im Laden ein Video ausleihen – ganz zu schweigen von allen anderen Verwicklungen, die das Totsein für Lárus mit sich bringt. Viel zitiert und immer wieder mit Begeisterung gelesen ist die im Buch enthaltene Kurzfassung der isländischen Protosaga, und sie ist bestimmt auch eine Hilfe beim Verständnis neuerer isländischer Literatur, zu der wir Kristof Magnusson der Einfachheit zählen wollen: »Bauer A beschuldigt Bauer B, Bäuerin A geschwängert zu haben. Bäuerin B gibt Bauer A in der Öffentlichkeit eine Ohrfeige wegen der verletzten Ehre ihres Mannes. Da Bauer A sich nicht traut, Bäuerin B in aller Öffentlichkeit den Schädel zu spalten, sammelt er eine kleine Mannschaft und bringt den besten Knecht von Bauer B um. Daraufhin sammelt Bauer B eine kleine Mannschaft und zündet die Scheune von Bauer A an. Ganz nebenbei vergewaltigt er Bäuerin A und nimmt entweder sie, das beste Pferd oder beides mit. Bauer A geht zu seinem Blutsbruder, Bauer C, mit dem er als Ziehsohn beim Gode-Priester X im nächsten Thing-Bezirk aufgewachsen ist. Bauer C und Bauer A erwirken auf dem Thing ein Verbannungsdekret für Bauer B, sammeln aber zur Sicherheit eine etwas größere kleine Mannschaft, bevor sie aufbrechen, um es ihm zu übergeben. Auf dem Weg erscheint ihnen der Geist eines in einer Hungerperiode auf der Heide ausgesetzten Säuglings und sie beschließen, lieber doch gleich bei Nacht anzugreifen und Bauer B umzubringen. Bauer B, der in Erwartung von Bauer A und Bauer C eine kleine Mannschaft gesammelt hat, verteidigt sich wacker, schießt einige aufs Dach gekletterte Gegner mit Pfeil und Bogen ab, muss sich aus dem Haar seiner Ehefrau eine neue Bogensaite flechten, die Gegenpartei schmeißt den großen Kerl mit dem Hammer ins Gedränge, und der Showdown findet in einem unterirdischen Fluchtgang statt.« Das könnte nach Klamauk klingen, aber weder in den Sagas noch in den Büchern Kristof Magnussons findet sich Klamauk.
Lárus kommt gewissermaßen glimpflich davon; er büßt einen Finger ein, ehe er herausfinden kann, wieso er eigentlich tot ist, sein ­literarisches Leben dagegen hat noch allerlei zu bieten.
2011 war Island Gastland der Frankfurter Buchmesse, ein Jahr zuvor hatte Kristof Magnusson seinen zweiten Roman veröffentlicht, »Das war ich nicht«, also rechtzeitig, um nicht in der messebedingten Flut isländischer Bücher unterzugehen und doch als quasi isländisches Buch besonders beachtet zu werden. In »Das war ich nicht« greift er auf seine Erfahrungen als Übersetzer zurück. Ein Bestsellerautor hat eine Schreibblockade, seine deutsche Übersetzerin, die folglich nichts zu übersetzen hat, sieht sich schon am Hungertuch nagen und beschließt, den Autor notfalls mit Gewalt zum Schreiben zu zwingen, und dann kommt noch ein junger Schnösel dazu, der als Banker mal eben etliche Millionen in den Sand gesetzt hat, sich eigentlich keiner Schuld bewusst ist und doch vor den Opfern seiner Aktivitäten fliehen muss. Dass diese drei in Norddeutschland landen und an der Nordseeküste die Lösung für ihre Probleme suchen, ist nach den Regeln des Magnusschen Universums nur folgerichtig.
Nun also der dritte Roman, »Arztroman«. Bei diesem Titel weiß die erfahrene Leserin natürlich, was sie erwartet, der charismatische, aber einsame Chirurg, der intrigante Anästhesist, die schöne und kluge Krankenschwester, die von beiden begehrt wird und die natürlich am Ende der Chirurg kriegt, was sonst? Es läuft natürlich ganz anders, wir haben es mit einer Ärztin zu tun, und sie operiert auch eher selten, eben dann, wenn ihr in einem Notfall gar nichts anderes übrig bleibt. Anita Cornelius ist Notärztin an einem großen Berliner Krankenhaus, zusammen mit dem Rettungswagenfahrer Maik rückt sie aus, wenn Unfälle gemeldet werden oder wenn im Befinden von chronisch Kranken, die zu Hause wohnen können, eine plötzliche Verschlechterung eintritt, immer eben, wenn ein Notfall versorgt werden muss. Anita ist verheiratet mit ihrem Kollegen Adrian. Die beiden haben sich beim Medizinstudium kennengelernt, haben einen gemeinsamen Sohn und leben nicht mehr zusammen. Adrian ist mit Heidi zusammengezogen und hat den Sohn Lukas mitgenommen.
Heidi ist so eine, wie wir alle sie kennen, eine raffinierte Beobachterin, die die Menschen in ihrer Umgebung gegeneinander ausspielt, auf diese Weise fast immer ihren Willen durchsetzen kann und doch immer als das wahre Unschuldslamm dasteht, das doch alles nur gut gemeint hat. Sie war Anitas beste Freundin, dann die Vertraute des Ehepaars Anita und Adrian und nun hat sie sich also Adrian unter den Nagel gerissen und ist, als der Roman beginnt, dabei, den pubertierenden Lukas dem mütterlichen Einfluss zu entziehen. Aber natürlich wird, man ist ja unter modernen Menschen, alles gütlich besprochen, alle Erwachsenen begrüßen sich mit Küsschen, und deshalb schöpft die chronisch übermüdete und überarbeitete Anita auch erst Verdacht, als es fast zu spät ist. Von Lukas, der arglos von den neuen Plänen seines Vaters – und Heidis – erzählt, erfährt sie, dass Adrian seine Stelle gekündigt hat und in einem ziemlich weit entfernten Dorf eine Praxis übernehmen will. Was unter anderem bedeuten würde, dass Anita Lukas nur noch selten sehen könnte. Doch als sie sich wehrt und auf ihre Rechte als Mutter pocht, schaltet Heidi auf stur und erweist sich als noch gerissenere Intrigantin, als wir bisher angenommen hatten.
Kristof Magnusson überrascht mit diesem Buch. Wir sind durch die beiden Vorgänger verwöhnt und rechnen damit, uns in mindestens jedem zweiten Kapitel vor Lachen ausschütten zu können. Aber das geht hier nicht, »Arzt­roman« ist ernst und manchmal sogar tragisch, aber immer getragen von umwerfender Spannung. Während der Autor in seinem ersten Band die isländischen Sagas im Hintergrund mitlaufen lässt, so weist er diesmal in eine völlig andere Richtung. Rache und Gegenwehr mit gleicher Waffe helfen Anita nicht weiter, erst als sie auf christliche Maximen zurückgreift und ganz einfach die andere Wange hinhält, wendet sich das Blatt. Wie das aber vor sich geht, bis es zum weihnachtlichen Showdown mit Würstchenverzehr kommt, soll nicht verraten werden, wie gesagt, das Buch ist ungeheuer spannend und wird hier unbedingt empfohlen. Der harte Kern der Magnusson-Fans wird sich freuen, weil in einer Nebenrolle Lárus Ludvigson aus »Zuhause« auftritt und zeigt, dass er auch ohne den im ersten Roman eingebüßten Ringfinger über die Runden kommt.

Kristof Magnusson: Arztroman. Verlag Antje Kunstmann, Berlin 2014, 312 Seiten, 19,95 Euro