Der mutmaßliche Massenmord an 43 Studenten in Mexiko

Das nächste Massaker

Im mexikanischen Bundesstaat Guerrero sind 43 Studenten verschwunden. Sie wurden mutmaßlich auf Geheiß der Lokalregierung von Polizisten und Mitgliedern eines Drogenkartells ermordet.

Sie hatten Spenden gesammelt, um zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt zu fahren. Dort wollten sie am 2. Oktober an einem Marsch zum Gedenken an das Massaker von Tlatelolco von 1968 teilnehmen, bei dem mindestens 300 friedlich demonstrierende Studenten vom Militär ermordet worden waren. Doch dann kam alles anders: Die jungen Männer, die vor knapp drei Wochen in der Stadt Iguala im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero ein paar Pesos Unterstützung gesucht hatten, wurden offenbar selbst Opfer eines Massenmords. Polizeibeamte hatten am 26. September drei Busse gestoppt, die von den Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa »beschlagnahmt« worden waren, um nach Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften nach Hause zu kommen. Die Polizisten eröffneten das Feuer. Kurz darauf beschossen Killer der kriminellen Organisation Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) einen weiteren Bus und ein Treffen der Studenten. Sechs Personen starben, 43 verschwanden. Seit jenem Wochenende fordern Angehörige und Oppositionelle Aufklärung. In Mexiko-Stadt gingen vergangene Woche 15 000 Menschen auf die Straße, im Bundesstaat Chiapas zogen 20 000  Mitglieder der autonomen Gemeinden der indigenen Zapatisten in einem Schweigemarsch durch die Provinzhauptstadt San Cristóbal, in Guerrero zündeten am Montag dieser Woche Protestierende ein Regierungsgebäude in der Regionalhauptstadt Chilpancingo an. Sie alle hatten eine Forderung: »Lebend habt ihr sie genommen, lebend wollen wir sie zurück.« Doch mit jedem Tag, der vergeht, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur einer der Verschwundenen überlebt hat. Von den Vermissten fehlte jede Spur, bis zwei Tatverdächtige, ein Polizist und ein Killer der Guerreros Unidos, die Ermittler Anfang Oktober zu Gräbern führten, in denen 28 Leichen gefunden wurden – verkohlt und zerstückelt. Später wurden weitere vier Gräber entdeckt. 34 Verdächtige haben die Strafverfolger festgenommen, darunter 22 lokale Polizisten sowie einige Mitglieder des Kartells. Diejenigen, die offenbar hinter der Tat stecken, sind jedoch weiterhin auf freiem Fuß. So zum Beispiel Igualas Polizeichef Francisco Salgado Valladares, der Bürgermeister José Luis Abarca Velásquez sowie dessen Frau María de los Angeles und »El Chucky«, der örtliche Chef der Guerreros Unidos. Schon lange ist klar, dass de los Angeles enge Kontakte zur Mafia hat. Das bestätigte auch ein Dossier des mexikanischen Geheimdienstes Cisen, über das die Tageszeitung Universal informierte. Ihren Mann habe man zunächst nicht festnehmen können, erklärte der Generalstaatsanwalt von Guerrero, Iñaki Blanco Cabrera: »Als Bürgermeister genießt er im Bundesstaat Immunität.« Nun ist Abarca Velásquez über alle Berge, ebenso wie Polizeichef Salgado, der die Festnahme angeordnet und die Studenten den Männern von »El Chucky« überlassen haben soll. Die Guerreros Unidos wandten sich indes auf Transparenten in Iguala an die »korrupte Regierung«: »Lasst die Lokalpolizisten frei, sonst ermorden wir Unschuldige und Leute der Regierung.« Es ist ein offenes Geheimnis, dass lokale Polizisten und Mafia in Guerrero gemeinsame Sache machen. Selbst ein führender Sicherheitspolitiker der Landesregierung, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will, bestätigte der Jungle World, dass die meisten Rathäuser von kriminellen Organisationen kontrolliert würden. Daran änderte auch der vom ehemaligen Präsidenten Felipe Calderón 2006 erklärte »Krieg gegen die Drogenmafia« nichts. Das Geflecht von Kriminellen, Polizisten und Politikern blieb von der Präsenz der Soldaten unberührt. Nicht anders sieht es aus, seit Enrique Peña Nieto vor knapp zwei Jahren das Präsidentenamt übernommen hat. Nach Angaben der Regierung soll die Zahl der Morde zwar um 15 Prozent zurückgegangen sein, dennoch ist die Bilanz erschreckend. Die Zahl der Verschwundenen nimmt weiter zu. Allein 2013 waren es 3 000. Zudem wurden in Peña Nietos Amtszeit bislang 246 geheime Gräber gefunden. Erst im Juni haben Soldaten 22 Menschen im Bundesstaat Mexiko getötet. In Guerrero starben vergangenes Jahr über 2 100 Menschen eines gewaltsamen Todes. Geändert hat sich das Vorgehen der Kriminellen. Früher kämpften die Banden vor allem untereinander um Transportrouten und Anbauflächen für Drogen. Inzwischen greifen sie immer öfter die Bevölkerung an. Sie fordern Schutzgeld, erpressen Händler und vergewaltigen Frauen. Gruppen wie die Guerreros Unidos oder ihre Rivalen »Los Rojos« (die Roten) sind mehr denn je in lokale Geschäfte wie illegalen Holzschlag und Eisenerzabbau eingebunden. Gezielt greifen sie im Einvernehmen mit korrupten Politikern und heimischen Unternehmern Kritiker an. Das weist auf eine Paramilitarisierung hin, wie man sie aus Kolumbien kennt. Hier dürfte der Hintergrund für das Massaker zu suchen sein. Die angehenden Lehrer planten eine Demonstration gegen einen Auftritt der Frau des Bürgermeisters. Die als Leiterin der Sozialbehörde tätige María de los Angeles habe dies mit allen Mitteln verhindern wollen und dem Polizeichef entsprechende Anweisungen gegeben, informiert das Geheimdienst-Dossier. Schon lange sind die Studenten der Fachschule Ayotzinapa den Mächtigen in der Region lästig. Auf dem Gelände des Internats zieren Konterfeis von Marx, Lenin und Subcomandante Marcos die Häuserwände. Auf jeder Demonstration sind die Studenten dabei. Sie stammen aus einfachen Verhältnissen, das Kolleg gibt ihnen die Möglichkeit, in ihren Dörfern als Grundschullehrer zu arbeiten. Sie sehen sich in der Tradition der bewaffneten Aufständischen Guerreros. Auch deshalb zeigte die Bundesregierung kein Interesse, die Schule zu erhalten. Dass Präsident Peña Nieto vergangene Woche Sicherheitskräfte nach Iguala geschickt hat und lokale Polizisten entwaffnen ließ, ist lediglich der internationalen Empörung über den Fall geschuldet. Schließlich hatte sogar die Uno-Vertretung in Mexiko von den »schlimmsten Ereignissen der letzten Zeit« gesprochen und mehr Einsatz bei der Suche nach den Verschwundenen gefordert. Amnesty International spricht von »chaotischen und feindseligen juristischen Ermittlungen«. Der Präsident steht also unter Druck. So dürfte es auch kein Zufall sein, dass ausgerechnet in den vergangenen Tagen zwei wichtige Mafiabosse verhaftet wurden: Vicente Carillo Fuentes vom Juárez-Kartell und Héctor Beltrán Leyva von dem nach ihm benannten Kartell. Die Regierung muss beweisen, dass sie handlungsfähig ist. Nebenbei offenbart sie, wie eng sie offenbar mit der Mafia verbunden ist. In Iguala hat Peña Nieto zunächst alle Verantwortung auf den Gouverneur des Bundesstaats geschoben. Kein hoher Regierungsvertreter war gekommen, um mit den Angehörigen der Opfer zu sprechen. Nur deren ständige Proteste sorgten dafür, dass der Vorfall nicht wie so viele Verbrechen in Guerrero in Vergessenheit geriet. Peña Nieto habe schon wieder den »Weg der Straflosigkeit und des Verschleierns« eingeschlagen, kritisierte das Menschenrechtszentrum Tlachinollan. Sobald die internationale Aufmerksamkeit wieder abgeklungen ist, wird sich in der Regierung niemand mehr für die Toten und ihre Mörder interessieren. Genauso wenig wie für jene Polizisten, die im Dezember 2011 zwei Ayotzinapa-Studenten erschossen. Bis heute sind die Verantwortlichen nicht strafrechtlich verfolgt worden. Beim damaligen Einsatz trugen die Beamten auch Sturmgewehre vom Typ G36 des schwäbischen Rüstungsunternehmens Heckler & Koch, die illegal an die Polizeibehörden des Bundesstaats geliefert worden waren. Welche Waffen die Mafiakiller und befreundete Polizisten dieses Mal benutzt haben, als sie die Studenten vor den bereits ausgehobenen Massengräbern töteten, ist noch nicht bekannt.