Die brüchige Koalition gegen den »Islamischen Staat«

Der IS als Katalysator

Ein gemeinsamer Kampf westlicher Staaten mit Akteuren des Nahen Ostens gegen den »Islamischen Staat« (IS) gestaltet sich schwierig, weil sich deren Interessen oft mit denen der Islamisten überschneiden. Zudem ist der Iran, aber auch Saudi-Arabien keinesfalls der richtige Partner für eine Koalition gegen Jihadisten.

Das Desaster könnte nicht offensichtlicher sein: Dem Eingeständnis des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama, man habe den »Islamischen Staat« (IS) »unterschätzt«, folgte das Urteil der US-Armee, sie werde den IS nicht alleine mit der Luftwaffe ohne Bodentruppen bezwingen können. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Admiral John Kirby, erklärte bezüglich der umkämpften syrisch-kurdische Stadt Kobanê, die US-Regierung habe derzeit keinen »willigen, fähigen und effektiven Partner für den Bodeneinsatz innerhalb von Syrien«. Das ist auch kaum verwunderlich: Bereits vor zwei Jahren wies die Regierung Forderungen nach einem Engagement in Syrien mit dem Hinweis zurück, man wisse gar nicht genau, wer da kämpfe.

Der Luftwaffeneinsatz der aus über 20 Ländern bestehenden Anti-IS-Koalition, die Obama zusammengebracht hat, ist eine Schauveranstaltung, die demonstrieren soll, es werde etwas gegen den IS unternommen – denn ein strategisches Ziel hat die ganz schnell zusammengeschusterte Militäraktion nicht. Und wenn schon die militärisch Zuständigen offen sagen, dass dem IS so nicht beizukommen sei, woher sollte nun so schnell eine verlässliche und schlagkräftige, regional verankerte Bodenkampftruppe gegen den IS kommen? Dass sogar schon die CDU anfängt, mit der PKK zu liebäugeln, ist keine Lösung dieses Problems, sondern Ausdruck eines Dilemmas und im Grunde eines grotesken Versagens von internationaler Politik.
Obama hat drei Jahre lang immer wieder versprochen, in die Ausbildung und Ausrüstung der syrischen Aufständischen zu investieren – passiert ist nichts. Der Kampf gegen Bashar al-Assad wurde den regionalen Akteuren überlassen, der Türkei und den Golfstaaten, die nach eigener Interessenlage – und gerne auch in gegenseitiger Konkurrenz – in Syrien mit Waffen, Geld und Logistik interveniert haben. Das absehbare Ergebnis war die mittlerweile wohl vollständige Zersetzung der ursprünglich aus professionellen Überläufern bestehenden Free Syrian Army und der nicht primär religiös motivierten Rebellengruppen. Geld und Waffen haben nämlich nur die Jihadisten oder zumindest Islamisten aller Couleur bekommen. Die Syrien-Politik des »Westens« unter der Schirmherrschaft Obamas beschränkte sich dagegen auf Symbolpolitik und die Hoffnung, das Problem mit Syrien und der Region werde sich irgendwie von selbst lösen. Nun droht die um sich greifende Instabilität die ganze Region zu erfassen. Diese Aussicht zwingt selbst den US-Präsidenten zu handeln – oder zumindest so zu tun.

Die bemerkenswerteste Volte ist derzeit die strategische und taktische Unterstützung der iranischen Machtinteressen in der Region durch die USA. Obama hat sich hier in eine Position manövriert, in der er nur verlieren kann. Die US-Airforce und ihre Verbündeten dienen nun im Grunde als Luftwaffe des iranischen Regimes und seiner schiitischen Schützlinge. Der überhastete Abzug der US-Armee aus dem Irak 2011 hat die Bagdader Zentralregierung der iranischen Einflussnahme überlassen. Und nun müssen die USA ohne entscheidende Mitsprachemöglichkeit in der irakischen oder iranischen Regierung mit ihren Hubschraubern und Kampfjets die iranischen Interessen gegen Jihadisten schützen. Dabei ist die »Islamische Republik Iran« seit rund 35 Jahren für die Verbreitung von islamischem Extremismus selbst federführend verantwortlich.
Das kann einem schon zu Kopfe steigen: Der bisher im Verborgenen agierende Qassem Suleimani, Chef der iranischen al-Quds-Brigaden, einer Elitetruppe, die für militärische Interventionen im Ausland und Terroranschläge zuständig ist, hat jüngst im Irak mit einer schon leicht bizarr wirkenden Serie von Schnappschüssen und Videos diesen Erfolg des iranischen Regimes gefeiert. Da plaudert derselbe Mann, der als graue Eminenz vielleicht mehr Wissen als irgendjemand sonst um die Terrorszene des Nahen Ostens besitzt, mit Peshmergas, tanzt vor einem Panzer herum oder posiert im Special-Forces-Look. Natürlich immer mit Palästinensertuch, schließlich hat sich seine Truppe, wie ihr Name schon sagt, als Ziel der Eroberung Jerusalems verschrieben. Die Fotoknipserei des iranischen Oberkommandierendem im Irak wurde de facto beschützt von US-Kampfjets, was noch etwas pikanter wirkt, wenn man bedenkt, dass Suleimanis Waffenhilfe für die irakischen Aufständischen konkret mit dem Tod von rund 200 US-Soldaten in Verbindung gebracht wird.
Aber auch der abgebrühte Taktierer Assad mag sich gewundert haben, dass die USA nun zu seinen Gunsten Bomben abwerfen – in den ersten Angriffswellen wurden mehr Ziele der islamistischen Gruppe Jabhat al-Nusra getroffen als des IS. Doch im Gegensatz zum »Islamischen Staat« kämpft die mit al-Qaida verbundene Gruppe sehr energisch gegen die Truppen Assads und kooperiert mit anderen Rebellen. Vor einem Jahr, als das Assad-Regime mit großen Giftgasattacken die ominöse »rote Linie« Obamas überschritt, hatte dieser sich weiterhin passiv verhalten. Nun mussten die Syrerinnen und Syrer die Erfahrung machen, dass derselbe US-Präsident plötzlich Bomben in Syrien abwerfen lässt, zur Freude der bedrängten Truppen Assads, deren Flugzeuge bereitwillig und weiträumig das Einsatzgebiet für die »Luftschläge« gegen den »Islamischen Staat« und Jabhat al-Nusra meiden – und von einer desinteressierten Weltöffentlichkeit unbemerkt ihre Luftangriffe auf zivile Ziele verstärken.
Verwackelte Handyvideos von in den Trümmern ihrer Häuser verschütteten syrischen Familien hat die Welt bis zum Überdruss gesehen. Die auf die Rezeptionsgewohnheiten eines westlichen Publikums zielenden Propagandavideos des »Islamischen Staats« sind dagegen eine mediale Attraktion, über die sich das dankbare politische Feuilleton die Finger wundschreiben kann. Bei der Zahl der systematisch Gefolterten, Vergewaltigten und Getöteten liegt jedoch das Assad-Regime noch weit vor dem »Islamischen Staat«.

Das ziellose Eingreifen der USA und ihrer Verbündeten nützt vor allem dem »Islamischen Staat« selbst. Seine Klientel sind die Sunniten, und je deutlicher sich abzeichnet, dass die Anti-IS-Koalition iranischen Interessen dient, desto einfacher hat es der IS, die eigenen Reihen geschlossen zu halten. Für die Bevölkerung des sogenannten sunnitischen Dreiecks im Irak sind die vom Iran gesteuerten schiitischen Milizen noch weniger eine Alternative zum IS, als es die als Besatzungsarmee empfundene irakische Armee war. Den geordneten Ausbau des »Islamischen Staats« mag das Bombardement stören, doch eine Situation, in der die teuersten und modernsten Flugzeuge der Welt Jagd auf einzelne Jeeps oder von Jihadisten bemannte Motorräder machen müssen, kann sich für den IS nur vorteilhaft entwickeln.
Die wohl prekärste Position in der großen Koalition Obamas gegen den »Islamischen Staat« hat dabei Saudi-Arabien. Dass die US-Luftwaffe einmal in den Ruch geraten könnte, iranischen Interessen zu nützen, werden sich die Strategen in Riad kaum je vorgestellt haben. Dass sie dabei helfen, andere Sunniten zu bombardieren, die ihre ureigene Klientel darstellen, zeigt vor allem die Verfahrenheit auch der saudische Machtpolitik. Die Angst vor einem »Islamischen Staat«, der die Grenzen zu Jordanien und Saudi-Arabien überschreiten könnte, hat ebenso wie die jahrelange Lethargie der früheren Schutzmacht USA in Sachen Nahost-Politik offensichtlich zu der Erkenntnis geführt, dass man selbst tätig werden muss. Aber wie lange wird das gutgehen, wenn es Irans Interessen zu offensichtlich dient und die eigene radikale religiöse Propaganda beginnt, auf die Herrscher in Riad zurückzuschlagen?
Völlig ignoriert von der Weltöffentlichkeit hat zudem im Saudi-Arabien benachbarten Jemen eine vom Iran unterstützte Schiitengruppe innerhalb weniger Wochen ihre Hauptkonkurrenten – darunter die Verbündeten Saudi-Arabiens – aus dem Weg geräumt (Jungle World 35/2014). Obamas Anti-IS-Koalition hat nicht nur kein weiterführendes militärisches Ziel, außer die bemerkenswerte Dynamik des »Islamischen Staates« etwas zu bremsen – sie hat auch eine Sollbruchstelle. In dem Augenblick, in dem einer der regionalen Akteure sich einen kleinen Vorteil gegenüber der Konkurrenz durch einen dann vielleicht etwas gestutzten »Islamischen Staat« verspricht, wird dieser auch wieder diverse Unterstützer finden. Aber der IS wird zunächst bleiben und die prekäre Balance im Nahen Osten dadurch unwiderruflich erschüttert. Welche Lebensäußerung dieses »Islamischen Staats« man auch am erschreckendsten findet, seine stolz präsentierte Inhumanität, die Liebe zur Gewalt oder gar die Wiedereinführung der Sklaverei – seine Funktion als Katalysator für die Probleme im Nahen Osten ist am Unheilvollsten. Der Nahe Osten nach dem IS wird ein anderer sein. Die Dynamik und die konsequente Ausrichtung des IS erlauben keine Kompromisse und keinen Zeitaufschub. Hier werden schlagartig Konflikte erhitzt, deren beständiges, aber langsames Schwelen der alte Nahe Osten immerhin einigermaßen berechenbar garantieren konnte.