Carl Djerassi, der Entwickler der ersten Antibabypille, im Gespräch über Sex, Chemie und seine Gedichte

»An der Empfängnis ist nichts Romantisches«

Beim Interviewtermin in San Francisco wollte Carl Djerassi lieber seine neuen Gedichte vorlesen, als über die Erfindung zu sprechen, die ihn berühmt gemacht hat: Der Chemiker hat 1951 die erste Antibabypille entwickelt.

Sie sind Chemiker, Schriftsteller, Kunstsammler und gelten als »Vater der Pille«. Sie haben oft betont, dass Sie »nur« die chemischen Grundlagen zu ihrer Herstellung entwickelt haben.
Als ich die Pille erfand, war ich 28 Jahre alt. Zu dieser Zeit war sie eine wichtige, eine wesentliche Erfindung. Gemessen an den heutigen Standards ist die damalige chemische Wissenschaft trivial, nicht trivial jedoch sind die sozialen Implikationen und Konsequenzen der Pille, die bis heute fortbestehen, und insofern ist sie eine der wichtigsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Allerdings habe ich seit 1951 über tausend andere Schriften veröffentlicht, bin als Chemiker erfolgreich gewesen und habe an Dingen gearbeitet, die der Öffentlichkeit überhaupt nichts sagen würden. »Wie haben Sie die Pille entdeckt?« – Dies ist eine dumme Frage, die ich schon über tausend Mal beantwortet habe, was überall nachzulesen ist. Und worin besteht der Zweck einer extrem kurzen Antwort? Es ist so langweilig. Anstatt über die Geschichte der Pille zu reden, sollte mehr über ihre Zukunft nachgedacht werden.
Wie sieht denn die Zukunft der Verhütung und der Reproduktionsmedizin Ihrer Ansicht nach aus?
Fortpflanzung und Sex werden immer stärker entkoppelt, vor allem in den alternden Gesellschaften, die ich als »geriatrisch« bezeichne, etwa Europa und Japan mit 20 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre und etwa 1,5 Kindern pro Familie. In diesen Gesellschaften ist das Durchschnittsalter der Schwangeren bei 30 Jahren angelangt, bei Frauen mit akademischem Bildungsweg bei 35 Jahren. Ich rede allein über diese zweite Gruppe Frauen, für die sich nun eine weitere Möglichkeit auftut. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Zahl der In-vitro-Fertilisationen stark zugenommen, gleichzeitig hat sich in den vergangenen fünf Jahren herausgestellt, dass das Einfrieren und erfolgreiche Auftauen von Eizellen tatsächlich funktioniert. Daraus ergibt sich für Frauen die realistische Möglichkeit, die Schwangerschaft bis hinter den Karierrestart zu verlegen, ohne sich vor dem Ticken der biologischen Uhr ängstigen zu müssen.
Wird die Pille überflüssig werden?
Ja, teilweise, aber nicht nur die Pille, sondern jede Verhütung, zumindest in den geriatrischen Ländern. 80 Prozent aller Männer und etwa 60 Prozent aller Frauen haben außerehelichen Sex, denn die Neugier am Sex versiegt nicht. Daher wird auch das Kondom weiter verwendet werden, aber nicht mehr zur Verhütung, sondern um Geschlechtskrankheiten zu vermeiden. In-vitro-Fertilisation wird zunehmend ein normaler nicht-koitaler Weg werden, Kinder zu bekommen. Je größer die gesellschaftliche Nachfrage sein wird, desto erschwinglicher wird dieser Weg sein. Heute leben etwa fünf Millionen Menschen auf der Welt, die ohne Sex geboren wurden. Die In-vitro-Fertilisation wurde zwar schon 1977 entdeckt, doch erst zwischen den späten Achtzigern und 2010 vermehrt eingesetzt. Je erfolgreicher die Konservierung von Eizellen und die folgende In-vitro-Fertilisation werden wird, desto mehr Frauen werden sich bereits in jungem Alter für eine Sterilisation entscheiden. Viele Frauen in lateinamerikanischen Ländern zum Beispiel, die mit Mitte zwanzig bereits fünf Kinder haben, wollen sich sterilisieren lassen. Bis heute lassen sich vor allem ältere Menschen und solche, die bereits Eltern sind, sterilisieren. Nach dem neuen Szenario fällt die Sorge um eine mögliche Elternschaft weg und das Sterilisationsalter kann vorverlegt werden. Es ist natürlich lächerlich anzunehmen, dass jede Frau sich sterilisieren oder ihre Eizellen einfrieren lassen wird. Aber die Zahl der Mütter, die ökonomisch so unabhängig sind, dass sie sogar alleinerziehend sein wollen, wächst. Manche wollen keinen Mann oder finden nicht den richtigen. Meine eigene Mutter war alleinerziehend, eine Zahnärztin in Wien, mein Vater, auch ein Arzt, lebte in Bulgarien, weil meine Eltern geschieden waren.
Was bedeutet dieses neue Szenario für die Position des Mannes?
Das neue Szenario reflektiert nur einmal mehr die Ineffizienz der Männer im Fortpflanzungsprozess. Die Teilhabe des Mannes am Fortpflanzungsprozess beläuft sich auf die wenigen Sekunden einer kurzen Ejakulation, während der es in einer Ejakulation von ungefähr 50 bis 100 Millionen Spermien nur ein erbärmliches kleines Spermium bis zum Ei schafft. Obwohl viele Väter an Dinge wie »Blutlinie«, »Erbe« und »Dynastie« glauben, sind sie operationell unwichtig. Allein der Menschenvater und ein paar Vogelarten kennen ihre Kinder, Fische oder Insekten kennen ihre Söhne oder Töchter nicht.
Würde die Pille für den Mann die Geschlechterverhältnisse erneut verändern?
Es wird keine Pille für den Mann geben. Nicht etwa, weil die Wissenschaft Sie nicht herstellen könnte, die Herstellungsweise ist bereits bekannt. Doch die großen Pharmakonzerne interessieren sich nicht für die Pille für den Mann. Da die Fortpflanzungsspanne bei Männern zwei- bis dreimal so lang ist wie bei Frauen, würden sich Männer mehr Sorgen um ihre zukünftige Fruchtbarkeit machen, denn sie könnten potentiell die Pille länger einnehmen als Frauen, bis weit über 45 Jahre hinaus; außerdem wäre eine viel zu lange, sehr teure Forschung nötig, um die Frage nach etwaigen Zusammenhängen zwischen Erektionsstörungen oder Prostatabeschwerden und einem jahrzehntelangen Pillengebrauch zu beantworten.
Sie sagen, sicherer Sex – Sex mit der Pille und natürlich dem Kondom – steigere die Lust. Welche Auswirkungen hätte das neue Szenario auf den Sex? Wird er besser oder steriler?
An der Empfängnis ist nichts Romantisches, obwohl manche denken, sie hätten im Moment eines gigantischen Orgasmus ihr Kind empfangen. Dies stimmt meistens nicht, es sei denn, man hatte nur einmal Sex. Beim Kinderkriegen geht es vielmehr darum, die Eizelle mit dem genetischen Material des Partners zu verbinden – ist es wirklich wichtig, ob dies im Körper oder außerhalb stattfindet?
Fortpflanzung wird nur noch gelegentlich beim Sex mitvollzogen; Deutschland, Italien und Spanien haben 1,5 Kinder pro Familie; es wäre doch absurd zu denken, dass diese Paare nur ein- bis zweimal Sex in ihrem Leben haben. Aber im katholischen Lateinamerika ist die Zahl illegaler Abtreibungen sehr hoch und nichtchemische Formen der Verhütung wie Coitus interruptus, Analsex, oraler Sex werden praktiziert. Beim Sex geht es um Liebe, Lust, Genuss, Neugier. Wenn ich heute eine junge, gebildete Frau wäre und ein Kind allein, mit einem Mann oder einer Frau haben wollte, würde ich eine Anzahl meiner Eizellen einfrieren und mich anschließend sterilisieren lassen. So könnte ich mir das Geld und die Sorge um Verhütung sparen, Spaß aus Liebe, Lust, Neugier am Sex haben und gleichzeitig Karriere machen. Ich selbst habe mich auch sterilisieren lassen, allerdings erst später.
Sie haben eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter Romane, in denen Sie auch wissenschaftstheoretische Themen behandeln.
Ich schreibe »Science-in-Fictions«, also fiktionale Texte, in die ich wichtige wissenschaftliche Informationen einbaue. Aber ich schreibe auch Gedichte. Mein Band »Ein Tagebuch des Grolls, 1983–84« entstand nach einer zeitweiligen Trennung von meiner späteren Ehefrau, Diane Middlebrook. Es sind sehr rachedurstige, private Gedichte, die erst 30 Jahre später veröffentlicht wurden. In meiner heutigen Lebensphase kann ich veröffentlichen, was ich früher nicht veröffentlicht hätte, denn ich werde nicht mehr lange hier sein.
Der Untertitel Ihres kürzlich erschienenen Buchs »Der Schattensammler« lautet »Die allerletzte Autobiographie«. In dem Kapitel »Jew« zitieren Sie zahlreiche jüdische Philosophen und Schiftsteller. Ist es für Sie schwierig, Ihr Jüdischsein in eigene Worte zu fassen?
Nein, jedoch setze ich mich in den Büchern, die ich schreibe, mit meiner jüdischen Identität auseinander. »Four Jews on Parnassus« etwa, das ich zu einer Zeit schrieb, in der ich wusste, dass meine Frau Diane Middlebrook an Krebs sterben würde, stellt die Herangehensweisen von vier jüdischen Intellektuellen, Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg, an ihre jüdische Identität dar; Walter Benjamin, der jüdische Deutsche oder deutsche Jude, der Zionist Gershom Scholem, dann Arnold Schönberg, der zum Protestantismus konvertierte und später wieder dem Judentum beitrat; ich selber habe mein Jüdischsein zwar nicht verneint, aber lange versteckt.
Im Wien meiner Kindheit vor unserer Flucht vor den Nazis waren wir »Weihnachtsbaum-Juden« – wir feierten kein Chanukka, aber stellten einen Weihnachtsbaum auf – ohne Christus. Als ich dann als traumatisierter Teenager und jüdischer Flüchtling in die USA kam, vermutete ich Antisemitismus an Orten, an denen er kaum existierte, oder erlebte seine amerikanisch-akademische Ausprägung. Damals gab es zum Beispiel an der Columbia University – in New York, der jüdischsten aller Städte – einen Numerus clausus, der besagte, dass nur zehn Prozent aller Medizinstudenten jüdisch sein durften. Harvard nahm bis 1938 keine jüdischen Professoren für englische Literatur auf, weil man dachte, Juden gehörten nicht zur englischen Kultur und könnten keine englische Literatur interpretieren. Die Chemie war lange ein antisemitisches Fach; während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es an führenden Universitäten nur eine Handvoll jüdischer Chemieprofessoren. Ich bin also nie mit meinem Jüdischsein hausieren gegangen; für viele klang mein Nachname »Djerassi« arabisch.
Dennoch leben Sie heute wieder in Österreich.
Ich lebe heute mehr in Wien als in London oder San Francisco, ich habe jetzt in Wien mehr Freunde als anderswo, und die medizinische Versorgung ist in Wien auch besser als zum Beispiel hier in Amerika, sogar besser als in Stanford. Als ich 2008 umzog, stand auch Berlin zur Debatte. Auch wenn ich 50 Jahre meines Lebens kein Deutsch gesprochen habe, wollte ich doch in einem Land leben, dessen Sprache ich mächtig war.
Österreich hat sich mir sehr spät zugewandt. Zum Beispiel habe ich Preise, Auszeichnungen und Einladungen lange aus aller Welt erhalten, nur nicht aus Österreich und Deutschland. Und ich dachte mir, aha, also die zwei Nazi-Länder. Vor allem das mit Österreich ging mir nahe. Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges war der Wiener Antisemitismus an Universitäten noch virulent, viele Professoren erinnerten sich noch daran, wie ihre jüdischen Kollegen einst rausgeworfen wurden. Die erste Einladung nach Österreich sprach nicht die Wiener Universität aus – meine Eltern haben dort promoviert, ich bin im Universitätskrankenhaus zur Welt gekommen und hätte wahrscheinlich in Wien studiert, um Arzt zu werden, hätten die Nazis uns nicht vertrieben –, sondern ein an meinen Büchern interessierter Zirkel von Literaten. Vor drei Jahren gab es plötzlich eine Flut akademischer Auszeichnungen aus Wien, Graz und Innsbruck und 2005 stellte die Österreichische Post eine Briefmarke mit meinem Gesicht darauf aus. Als ich 2012 dann von der medizinischen Fakultät der Uni Wien die Ehrendoktorwürde erhielt, zitierte ich in meiner Rede eine Stelle aus Schillers »Wallenstein«, an die ich mich aus Schulzeiten in Wien erinnerte: »Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt. Der weite Weg, Graf Isolan, entschuldigt Euer Säumen« – alle verstanden, was ich versuchte mitzuteilen.