Probleme bei der schulischen Inklusion

Keine Investition bei der Inklusion

Nichts hat die Pädagogik der vergangenen Jahrzehnte so beschäftigt wie die Frage der Inklusion. Dennoch wurde die Inklusion von behinderten Kindern in den Schulalltag überhastet umgesetzt, zudem mangelt es an Geld.

Nun hat es ein Politiker offen und ehrlich ausgesprochen – zumindest in Hamburg wird es nicht mehr Geld für die Inklusion behinderter Kinder in die allgemeinen Schulen geben. So hat es Schulsenator Ties Rabe (SPD) auf einer Veranstaltung der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) am 30. September bekannt gegeben. Er erteilte den Forderungen der Gewerkschaft nach einer Einstellung von zusätzlichen 550 Sonderpädagogen eine Absage. Das sei nicht finanzierbar – auch nach einer eventuellen Wiederwahl der SPD im kommenden Jahr nicht. Man muss dem Senator zugutehalten, dass er angesichts des beginnenden Wahlkampfs keine leeren Versprechungen machte. Anja Bensinger-Stolze begründete die Forderung der GEW nach mehr Ressourcen wie folgt: »Die Ausstattung der Inklusion in Hamburg ist völlig unzureichend. Darunter leiden die Arbeitsbedingungen der Pädagogen und Pädagoginnen und natürlich auch die Qualität von Unterricht. Eine solche Umsetzung der Inklusion als Sparmodell lehnt die GEW ab!« Doch kurzfristig etwas an den Rahmenbedingungen ändern kann die Gewerkschaft nicht. Und so wird die Inklusion weiter unter sehr widrigen Umständen umgesetzt.

In Hamburg entstehen an den weiterführenden Stadtteilschulen derzeit immer mehr sogenannte temporäre Lerngruppen. Diese Lerngruppen sind einem Passus im Hamburger Schulgesetz geschuldet, der sie – quasi als Notlösung – explizit erlaubt. Bei aller Inklusionseuphorie war den Verfassern des Gesetzes wohl bewusst, dass es dennoch Probleme geben könnte. So können die Schulen beispielsweise im Fall einer Unbeschulbarkeit einzelne Schüler in besonderen Lerngruppen unterbringen. Da Benennungen von Schulklassen, die mit Bezeichnungen wie »Sonder« oder »Extra« verbunden sind, in Ungnade gefallen sind, tragen diese Nebenklassen euphemistische Namen wie Brücken- oder Ankerklassen. Zumindest an der Bezeichnung merkt man nicht, dass sie stark verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche beherbergen. Den Schulen kann man die Schuld dafür nicht geben  – sie müssen Sorge für alle Beteiligten tragen. An dieser Stelle wird jedoch deutlich, dass sich bei schlechter Ausstattung Nischen auftun, die keiner wollte und die die Segregation nicht im Geringsten beseitigen. Man ist dann wieder an einer Stelle der Entwicklung angelangt, bei der sich vor über 100 Jahren die Hilfsschulen herausbildeten. Seitdem gab es immer wieder sogenannte Nebenklassen.

Ob Anker-, Brücken- oder Laborklassen – sie alle eint der trennende Aspekt. Streng genommen werden durch diese Sonderklassen die Sonderschulen durch die Hintertür wieder eingeführt. Verwunderlich ist diese Entwicklung nicht, denn die Lehrer arbeiten nur wenige Stunden in Doppelbesetzung mit ausgebildeten Sonderpädagogen. Die meiste Zeit des Unterrichts sind sie mit den Klassen allein und müssen auch noch den nach den PISA-Studien gestiegenen Bildungsansprüchen genüge tun. Ein wenig Entlastung erfahren die Pädagogen vielerorts durch Eingliederungshelfer oder Schulbegleiter. In Hamburg ist die Anzahl dieser Mitarbeiter in den vergangenen Jahren um das Acht- bis Neunfache gestiegen. Auch in anderen Bundesländern wird verstärkt auf diese Maßnahme zurückgegriffen. »Ich betreue einen sehr stark verhaltensauffälligen Grundschüler an vier Tagen in der Woche. Oft weiß ich jedoch nicht, was ich mit ihm machen soll, da ich für diese Tätigkeit nicht ausgebildet bin«, beschreibt Sabine Gilsch ihre Probleme. Die 50jährige arbeitet für neun Euro in der Stunde an einer Lübecker Grundschule. Wenn es mit »ihrem Kind« im Unterricht gar nicht mehr funktioniert, geht sie mit ihm vor die Tür. Der Fall ist exemplarisch, nicht nur in Schleswig-Holstein. An dieser Stelle zeigt sich, dass viele Bundesländer die Inklusion zum Dumpingpreis umsetzen möchten. Sie nehmen dabei die Etablierung eines Niedriglohnsektors im Bildungsbereich billigend in Kauf, bevor sie Erzieher oder Sonderpädagogen einstellen. In Berlin werden viele Schüler mit schweren Verhaltens-auffälligkeiten einfach in andere Bundesländer gebracht. »Da findet man auf einmal Berliner Schüler in Maßnahmen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder sogar in Polen«, sagt Bernd Ahrbeck vom Institut für Rehabilitationswissenschaften der Berliner Humboldt-Universität. Er lehrt Verhaltensgestörtenpädagogik und kritisiert die derzeit umgesetzte Inklusion scharf. Es sei noch völlig unklar, wie man sich eine »inklusive Gesellschaft« vorzustellen habe. Zumal die gesellschaftliche Realität eindeutig auf Wettbewerb, Selbstoptimierung und Erfolg angelegt sei.

Die Bundesländer suchen alle ihren eigenen Weg im Bereich der schulischen Inklusion. Während Bremen möglichst schnell alle Sondereinrichtungen auflösen will, gehen die Bundesländer Bayern und Baden-Würtemberg sehr langsam vor. Ahrbeck plädiert ebenfalls für einen behutsamen Ausbau gemeinsamen Lernens. In seinem Fach gilt er damit einigen als »Ewiggestriger« und »Konservativer«. In der pädagogischen Wissenschaft ist der Streit um die Inklusion voll entbrannt. Während Hochschullehrer wie Andreas Hinz vom Institut für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Hans Wocken, der bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Lernbehindertenpädagogik an der Universität Hamburg lehrte, jedwede Sonderschule als »menschenrechtswidrige Entwürdigung« begreifen und die Beschreibung eines Förderbedarfs schon als ähnlich diskriminierend empfinden wie eine »sexistische und rassistische Sprache«, warnen Wissenschaftler wie Ahrbeck vor einer Überforderung aller Beteiligten und stellen zugleich die »Nivellierung von Behinderung« grundsätzlich in Frage. Denn allein durch den guten Willen geht eine Behinderung – platt gesprochen – nicht weg. Und Kinder mit Behinderungen brauchen zusätzliche Unterstützung, damit gemeinsames Lernen funktionieren kann. Viele Aspekte der Diskussion erscheinen im Vergleich mit dem Ausland als typisch deutsch. In kaum einem Land wird die Debatte ähnlich kontrovers und dogmatisch geführt. Sowohl die USA als auch die für ihre Inklusionspolitik gelobten skandinavischen Länder machen keinen Hehl aus dem Vorhandensein von Behinderung. Über zusätzliche Förderung wird unverkrampft entschieden. Hierzulande heißt es oft: entweder ganz oder gar nicht. Manchmal führt jedoch der Mittelweg zum Erfolg.
Wenn sich die Bildungspolitik in Deutschland an dieser Stelle nicht darauf besinnt, dass Inklusion Zeit, Raum und Geld braucht, wird es in Zukunft wohl noch viele Brandbriefe geben, wie sie vorige Woche die Schule Am Heidberg im Hamburger Stadtteil Langenhorn veröffentlicht hat. Eltern und Lehrer warnen darin vor einer Überlastung. »Aufgrund der hohen Zahl verhaltensauffälliger Schüler ist ein halbwegs normaler Unterrichts­alltag in vielen Klassen nur möglich, weil unsere engagierten Kollegen über ihre Belastungsgrenzen hinaus (...) für das Gelingen der Inklusion (...) kämpfen«, heißt es in dem Brief. Die Antwort der Schulbehörde fiel lapidar aus. »Wir haben die Stadtteilschulen schon jetzt massiv bessergestellt«, sagte ihr Sprecher, Peter Albrecht. »Diese neue Schulform muss sich entwickeln. Dann werden auch wieder mehr leistungsstarke Schüler angemeldet«, so Albrecht.