Bernd Stegmann im Gespräch über postmodernes Theater und Kapitalismus

»Es ist nicht wahr, weil es nicht lügt«

Das postmoderne Theater hat sich mit dem Kapitalismus zusammengetan und feiert auf der Bühne den großen Kontingenzkindergeburtstag, kritisiert Bernd Stegemann, Dramaturg und Professor für Schauspielgeschichte.

Sie kritisieren den Zustand des Gegenwartstheaters. Die Postdramatik habe die Tradition von Mimesis, Spiel und Bedeutung durch Selbstreferenz, Ironie und Performativität ersetzt. Sie habe das Ereignis zu einem Zeichen seiner selbst gemacht und kokettiere mit dem Anschein von Authentizität. Wie verhält sich das Theater der Gegenwart zum Erbe der Avantgarde?
Viele der avantgardistischen Techniken werden in der Postmoderne weitergeführt. Doch man wird den Verdacht nicht los, dass sie lediglich wiederholt werden. Sie selbst entstammen auch nicht mehr einer politischen Haltung, sondern sie sind zum Zitat geworden. Das ist der kritische Gegenwartszustand des Theaters in der Postmoderne, wie auch aller anderen Kunstformen heute; dass Wirkungstechniken, die eine politische Intention hatten, von dieser Intention abgelöst worden und zu Effekten reduziert sind, die in einer Rivalität um Aufmerksamkeit Erfolg haben wollen. Die Konsequenzen kann man auf dem Theater heute beobachten: Es ist ein unglaublich virtuoses Theater, ein unglaublich effektsicheres Theater, es herrscht ein technisch ausgefeiltes Können oder strategisches Nichtkönnen, aber es ist alles nur noch Zitat. Und zwar das Zitat einer äußerlichen Wirkung, die sich komplett abgelöst hat von einer Haltung zur Welt.
Wenn das Theater »echte Arbeitslose« auf die Bühne stellt, soll das Wirklichkeit darstellen. Es gibt offenbar eine große Sehnsucht nach Authentizität auf der Bühne.
Die Authentizität ist eine bürgerliche Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sie ist die Form, in der der Bürger versuchte, Glaubwürdigkeit trotz Widersprüchlichkeit herzustellen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts, spätestens in der Postmoderne, wurde jedoch vergessen, dass Authentizität ein Inszenierungseffekt des bürgerlichen Subjekts ist. Das Authentische wird als Ausdruck einer nicht weiter zu befragenden Wahrheit des Subjekts begrüßt. Damit ist es zu einem ideologischen Begriff geworden, weil mit ihm vergessen gemacht werden soll, dass das Authentische im Spiel der sozialen Abhängigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft eine ganz bestimmte strategische Bedeutung hat, nämlich die der Glaubwürdigkeit auf dem Markt, der Glaubwürdigkeit im Aushandeln des Wertes der eigenen Handlungen, des eigenen Daseins und der Waren, die man produziert.
Das Authentische ist immer schon ein Fetisch gewesen. Doch wie heute niemand mehr den Fetischcharakter der Ware erkennen möchte, so wird auch hier die Erkenntnis verweigert. Man hat einmal gewusst, dass der Fetischcharakter nicht »ist«, sondern das Produkt einer Inszenierung ist, die einen bestimmen Zweck hat. Durch die Aura des Authentischen soll die Ware, der Mensch einen höheren Wert bekommen. Dieser Blick auf die Realität war lange möglich. Und das hat man auch lange innerhalb der bürgerlichen Klasse gewusst und ist stra­tegisch damit umgegangen. Erving Goffman konnte noch Ende der Fünfziger ein berühmtes Buch schreiben mit dem Titel »Wir alle spielen Theater«, wo er deutlich beschrieben hat, dass das bürgerliche Subjekt Theater spielen muss, denn wenn es das nicht täte, wäre es sofort dysfunktional für alle sozialen Verabredungen, die es gezwungen ist einzugehen. Es ist ein gesellschaftlicher Zwang. Und im Theaterspielen haben wir den größten Erfolg, wenn der andere meine Spieltechnik nicht durchschaut, wenn er also denkt, dass ich nicht spiele. Dann wirke ich authentisch.
Authentizität ist das gelungene Spiel des erzwungenen Lügens. In der Postmoderne ist die dialektische Vorgeschichte vergessen worden. Als wäre es authentisch, wenn ich die Verkäuferin aus dem Supermarkt auf die Bühne stelle und sie ihre Geschichte erzählen lasse. Das kann gar nicht authentisch sein. Es kann es erstens nicht sein, weil sie als Verkäuferin kein echtes authentisches Leben führt, sondern sie muss Theater spielen – Freundlichkeit, Pünktlichkeit –, sie ist gezwungen, etwas darzustellen, und zweitens ist sie, wenn sie als Laie auf eine Bühne tritt, durch das Dispositiv der Bühne gezwungen, diesen Schreck des Lampenfiebers, die Verschämtheit, dieses »O Gott, ich bin auf einer Bühne« darzustellen. Sie ist doppelt entfremdet. Und diese doppelte Entfremdung wird in der Postmoderne als Authentizität gefeiert. Das ist die größte Lüge, die die bürgerliche Gesellschaft errichtet hat.
Darin schwingt auch eine Verachtung des ästhetischen Scheins mit. Obwohl die Kunst wesentlich Schein ist, wird ein Wesen außerhalb der Kunst behauptet, ein hinzutretendes Ereignis. Dann besuchen Menschen eine Performance und sagen danach, dass sie über das Gesehene nicht sprechen könnten, ein Kultus des Außersprachlichen. Woher kommt diese Mystifikation von Kunst?
Die postmoderne Kunst versucht, Präsenzereignisse zu evozieren, und zwar als metaphysische Ereignisse. Das eine ist der Fetisch der Authentizität und das andere ist, dass Kunst wieder religiös wird. Das ist eine verlogene Attitüde, zu behaupten, dass man nicht darüber sprechen könnte, dass man es kaputtmachen oder beschmutzen würde. Das ist nur die Fetischisierung eines letztlich irrelevanten Erlebnisses. Da kann man Lukács zitieren: »Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart.« Die berühmte Sehnsucht nach der Tiefe ist etwas, was das bürgerliche Subjekt seit jeher umgetrieben hat, weil es in der Tiefe sich unbeschmutzt und rein fühlt und dann unendlich schöne Seele mit sich selber spielen darf. Und die schöne Seele ist, wie Hegel es unnachahmlich gesagt hat, das einzig absolut Böse in der Welt. Sie kann in dieser Welt nichts Sinnvolles tun, da sie sich die Hände nicht schmutzig machen will und leider alle anderen für schmutzig erachtet.
Wie hängen postmoderne Ästhetik und postmoderne Weltanschauung zusammen?
Die Doppellüge vom Authentischen und Metaphysischen in den postmodernen Ästhetiken ist gleichzeitig das Verbot der Darstellung, der Mimesis, des Schauspiels. Der Schauspieler lügt offensiv. Er sagt, dass er etwas vormacht, und deswegen ist das, was er vormacht, auch keine Lüge mehr, weil wir alle wissen, dass es ein Vorgemachtes ist. Die postmoderne Sensi­bilität reagiert auf diese offensive Lüge mit geschmacklicher Verstimmung, weil ihr vorgeführt wird, dass womöglich ihr eigenes Subjektverhältnis genauso verlogen ist. Doch das hat sie kaschiert mit der Selbstfetischisierung. Und deswegen ist der schauspielerische Vorgang der unappetitliche Vorgang innerhalb der Postmoderne. Es ist anstößig. Man reagiert mit »Igitt!«, mit einem ästhetischen »Igitt«. Hinzu kommt, dass die postmoderne Gesellschaft alle Menschen zu permanenten Resonanzräumen machen möchte für die Konsumangebote, die Geschmacksangebote und die Dienstleistungsangebote, die an alle herangetragen werden. Wenn David Riesman den innengeleiteten und den außengeleiteten Charakter unterscheidet, so sind wir alle außengeleitete Charaktere geworden – und zwar zwangsweise. Wir sind alle Menschen, die möglichst durchlässig sein sollen für die Vielfältigkeit der Konsumangebote, die auf uns einprasseln. Nur dann sind wir fügsame und im flow befindliche, kreative und kommunikativ anschmiegsame Entitäten.
Der Performance wird immer größere Bedeutung beigemessen. Politiker werden beispielsweise danach beurteilt, wie sie wirken, was sie ausstrahlen, wie sie sich inszenieren. Ihre Gesten werden analysiert. Worum geht es bei der alltäglichen Performance?
Es sind Geschmacksdiskurse und Anwesenheitsdiskurse, also Diskurse über Verfügbarkeit. Das postmoderne Subjekt hat sich rund um die Uhr verfügbar zu halten. Es hat verfügbar zu sein für alle Zumutungen und sie sollen nicht mehr als Zumutungen erlebt werden, sondern als Herausforderungen, als challenge, als Anreiz, als Inspiration, als Möglichkeit erlebt werden. Das, was man früher als kollektive Zumutung erlebt hätte, wird heute ins Gegenteil verkehrt. Und diese Verkehrung dient dem Kapital. Alle kündigen sich quasi innerlich permanent selbst und das Kapital hat die größtmögliche flexible Arbeitsmasse. Die Bewährungsproben, wie es bei Luc Boltanski heißt, haben sich verunendlicht. Jede Sekunde wird evaluiert, jede Sekunde wird bewertet, in jeder Sekunde steht man auf der Probe, ob man in den nächsten Sekunden, im nächsten Projekt noch wertvoll genug ist, um weitermachen zu dürfen.
Im Prozess der Kreativität ist Negativität unerwünscht. Viele Tabus sind heute weniger wirkmächtig, doch dieses eine scheint sich zu verfestigen.
Negative Affekte werden als Blockade im flow erlebt. Man darf keine kritische Frage stellen, denn das lähmt die Bereitschaft, immer wieder neu auf alles zu reagieren. Und das ist eine komplizierte Verdrehung, die da stattgefunden hat, weil sie in gewisser Weise eine Technik aus dem Kreativitätsleben inhaltlich gemacht. Die Technik funktioniert an sich sehr gut. Wenn man etwas erfinden möchte, ist es sinnlos, permanent den Versuch der Erfindung in Frage zu stellen. Man lähmt dann die Lust am Herumspinnen. Doch wenn man diesen Krea­tivitätsmodus auf den gesamten Alltag ausweitet, dann wird die eigene Biographie zu einem Projekt. Doch die eigene Biographie ist kein Projekt, sondern ein Leben, das irreversibel voranschreitet. Das Leben ist nichts, was man jeden Moment anders machen kann, weil Leben immer bedeutet, zu altern. Aber der Kreativitätsboom behauptet, wir wären permanent in einem Nicht-Alter, also immer kontingent für alles. Und das stimmt einfach nicht, das ist eine Lüge.
Die Postmoderne bestreitet ja die Erkennbarkeit dieses dicht gewebten Schleiers. Und dieser resignative, relativistische Teil verschwistert sich dann mit einem lifestyle der Einzigartigkeit, den zum Beispiel das Theater von René Pollesch immer propagiert: Es ist alles nur ein großer Kontingenzkindergeburtstag. Da verbindet sich Resignation mit etwas Orgienähnlichem.
Die Arbeitsbedingungen im Theater haben sich verändert: Es gibt mehr Produktionen, mehr Projekte, weniger Zeit und kleinere Ensembles. Die immer kürzeren Produktions­zyklen lassen es kaum zu, dass ein Stoff allmählich entwickelt wird, vielmehr wird der Stil des Regisseurs auf diesen angewendet. Welche Auswirkungen hat das auf das Theater?
Das eine ist der abrufbare Stil des Regisseurs, der keine Entwicklungsphase mehr braucht, sondern nur noch eine Einübungsphase. Dazu kommt die Umwandlung von Probenzeit in Projektzeit. Alle laufen los und die Schauspieler interviewen Passanten in der Stadt und fragen diese dann zum Beispiel, was halten sie eigentlich von Alzheimer und Sterbehilfe, und dann bekommen sie verschiedene Antworten und mit diesen rennen sie dann zurück ins Theater, es wird aufgeschrieben und zu einem Text gemacht und anschließend steht man auf der Bühne und sagt diese Sätze – ohne einen spielerischen Vorgang damit verbinden zu können, weil es sich nur um lose verbundene Zufalls­äußerungen handelt. Und man denkt, man hätte jetzt Wirklichkeit auf die Bühne ­gebracht. Doch da ist weder ein Begriff von Wirklichkeit noch einer von Theatralisierung. Und weder wird angeschaut, wie diese Meinungen entstanden sind, noch wird das auf der Bühne in Zusammenhang gestellt, sondern nur moderierend nebeneinandergereiht. Aufgrund ästhetischer Tabus wird auf Theatralisierung verzichtet. Das offensive Lügen, das Verwandeln, findet nicht statt. Alles soll ungelogen, authentisch sein. Aber es ist nicht wahr, weil es nicht lügt. Das ist der Widerspruch des Theaters.
Welche Formen des Schauspiels haben sich im Gegenwartstheater etabliert?
Es hat sich aufgeteilt. Es gibt das psychologische Schauspiel, den commercial realism, wo der Schauspieler versucht, hinter der Figur zu verschwinden. Das findet man vor allem im Film. Das ist weniger ein künstlerisches Schauspiel, sondern ein Handwerk, um im Film reüssieren zu können. Diese Form ist selbst verkümmert und dient keineswegs einer komplexen Weltdarstellung, sondern ist in ihrer Klischeehaftigkeit heute ein reaktionäres Projekt. Im Theater versucht man, sich mit Authentizitätseffekten zu retten: Laien stehen auf der Bühne oder Schauspieler sprechen Texte von Laien. Oder man überfordert den Schauspieler auf der Bühne. Wenn er ganz schnell ganz viel Text sprechen muss, wie bei Pollesch, ist er in einer ­Situation, in der er nicht gestalten kann, in der er keine Souveränität über seine Wirkung hat, sondern er wirkt als überforderter Schauspieler, was wiederum authentisch wirkt. Es gibt immer weniger bewusstes Spiel, sondern nur noch Reaktionen auf die Probleme, die mir gestellt werden. Da muss man dann mit postmoderner Lockerheit auf diese Zumutungen reagieren, wie auch außerhalb des Theaters.
Der Regisseur spielt im postmodernen Theater eine wichtige Rolle. Wie hat der Regisseur sich aus der arbeitsteiligen Organi­sation eines Ensembles zur entscheidenden Instanz entwickeln können?
Der Regisseur ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Um den ökonomischen Erfolg eines Ensembles zu sichern, hat man sich für eine strikte Hierarchisierung entschieden: einen Mann an der Spitze. Oft waren die Regisseure Leute, die künstlerisch nichts beizutragen hatten, sondern für den reibungslosen Ablauf der Proben und Aufführungen gesorgt haben. Mit dem Naturalismus entstand die Notwendigkeit, dass die theatralen Mittel eine Weiter­entwicklung benötigten. Es brauchte einen Blick aus dem Zuschauerraum, um die Wirkungen zu erfassen. Das ist die künstlerische Begründung für den Regisseur. Der Regisseur ist der vorweggenommene, aber auch der allmächtige Zuschauer. Er ist der König des Theaters und hat auch die Königsposition: achte Reihe Mitte, Zentralperspektive. Die Position des Regisseurs hat sich institutionell so weit verfestigt, dass es heute ein regiedominiertes und -fixiertes deutsches Theater gibt.
Ein Beispiel: Wenn der Regisseur die Probe verlässt, ist Pause. Das ist wie ein Angestelltenverhältnis und kein kollektiver künstlerischer Prozess. Dieses Problem kann man durch die Abschaffung des Regisseurs aber nicht lösen. Die Mitarbeiter sind durch eine 150jährige Entfremdungsgeschichte versklavt. Es bräuchte eine langwierige Revolution, damit die künstlerischen Mitarbeiter wieder in die Position kommen, anderes Theater zu machen. Der Regisseur hingegen muss aufgrund des heutigen Theatermarktes mit seinen Hitparaden und Stilzwängen permanent an sich arbeiten. Er überprüft die Wirksamkeit der Effekte. Er muss beständig sein Geschmacksempfinden idiosynkratisch schärfen, da er unter einem Innovationsdruck steht, ständig neue Einfälle für neue Effekte zu haben.
Der Regisseur nimmt zwar den Blick des Publikums ein, doch wie ist das Verhältnis zum Publikum tatsächlich beschaffen?
Die Zuschauer werden weniger. Und sie wollen das, was sie geboten bekommen, oft nicht. Und dann wird behauptet, das müsse so sein, das sei Avantgarde, das müsse verstören. Das ist eine Schutzbehauptung. Denn die Effekte werden nicht aus einem avantgardistischen Impuls heraus entwickelt. Sie werden produziert, um Erfolg zu haben. Und wenn man keinen Erfolg hat, kann man es wieder so drehen, dass dies ein Beweis für die Kunst sei. Weil alle es doof finden, ist es toll. Aber das passiert nicht aus einer politischen Haltung heraus. Das ist das Ärgerliche. Es wird vieles gekonnt, aber es wird nichts damit gewollt.