Die Schach-WM und autokratische Präsidenten

Schach in Sotschi

Wladimir Putin wurde zum Retter der Schach-WM – und des autokratischen Verbandspräsidenten.

Ein Satz, drei Überraschungen: Schachweltmeister Magnus Carlsen wird am 7. November gegen seinen Herausforderer und Vorgänger Vishwanathan Anand in Sotschi den Titel verteidigen – sowohl Carlsens Gegner als auch der Ort waren überraschend und dass überhaupt gespielt wird, war lange Zeit nicht zu erwarten gewesen. Nach seiner deutlichen 6,5:3,5-Niederlage gegen Carlsen im WM-Kampf 2013 in Chennai waren viele Experten davon überzeugt worden, dass Anands große Zeit als Spitzenspieler vorbei sei – zu mittelmäßig seien seine Turnierergebnisse der vergangenen Jahre gewesen, die dazu führten, dass er in der Weltrangliste von Platz zwei auf Platz sieben abrutschte. Der mittlerweile 44jährige profitiere zwar immer noch von seiner Erfahrung, aber dass er sich erneut in einem Rundenturnier gegen sieben andere Weltklassespieler für den Titelkampf qualifizieren könne, sei so gut wie ausgeschlossen. Entsprechend wurde Anand, von 2007 bis 2013 Weltmeister, vor dem Qualifikationsturnier im sibirischen Chanty-Mansijsk auch von keinem einzigen Experten als möglicher Favorit genannt. Von der in den Niederlanden erscheinenden Fachzeitschrift Schach nach den Chancen der einzelnen Teilnehmer gefragt, wurde er vom niederländische Weltklassespieler Anish Giri in seiner Analyse sogar glatt vergessen.
Aber bereits die erste Runde des Kandidatenturniers zeigte, dass sich die Experten in Anand getäuscht hatten. Mit weiß spielend gewann er gegen den großen Favoriten auf den Turniersieg, Levon Aronian. Und nach weiteren Erfolgen war das Kandidatenturnier praktisch nach der Hälfte der Durchgänge entschieden, schon zwei Runden vor Turnierende stand der Inder als Sieger fest.
Insgesamt wirkt es so, als sei das Spiel von Vishvanathan Anand wieder frischer, seit er die Bürde des Titels los ist. So zeugt auch sein letztes Turnierergebnis, ein klarer Sieg bei einem stark besetzten Turnier in Bilbao, davon, dass es für Magnus Carlsen dieses Mal viel schwerer wird als beim einseitigen Kampf der beiden Schachprofis im vorigen Jahr.
Der junge, weltweit von einer Kleidungsmarke gesponserte Norweger gegen den indischen Sportler des Jahres 2007 – dieser nicht für möglich gehaltene Revanchekampf sollte eigentlich Ausrichter Schlange stehen lassen. Das dachte nicht nur der Weltverband Fide, denn das öffentliche Interesse an der letzten WM, das alles seit dem legendären Match Fischer-Spassky 1972 Dagewesene weit übertroffen hatte, hat gezeigt, dass Schach sehr wohl ein Massensport sein kann. Selbst in Deutschland war die Begeisterung im vorigen Jahr riesig. Der Bewerberansturm für die Austragung der diesjährigen WM blieb jedoch aus: Trotz Verlängerung der Bewerbungsfrist gingen keine Angebote ein. Die Hoffnung, dass sich in Norwegen, das seit den Erfolgen Carlsens einen Boom großer Schachveranstaltungen erlebt, Sponsoren finden würden, wurde enttäuscht. Lange blieb fraglich, ob die Schacholympiade, das weltweit größte und bedeutendste Mannschaftsturnier, wie vorgesehen in Tromsö stattfinden könne; bis zuletzt mussten die Veranstalter vergeblich auf eine Zusage des Staates warten, die Finanzierungslücke zu schließen. Und die Spielerinnen des norwegischen Damenteams hatten sogar eine Website eingerichtet, auf der sie per Crowdfunding Sponsoren suchten, die ihnen die Teilnahme finanzierten.
Und Indien? Obwohl Vishwanathan Anand ein Star ist, fand sich auch dort niemand, der die Ausrichtung und vor allem das Preisgeld dieses Wettkampfs bezahlen wollte. Der hohe finanzielle Aufwand für das letztjährige Match – das Preisgeld betrug 2,65 Millionen Euro – wurde vor allem durch das Engagement der Ministerpräsidentin J. Jayalalithaa getragen.
Auch 2014 kam die Rettung für die Schach-WM durch die Politik, und zwar dieses Mal direkt aus dem Kreml. Wladimir Putin erwies sich für die Fide, für die wegen ihrer zehnprozentigen Partizipation am Preisfonds das Stattfinden der WM überlebenswichtig ist, als Retter in der Not.
Mit Sotschi wurde schließlich Mitte Juni ein Veranstaltungsort angeboten, der aufgrund seiner durch die Winterolympiade vorhandenen Überkapazitäten jede Menge Übernachtungsmöglichkeiten bot. Und das Preisgeld in Höhe von 1,8 Millionen Dollar wird dann eben nicht direkt aus Moskau, sondern vom Regionalgouverneur Krasnodars gestellt.
Für Fide-Präsident Kirsan Iljumschinow war dies auch in seinem Wahlkampf um das Präsidentenamt ein wichtiges Thema. Iljumschinow, der schwerreiche ehemalige Präsident der Republik Kalmückien, einer der ärmsten Gegenden Russlands, ist nicht überall beliebt, und das sowohl aus politischen Gründen, weil er das Finale einer WM nach Teheran vergab und nichts dabei fand, eine WM in Tripolis stattfinden zu lassen, als auch, weil seine Amtsführung ausgesprochen autokratisch ist. Dazu kommen Iljumschinows persönliche Eigenheiten wie die wiederholte Erzählung, dass er einmal von Aliens entführt worden sei und mit ihnen eine Partie Schach gespielt habe.
Aber wie in vielen anderen Sportverbänden gilt auch für die Fide, dass ohne die Unterstützung des Kreml nichts geht. Bei dem Kontrahenten Iljumschinows für das Amt des Fide-Präsidenten handelte es sich um den früheren Weltmeister und Oppositionellen Garri Kasparow. Dessen Kandidatur hatte sich jedoch erledigt, als ein Schreiben seines Teams bekannt wurde, dass man als Bestechungsversuch von Wahlmännern interpretieren konnte. Auch in der Schachwelt ist man für finanzielle Zuwendungen empfänglich, aber sich dabei erwischen zu lassen, löst dort wie überall die üblichen Empörungsrituale aus. Wer allerdings dachte, dass nach langer Suche endlich ein Preisfonds zur Verfügung stehe und ein Spielort gefunden sei, wurde vom langen Zögern Magnus Carlsens überrascht, den Matchvertrag zu unterzeichnen – Anand hatte dies schon längst getan. Schließlich setzte die Fide Carlsen eine Frist, nach der er, ähnlich wie 1975 Bobby Fischer, seinen Titel hätte kampflos abgeben müssen; mit Sergey Karjakin stand für diesen Fall bereits ein Ersatzmann fest. Warum warteten Carlsen und sein Team so lange ab? Die Einverleibung der Krim und die daraus resultierenden Sanktionen der EU betrafen auch Alexander Tkatschow, den Gouverneur von Krasnodar und Sponsor des Preisgeldes. Nach entsprechenden Medienberichten war auch das norwegische Außenministerium konsultiert worden, um zu überprüfen, ob das Preisgeld überhaupt angenommen werden dürfe und ob eine Einfuhr dieser Devisen einen strafbaren Verstoß gegen die EU-Sanktionen bedeuten würde.
Weiterhin ging es auch darum, ob die in den letzten Jahren aufgebaute Marke »Magnus Carlsen« bei einer Teilnahme in Sotschi Schaden nehmen könnte. Würde es einen Aufschrei geben? Würden Werbepartnerabspringen? Als Carlsen die Unterzeichnung des Vertrags per Twitter öffentlich machte, war die Erleichterung in der Schachwelt groß. In den nächsten Wochen wird sich nun zeigen, ob das öffentliche Interesse am Schach auch weiterhin so groß ist.