Wer Thüringen regiert, ist nicht so relevant

Die Größe der Klöße

In Thüringen steht eine rot-rot-grüne Koalition unter linker Führung an, aber man muss schon ein versierter Theologe sein, um darin den Beginn der Apokalypse zu erkennen.

Joachim Gauck, Ex-Pfarrer, Bundespräsident und selbsternannter DDR-Bürgerrechtler, hatte kürzlich mal wieder Bauschmerzen. Es war ein schwerer Thüringer Kloß, der da in seinen Innereien rumorte und ihn sagen ließ: »Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können?« Gesprochen wurden diese Worte nicht beim Abendbrot in Bellevue zu seiner Lebensgefährtin, sondern im Fernsehen, und weil der Mitgliederentscheid der SPD über die Beteiligung an einer rot-rot-grünen Koalition unter einem linken Ministerpräsidenten noch ausstand, hätte man eine solche öffentliche Wahlempfehlung durchaus als Amtsmissbrauch deklarieren können. Ja, man hätte diese präsidiale Einflussnahme auch antidemokratisch nennen und als Beleg dafür nehmen können, dass die 25 Jahre seit dem Mauerfall zumindest für Gauck selbst zu kurz waren, um sich vom Schatten der SED-Herrschaft zu befreien.
Aber das muss ja nicht zwangsläufig für jeden gelten. Klar, Gaucks ehemaliger Amtskollege Karl Carstens brauchte ganze 34 Jahre, um vom SA- und NSDAP-Mitglied zu einem weitgehend ungefährlichen Staatsoberhaupt zu werden. Kurt-Georg Kiesinger (ebenfalls SA und NSDAP) dagegen schaffte es in nur 21 Jahren vom verfehlten Endsieg sogar bis ins Bundeskanzleramt. Und im selben Jahr wurde Hans Filbinger (Mitglied in diversen NS-Vereinigungen) Ministerpräsident von Baden-Württemberg, dem nach Wirtschaftskraft zweitstärksten und nach Einwohnerzahl drittgrößten Bundesland. Was das alles mit Thüringen zu tun hat? Eigentlich nichts.

Der – sagen wir es ruhig, wenn es alle so gerne hören – Unrechtsstaat DDR, zu dessen Territorium Thüringen zählte, hat bekanntlich weder einen Weltkrieg geführt noch Vernichtungslager errichtet. Die SED ist der NSDAP auch beim schlechtesten Willen nicht gleichzusetzen und die Linkspartei ist zudem nicht die SED, sondern ein po­litisches Konsortium aus deren Nachfolgepartei PDS und der westdeutschen SPD-Absplitterung WASG. Der designierte Ministerpräsident Bodo Ramelow war weder DDR-Bürger noch SED-Mitglied und selbst zur westdeutschen DKP bestand die engste nachweisbare Verbindung darin, dass er in deren Parteizeitung einst seine Hochzeit annoncierte. Außerdem ist der Job, den Bodo Ramelow derzeit anstrebt, nur schwerlich mit dem eines Bundespräsidenten, eines Bundeskanzlers oder auch nur eines baden-württembergischen Ministerpräsidenten zu vergleichen.
Nach Einwohnern ist Thüringen das fünftkleinste Bundesland, seine Wirtschaftskraft ist kaum größer als die Bremens, und im Bundesrat hat es gerade mal vier Stimmen. »Im Thüringer Wald/da essen sie noch Hunde,/nach altem Rezept/zur winterkalten Stunde«, bringt es Rainald Grebe in seiner inoffiziellen Landeshymne auf den Punkt. Falsch liegt er allerdings mit der Behauptung, Thüringen sei »das Land ohne Prominente«. Selbst wenn man die gute alte Zeit mit Johann Sebastian Bach (Eisenach) und Carl Zeiss (Jena) komplett außer Acht lässt und sich einzig an die Gegenwart hält, muss man zumindest konstatieren, dass das deutsche Privatfernsehen ohne Thüringer nicht dasselbe wäre: Yvonne Catterfeld (»Gute Zeiten, schlechte Zeiten«), Clueso (»Bundesvision Songcontest«) und Marco Schreyl (»Deutschland sucht den Superstar«) stammen aus Erfurt, Nico Schwanz (»Dschungelcamp«) aus Apolda, Tattoo-Horst (»Big Brother«) aus Michelstadt und Lisa Gelbrich (»Germany’s Next Top-Model«) aus Ilfeld. Und auch der öffentlich-rechtliche MDR hätte es – zumindest musikalisch – schwer ohne so beliebte Thüringer auszukommen wie Herbert Roth (»Rennsteiglied«, Suhl), Ute Freudenberg (»Jugendliebe«, Weimar), Veronika Fischer (»Auf der Wiese«, Wölfis) oder die Nahe­taler Volksmusikanten (ebendas, ebenda). Wobei diese Promi-Liste nicht, wie man denken könnte, in boshafter Willkür zusammengestellt wurde, sondern weitgehend der Thüringer Allgemeinen entnommen ist, wo man sie, ergänzt um ein paar historische Zuzügler wie Goethe, Schiller, Luther, unter dem Titel »Berühmte Thüringer Persönlichkeiten« nachlesen kann.
Wer dagegen eher selten als Thüringer Prominenz genannt wird, das sind Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie der zugezogene Helmut Roewer, der als Chef des Thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz zwischen 1994 und 2000 die Karriere der drei NSU-Mörder nach Kräften beförderte. War Roewer gerade mal nicht damit beschäftigt, mit reichlich Geld und unter Mitwirkung eigenen Personals den sogenannten Thüringer Heimatschutz aufzubauen, aus dem dann der NSU hervorging, kümmerte er sich mit Vorliebe um die Bedrohung des Staates von links. Diese hatte für ihn auch einen Namen: Bodo Ramelow. Der hessische Gewerkschaftssekretär war bereits 1990 nach Thüringen gekommen, um hier Landesvorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen zu werden. Mit einer Rede bei einer PDS-Maifeier 1994 erschien Ramelow auf Roewers Schirm, und als er 1999 tatsächlich der PDS beitrat, befand er sich schon seit Jahren unter intensiver Beobachtung. Wäre nicht die gesamte Partei »Die Linke« noch bis vor kurzem in Bund und Ländern vom Verfassungsschutz durchleuchtet worden – man könnte den VS-Fall Ramelow als Provinzposse abtun. Andererseits erschien auch das Kapitel »Thüringer Heimatschutz« inklusive dem Abtauchen von Zschäpe, Mundlos und Bönhardt bis zur Aufdeckung der NSU-Mordserie im Herbst 2011 nur wie eine Provinzposse. Und zumindest dies ist sicher: Thüringen ist Provinz.

Wer sich die thüringische Landesgeschichte anschaut, wird zuerst feststellen, dass es sie im Wortsinne gar nicht gibt. Irgendwann war da wohl mal ein Königreich dieses Namens, das möglicherweise von einem Stamm bewohnt wurde, der im Windschatten des Hunnenkönigs Attila nach Mitteleuropa geraten war. Genau weiß man es nicht. Die Franken jedenfalls machten im Jahr 531 Schluss damit. In den folgenden rund 500 Jahren waren die Thüringer im Wesentlichen damit beschäftigt, den Gegnern von einst einen jährlichen »Schweinezins« von 500 Schweinen zu entrichten. Als dieses verbindende Element 1058 abgeschafft wurde, blieben verfeindete Grafschaften zurück, aus denen sich mittels Erbteilung im 16. und 17. Jahrhundert rund 40 unabhängige Staatsgebilde entwickelten. Diese taten sich insbesondere durch eine ungewöhnlich hohe Zahl von Hexenverbrennungen sowie die Beherbergung des Flüchtlings Martin Luther auf der Wartburg hervor.
Letzterer profitierte davon, dass hier alle paar Meter ein anderer Adeliger sein Würstchen briet und die Gesamtsituation eher unübersichtlich war. Und so sollte es bis ins 20. Jahrhundert bleiben. Zwar trafen sich die völkischen Burschenschaftler 1817 auf der Wartburg, um mit zünftigen Bücherverbrennungen ein einiges Deutschland herbeizukrakeelen, ein einiges Thüringen dagegen blieb Illusion. Erst 1920 war die Kleinstaaterei endlich vorbei, wenngleich das Bundesland von heute mit 17 Landkreisen und sechs kreisfreien Städten noch immer eine überaus kleinteilige Verwaltungsstruktur aufweist. Der größere Nachbar Sachsen bringt es gerade mal auf zehn Landkreise und drei kreisfreie Städte.
Wer in Thüringen von Kultur spricht, meint in der Regel das städtische Freiluftmuseum Weimar, die Wartburg, das Burschenschafts- oder das Kyffhäuserdenkmal, auf jeden Fall Relikte einer gemutmaßten glorreichen Vergangenheit. In der Arbeitslosenstatistik steht man mit einer Quote von sieben Prozent zwar besser da als die ostdeutschen Nachbarn, wurde dafür aber in Sachen Wirtschaftskraft 2013 nur noch von Mecklenburg-Vorpommern unterboten. Des Thüringers Paradies ist ein bewohntes Mahnmal verfehlten sozialistischen Städtebaus, das drohend über der A4 thront, und nicht Carl Zeiss Jena, sondern Edeka ist größter Arbeitgeber der Region. Klein sind die Ansprüche, halbhoch die Berge und wirklich groß nur die Klöße. Es könnte egal sein, wer hier regiert, der Einfluss eines thüringischen Ministerpräsidenten auf die Bundespolitik ist kaum größer als der des Bürgermeisters einer mittleren westdeutschen Großstadt.
Aus Joachim Gaucks gänzlich unpräsidialer Reaktion auf die Möglichkeit, Thüringen könne in Zukunft von einer rot-rot-grünen Koalition unter einem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow regiert werden, spricht also nicht die Sorge um das einstige ostdeutsche Urlaubsparadies für Ski-Langläufer. Es ist vielmehr die Angst vor dem Präzedenzfall, denn um den zu schaffen, ist die Provinz immer gut. Die erste rot-grüne Koalition bildete sich 1985 in Hessen, die erste rot-rote 1998 in Mecklenburg-Vorpommern. Ersteres Modell schaffte es 13 Jahre später, eine Bundesregierung zu stellen, letzteres gilt zwar immer noch als anrüchig, wurde aber sogar in der Hauptstadt fast zehn Jahre lang praktiziert, ohne dass irgendjemandem eine nennenswerte Veränderung aufgefallen wäre.
Auch von der rot-rot-grünen Koalition in Thüringen sind keine revolutionären Neuerungen zu erwarten. Der brave Gewerkschafter Bodo Ramelow wird weder Carl Zeiss Jena noch Edeka verstaatlichen. Er wird das Burschenschaftsdenkmal in Eisenach nicht abreißen lassen und nichteinmal seine Intimfeinde aus dem Landesamt für Verfassungsschutz vor die Tür setzen. Die Würste bleiben krumm, die Klöße dick und rund.
Der mögliche Präzedenzfall, der dem Bundespräsidenten solches Bauchweh bereitet, ist nur vorgeblich der, dass ein Mitglied der Linkspartei Ministerpräsident werden kann. Selbst in den ostdeutschen Provinzen wird das auch künftig wohl eher die Ausnahme bleiben, und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Partei eines Tages den Kanzler stellen könnte, geht gegen null. Schwer im Magen liegt dem Präsidenten in Wahrheit die Möglichkeit rot-rot-grüner Koalitionen, ganz gleich, welche der drei Parteien dabei die Nase vorn hat. Schließlich hätte eine solche Koalition auch schon nach den Bundestagswahlen der Jahre 2005 und 2013 eine Mehrheit gehabt.
Dass sie sich jedoch auch weiterhin als unberechtigt erweisen wird, dafür sorgt zuverlässig die Bundes-SPD. Denn letztlich herrscht zwischen den westdeutschen Sozialdemokraten und dem von ihnen inthronisierten Gauck Einigkeit darüber, dass artgerechte Haltung für Deutsche auf Dauer nur unter CDU-Führung zu gewährleisten ist, ganz gleich welche Modelle die beiden sozialdemokratischen Parteien in den ostdeutschen Provinzen miteinander ausbaldowern. Mag der derzeitige Vorsitzende auch einen gesegneten Appetit darauf haben, die SPD gegen das Gezeter der kompletten neoliberalen Medienlandschaft aus dem Lobbyistenkerker zu befreien, in dem sie von Gerhard Schröder und Franz Müntefering angekettet wurde – dieser Kloß wäre auch einem Sigmar Gabriel zu groß.