Die Goethe-Universität in Frankfurt wird 100

Eine Straße namens Horkheimer

Wie die Goethe-Universität in Frankfurt am Main die Feierlichkeiten zu ihrem 100jährigen Bestehen nutzt, um ihr Image aufzupolieren.

Der Turm stürzt ein, Halleluja, der Turm stürzt ein«, sang Rio Reiser einst auf dem Album »IV« von Ton Steine Scherben. Ähnliches dürfte den Mitgliedern des Präsidiums der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main durch den Kopf gegangen sein, als Anfang des Jahres der AfE-Turm, das Gebäude der »Abteilung für Erziehungswissenschaften«, gesprengt und damit das Ende des Campus Bockenheim eingeläutet wurde. Das 116 Meter hohe Gebäude, gebaut im Stil des Brutalismus, war für viele Generationen Frankfurter Studierender Inbegriff eines Bildungswegs, der zumindest noch etwas Zeit und Raum für die Aneignung und Entwicklung kritischen Denkens zu ließ. Doch damit soll nun Schluss sein, schließlich befindet sich der Umbau der fordistischen zur neoliberalen Massenuniversität spätestens seit der Bologna-Reform in vollem Gange. Dieser Schritt wird in Frankfurt räumlich mit dem Umzug in den »IG-Farben-Campus« vollzogen. Die Grundlage dafür schuf man bereits vor gut 20 Jahren, als sich die Goethe-Universität entschloss, ihre interne Struktur zu reformieren und an ihrer Außendarstellung zu arbeiten. Ganz im Sinne der Betriebswirtschaftslehre ging es darum, die Universität zu einem Global Player im europäischen Wissenschaftswettbewerb zu machen, zu einem anziehungskräftigen Standort. Doch ein »Harvard am Main«, wie es dem scheidenden Universitätspräsidenten Werner Müller-Esterl vorschwebt, ließ sich auf dem Gelände des wenig repräsentativen Campus Bockenheim mit seinen vom Architekten Ferdinand Kramer geprägten funktionalistischen Bauten nur schwer verwirklichen. Parallel zu den Überlegungen, mit dem gesamten Campus umzuziehen, wurden Pläne erarbeitet, die Universität in eine vom Land Hessen weitgehend unabhängige Stiftungsuniversität zu verwandeln. Im sogenannten Hochschulentwicklungsplan aus dem Jahr 2001 ist demnach auch als Ziel formuliert, »auf der Basis eines breiten Fächerspektrums in zukunftsweisenden Schwerpunkten in Forschung und Lehre Spitzenleistungen zu erbringen und eine Führungsposition in der Bildungslandschaft zu erreichen«. Die neugewonnene finanzielle Autonomie beschleunigte die Entwicklung der Institution zu einem privatkapitalistischen Akteur. Den Grundstock des Kapitals der neuen Stiftungsuniversität bildete zunächst der Erlös aus dem Verkauf des Geländes des Campus Bockenheim an die stadteigene ABG-Holding, die auf dem »Kulturcampus« genannten Arreal kulturelle Institutionen ansiedeln und vor allem hochpreisige Miet- und Eigentumswohnungen bauen will. Die Rede von der finanziellen Unabhängigkeit der Stiftungsuniversität ist offenkundig irreführend, da die Hochschule lediglich von den begrenzten finanziellen Mitteln des Landes unabhängig geworden ist, sich darüber hinaus aber weiterhin finanzieren muss. Dies geschieht zum Teil durch sogenannte Drittmittelfinanzierung, die eine enge Kooperation mit der Wirtschaft und eine Öffnung für die jeweiligen Ansprüche der privaten Geldgeber an die Forschung und Lehre der Universität mit sich bringt. Um für privatkapitalistische Interessen oder, wie es im offiziellen Sprachgebrauch der Goethe-Universität euphemistisch heißt, für potentielle Förderer interessant zu sein, war es notwendig, ein Image zu entwickeln, mit dem sich gezielt Werbung machen lässt.
Der erste wichtige Schritt in diese Richtung ist der etappenweise Umzug der Universität auf den neuen Campus im Frankfurter Stadtteil Westend, mit dem im Jahr 2001 begonnen wurde. Der neue Campus befindet sich auf dem Gelände des ehemals größten deutschen Konzerns, der IG Farben AG, deren 1931 vom deutschen Architekten Hans Poelzig errichteter Firmensitz das heutige Hauptgebäude der Universität beherbergt. Das 250 Meter lange, im Kreisbogenausschnitt gebaute und durch sechs radial angeordnete Querflügel durchsetzte Gebäude befindet sich auf einer Anhöhe, wie Heike Heer in der Frankfurter Studierendezeitschrift diskus schreibt, den Eindruck eines festungsartigen Baus »mit feudaler Attitude, der sich hoheitsvoll vor der Stadt zurückzieht«, noch einmal zusätzlich verstärkt. Mit diesem Gebäude hatte die Universität also genau das gefunden, wonach sie gesucht hatte: einen repräsentativen Bau, der sowohl ihren »Führungsanspruch in der Bildungslandschaft« zum Ausdruck bringen, gleichzeitig den Studierenden aber auch signalisieren sollte, dass die Zeiten eines interessengeleiteten Studiums nun endgültig vorbei sind. Die der universitären Ausbildung sowieso schon immer innewohnende Marktrationalität materialisiert sich nun auch in der Architektur der Universität.
Doch die Etablierung des »schönsten Campus Deutschlands«, wie er seither in sämtlichen Publikationen der Goethe-Universität heißt, verlief nicht immer so reibungslos, wie sich die Unileitung das wohl gewünscht hätte. Von den Studierenden musste die Universität immer wieder dazu gezwungen werden, sich mit der Geschichte des von ihr neu genutzten Gebäudes auseinanderzusetzen, um über die Jahre hinweg überhaupt erst eine Form des Gedenkens zu ermöglichen. Schließlich handelte es sich bei der IG Farben AG nicht um irgendeinen beliebigen Konzern, sondern von Anfang an um einen großen Unterstützer und Profiteur des NS-Regimes. Der Konzern betrieb ab 1942 als erstes Industrieunternehmen ein eigenes Lager, Buna-Monowitz beziehungsweise Auschwitz III, welches Zwangsarbeiter aus dem nahegelegenen Konzentrationslager Auschwitz zugewiesen bekam. Die »Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung« (DeGeSch), eine Tochtergesellschaft des Unternehmens, stellte das in den Konzentrationslagern eingesetzte Vernichtungsmittel Zyklon B her.
Kurz vor der Eröffnung des neuen Campus war im Jahr 2001 vor dem Hauptgebäude des IG-Farben-Hauses eine Gedenktafel angebracht worden – bei der der damalige Präsident Rudolf Steinberg den wenigen Überlebenden jedoch keine Möglichkeit bot, selbst zu Wort zu kommen. Ein paar Jahre später wurde eine Dauerausstellung im Inneren des Gebäudes installiert. Danach sollte es noch einmal bis zum Jahr 2008 dauern, bis in einem ehemaligen Pförtnerhäuschen am Rande des Geländes das »Wollheim-Memorial« eröffnet wurde, in dem sich seitdem ein Gedenk- und Dokumentationszentrum für die Opfer des Konzernes befindet. Benannt ist es nach Norbert Wollheim, einem Überlebenden des Konzentrationslagers Buna-Monowitz, welcher in den fünfziger Jahren die erste Musterklage eines ehemaligen Zwangsarbeiters gegen ein deutsches Industrieunternehmen erhob und Schadensersatz und nicht gezahlten Arbeitslohn verlangte. Der Prozess führte letztlich dazu, dass es 1958 zu einem Globalvergleich kam, der die IG Farben AG dazu verpflichtete, 30 Millionen D-Mark an ehemalige Zwangsarbeiter des Konzerns zu zahlen.
Pünktlich zu ihrem 100jährigen Jubiläum kommt die Universität nun, im Jahr 2014, einer Forderung nach, die schon vor zehn Jahren von Überlebenden, Studierenden und einzelnen Lehrenden formuliert und deren Erfüllung seitdem immer wieder angemahnt worden ist: die Umbenennung des Grüneburgplatzes, der postalischen Anschrift der Universität, in Norbert-Wollheim-Platz. Der scheidende Präsident der Universität, Werner Müller-Esterl, der sich Anfang des Jahres noch unter fadenscheinigen Gründen ausdrücklich gegen eine Umbenennung ausgesprochen hatte, lässt nun in der Frankfurter Rundschau verlauten, dass die Institution sich mit der Umbenennung im Jubiläumsjahr »nicht nur mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzt, sondern sich als Nutzer der Liegenschaften des ehemaligen IG-Farben-Konzerns auch der kritischen Aufarbeitung dieser Konzerngeschichte verpflichtet« sehe.
Doch erst als der öffentliche Druck zu groß wurde, um ihn weiterhin ignorieren zu können, wurde der zehn Jahre alten Forderung nachgegeben. Ganz in der Tradition deutscher Geschichtsaufarbeitung wird dies nun als Akt der Selbstreflektion dargestellt, um mit dem Hinweis auf die eigene vorbildliche Vergangenheitsbewältigung zukünftige Diskussionen über die Rolle der Goethe-Universität während des Nationalsozialismus beenden zu können. Wobei es hier wahrlich genug Stoff gäbe, mit dem diese sich ernsthaft auseinandersetzen könnte.
Beispielhaft sei hierfür nur das sogenannte Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene genannt, welches 1935 auf Initiative der Universitätsleitung und des Fachbereichs Medizin gegründet wurde. Dort hatte Josef Mengele ab 1937 als Assistent des Institutsleiters, Professor Otmar Freiherr von Verschuer, gearbeitet, promoviert und die Möglichkeit bekommen, erste Vorarbeiten für seine späteren Experimente an Menschen in Auschwitz zu machen.
Doch mit solchen für die eigene Reputation eher unvorteilhaften Geschichten lässt sich schlecht um die begehrten Drittmittel und Exzellenzcluster werben. Da begnügt sich die Universitätsleitung doch lieber damit, einen längst überfälligen Akt des Gedenkens als ihren großen Verdienst und sich selbst damit als Aufarbeitungsweltmeister darzustellen. Zum Jubiläumsjahr hatte das Gremium übrigens auch noch eine weitere Überraschung parat. Ohne dass irgendjemand es dazu aufgefordert hätte, ließ es verkünden, dass zugleich mit der Umbenennung des Grüneburgplatzes ein zentraler Platz auf dem neuem Campus nach Theodor W. Adorno sowie eine Zufahrtsstraße nach Max Horkheimer benannt werden sollen. Solange das Harvard am Main also noch keine neuen international bekannten Namen hervorgebracht hat, werden die berühmtesten Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule wohl noch eine Zeit lang als Maskottchen für das Werben um Fördermittel herhalten müssen.