Die düstere Musik von Pharmakon

Körper ist Kopfsache

Mit ihrer Musik geht sie bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Auf »Bestial Burden« verarbeitet Pharmakon ihre Krankheit.

Es ist dunkel im Berghain. Auf der Bühne wühlen sich die älteren Herren der experimentellen Rockband Swans durch ihre ellenlangen Songs. Als sich eine junge Frau ihren Weg durch das Publikum bahnt, um sich das Konzert der legendären Band von der Seite aus anzusehen, beachtet sie kaum jemand. Gut möglich, dass die meisten sie nicht einmal erkennen. Dabei stand sie gerade noch selbst auf dieser Bühne und beeindruckte die Besucher mit infernalischem Krach. Der Jubel am Ende ihres Auftritts war ebenso laut wie die Musik selbst.
Der Berliner Club ist wie geschaffen für die Musik der jungen New Yorkerin Margaret Chardiet, die den meisten besser als Pharmakon bekannt ist. Die kühle Gebrauchsarchitektur des ehemaligen Heizkraftwerks passt zu ihrer Musik, deren harsche Ästhetik sich zwischen Noise und Dark Industrial bewegt. Während Chardiet ihre Songs aus Loops, entfremdeten Schreien, Melodiefragmenten und stumpfen Beats zusammenschraubt, quillt ein mächtiger Bass aus den riesigen Lautsprechertürmen. Er macht die Musik von Pharmakon zu dem, was sie vor allem sein soll: eine körperliche Erfahrung.
Dass es sich bei Musik um Schwingungen handelt, die den Körper in Bewegung versetzen, braucht man den Clubbesuchern nicht zu erzählen. Und doch existiert ein Unterschied zwischen Chardiets Sound und dem, was hier an den meisten Abenden aus den Boxen wummert. Während Techno und House zwar auf der Tanzfläche physisch erfahrbar sind, könnte ihre Produktion kaum unkörperlicher vonstatten gehen. Ihre markerschütternden Schreie hingegen scheint Chardiet direkt ihrem Leib zu entreißen – nicht nur während ihrer Liveauftritte.
Die Aufnahmen zu »Bestial Burden«, ihrem jüngsten Album, seien tatsächlich eine sehr körperliche Angelegenheit gewesen, sagt Chardiet. »Ich habe bei dieser Platte zum ersten Mal mit jemandem zusammengearbeitet, der sich um die technische Seite der Aufnahmen gekümmert hat«, erzählt sie. »So konnte ich mich voll und ganz auf die Körperlichkeit der Performance konzentrieren.« Eine Herangehensweise, die sich gelohnt hat – »Bestial Burden«, dessen Artwork aus Bildern toter Tiere und Maden besteht, ist noch schlüssiger als »Abandon«, das vorangegangene und von der Kritik gefeierte Album. Chardiet verarbeitet auf »Bestial Burden« eine Episode, die sie selbst vor rund einem Jahr durchlebt hat. Kurz vor der geplanten Tour durch Europa wurde eine zwölf Zentimeter lange Zyste an einem ihrer Organe entdeckt. Die Situation war ernst, der Gedanke an den Tod plötzlich alles andere als abstrakt.
Ihr Wortlaut ist unter all dem Lärm oft schwer zu identifizieren. Dass Chardiet es aber ernst meint, daran besteht kein Zweifel. All das Düstere und Morbide in ihrer Musik ist nicht aufgesetzt, keine Geste. Chardiet vermittelt den Eindruck, viel von sich preiszugeben.
Vielleicht liegt darin das Geheimnis ihres Erfolgs. Während die meisten anderen Künstler, deren Musik zwischen Noise und Industrial oszilliert, Kassetten in Kleinstauflagen veröffentlichen und mit Glück vor zwei Dutzend Zuschauern in Galerien auftreten, finden sich bei Pharmakon Hunderte, gar Tausende von Konzertbesuchern ein. Chardiet macht ihre Musik Hörern zugänglich, die ansonsten von harter und brutaler Ästhetik abgeschreckt werden. Das ist nur wenigen gelungen, Throbbing Gristle etwa oder Merzbow.
Eine Erklärung dafür hat Chardiet nicht. Und eigentlich ist ihr die Frage auch unwichtig: »Ich denke darüber nicht wirklich nach«, sagt sie, »ich mache diese Musik schon seit sieben Jahren, habe mich nie besonders verändert oder angepasst. Warum sich nun plötzlich mehr Leute für Pharmakon interessieren, kann ich nicht sagen.« Und doch ist Chardiet längst nicht die einzige, die derzeit mit düsterer Musik erfolgreich ist. Auch Swans, mit denen sie schon mehrfach getourt ist, spielen heute vor einem größeren Publikum als in den achtziger Jahren. Und selbst Black-Metal-Bands werden seit einigen Jahren gefeiert.
»Viele haben keine Lust mehr auf Lieder, die nur von Autos, Pussies und Besoffensein handeln. Vielleicht wünschen sie sich eine Musik, die mehr Bedeutung hat«, versucht sie im zweiten Anlauf doch eine Erklärung zu finden. »Gegenwärtig ist die Welt ein düsterer Ort. Vielleicht finden einige Menschen Trost oder Bestätigung in einer Musik, die ebenfalls düster ist.« Pharmakon ist aber nicht nur düster, die Musik geht an die Grenzen der Belastbarkeit. Für beide Seiten: So unangenehm es ist, einen Song wie »Primitive Struggle« zu hören, in dem offenbar jemand seine letzten Gallereste kotzt, so unangenehm war es sicherlich auch, diese Laute aus sich herauszuholen und aufzunehmen.
Die wahre Brutalität der Musik jedoch liegt in ihren Inhalten, darin, wie menschliche Urängste thematisiert und wie die Person Margaret Chardiet in fast schamloser Weise offengelegt werden. »Sicher ist meine Musik extrem und radikal«, sagt Chardiet. »Aber nicht in dem oberflächlichen Sinn, wie diese Begriffe üblicherweise verwendet werden. Viele Menschen sagen ›extrem‹ und meinen damit nichts anderes als laut. Mir geht es eher um extreme Erlebnisse und Erfahrungen. Meine Musik ist radikal, weil ich versuche, Menschen in offener und ehrlicher Weise mit Ding0en zu konfrontieren, über die sie eigentlich nicht nachdenken wollen.«
Ob ihr das immer gelingt, sei dahingestellt. Für viele, das weiß Chardiet selbst, ist sie nur eine junge Frau mit langen, blonden Haaren, die auf der Bühne steht, schreit und im Anschluss unerkannt zur Bar geht. Wer sich nicht auf ihre Musik einlassen kann, wird wenig mehr als rhythmischen Lärm und schmerzverzerrtes Geschrei hören. Pharmakon funktioniert dann am besten, wenn ihr Sound körperlich erfahrbar wird – aber nur, wenn der Kopf es zulässt.

Pharmakon: Bestial Burden (Sacred Bones/Cargo Records)