Ismail Küpeli im Gespräch über den Aufstieg des Islamischen Staats

»Türkei duldet IS-Strukturen«

Der Islamische Staat (IS) ist immer noch nicht geschlagen. Doch wie konnte er überhaupt so mächtig werden? Die Jungle World sprach mit Ismail Küpeli über die Bedeutung Syriens und der Türkei für den Aufstieg des IS. Küpeli ist Politikwissenschaftler, Aktivist und Autor. Er beschäftigt sich mit der autoritären Entwicklung in der Türkei unter der AKP-Regierung und der Politik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung.

Die Türkei scheint sich nach langem Widerstand bereit erklärt zu haben, kurdische Kämpfer über ihre Grenze in die vom IS bedrohte Stadt Kobanê zu lassen. Ist das eine Wende in der Politik der türkischen Regierung gegenüber dem IS?
Nein, das ist keine Wende. Vielmehr gab es seit etwa sechs Monaten eine langsame Bewegung, seit der Sommeroffensive des IS im Nordirak und der Geiselnahme türkischer Diplomaten in Mossul durch den IS. Der IS hat sich durch die Eroberung der Erdölquellen im Nordirak sehr große ­finanzielle Einnahmen sichern können, womit eine größere Eigenständigkeit gegenüber den bisherigen Unterstützern des IS, etwa den arabischen Golfstaaten und der Türkei, einhergeht. Dies erklärt auch die Geiselnahme und bedeutet, dass die Türkei den IS nicht mehr als bloßes Werkzeug gegen das Regime Bashar al-Assads und die Kurden in Nordsyrien nutzen kann.
Es gab in der Vergangenheit immer wieder ­Berichte über Kooperationen zwischen türkischen Behörden und dem IS. Wie seriös sind solche Nachrichten?
Insbesondere in der türkischsprachigen Presse gibt es sehr viele Meldungen über eine solche Kooperation, mit unterschiedlicher Seriösität. Die Unterstützung von bewaffneten Rebellen in Nordsyrien, islamistische Gruppen eingeschlossen, wird nicht einmal seitens der türkischen Regierung bestritten. Es gibt Beweise, dass der türkische Geheimdienst Waffenlieferungen an Kämpfer in Nordsyrien organisiert. Weniger gesichert sind die Meldungen über eine direkte Kooperation zwischen der Türkei und dem IS. Aber zumindest die Duldung von IS-Strukturen in der Türkei ist belegt. Unter anderem gibt es Rekrutierungsbüros in Istanbul und Ausbildungslager im Grenzgebiet und die Türkei wird als Rückzugsgebiet genutzt, etwa durch medizinische Versorgung der IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern.
Lange vor dem Machtantritt der AKP-Regierung wurden in der Türkei Islamisten im Kampf gegen Linke, Gewerkschafter und Oppositionelle eingesetzt. Können Sie dazu einige Beispiele nennen?
Die türkisch-kurdische Hizbollah, die nicht mit der allgemein bekannten libanesischen Hizbollah verwechselt werden sollte, wurde in den neunziger Jahren im Rahmen des schmutzigen Krieges gegen die PKK und alle oppositionellen Kräfte eingesetzt. Die Hizbollah ist nur eine der Organisationen und Netzwerke, die als Todesschwadronen und Terrororganisationen eingesetzt wurden. Beispiele für die Aktionen solcher Gruppen reichen von Entführung, Folter und Hinrichtung von einzelnen Personen, etwa Journalisten, Menschenrechtlern und vermeintlichen PKK-Sympathisanten, bis hin zu Massakern an der kurdischen Landbevölkerung.
Könnte man eine Linie von der türkischen ­Hizbollah, einer sunnitisch-islamistischen Organisation, zum IS ziehen?
Eine solche Linie wird von PKK-nahen Akteuren gezogen; ich finde dies wenig überzeugend. Die Hizbollah wurde in den vergangenen Jahren als bewaffneter Akteur weitgehend ausgeschaltet und hat sich als politische Partei neu formiert. Dies geht auch darauf zurück, dass bis vor kurzem zwischen der türkischen Regierung und der PKK ein sogenannter Friedensprozess stattfand, in dem Organisationen wie die Hizbollah keinen Platz hatten. Der IS ist eine neue Entwicklung und hat mit der Hizbollah der Neunziger wenig Verbindungen.
Sie bezeichnen den IS als eine Frucht des syrischen Bürgerkriegs nach der Niederlage der demokratischen zivilen Opposition. Welchen Anteil hatte das syrische Regime am Aufstieg des IS?
Nach der Niederschlagung der friedlichen Oppositionsbewegung durch das Assad-Regime haben bewaffnete Rebellengruppen innerhalb der Anti-Assad-Opposition die Oberhand gewonnen. Die brutale Repression des Regimes hat dazu geführt, dass bald nur noch wenige daran glaubten, auf friedlichem Wege das Regime stürzen zu können. Die weitere Entwicklung der verschiedenen bewaffneten Rebellengruppen geht darauf zurück, wer welche externe Unterstützung mobilisieren konnte – also Kämpfer, Waffen, Geld. Hier kam die Koalition der arabischen Golfstaaten und der Türkei ins Spiel, die insbesondere islamistische Gruppen unterstützt haben, die nach und nach säkulare Kräfte verdrängt haben. Aus diesem is­lamistischen Milieu stieg der IS auf – neben anderen Kräften wie der al-Nusra-Front.
Es gibt einige Stimmen, auch in der Linken in Deutschland, die angesichts der Bedrohung durch den IS eine Kooperation mit dem Assad-Regime fordern. Kann man davon reden, dass es jetzt das kleinere Übel ist?
Nein, kann man nicht. Das Assad-Regime ist nach wie vor für deutlich mehr Opfer verantwortlich und – wie zuvor angedeutet – für den Aufstieg des IS mitverantwortlich. Das Regime bombardiert Städte, lässt Oppositionelle foltern, verschwinden und ermorden. Die Brutalität des IS sollte die Gewalt des Assad-Regimes nicht vergessen lassen.
Andere Gruppen drängen auf die Unterstützung der Freien Syrischen Armee (FSA). Gibt es dort nicht auch viele undemokratische und ­islamistische Gruppen?
Die Freie Syrische Armee als ein zusammenhängender militärischer Verband existiert schon länger nicht mehr. Die einzelnen FSA-Einheiten haben sich in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Manche haben sich de facto aufgelöst, andere haben sich den Islamisten angeschlossen, wiederum andere kämpfen auf Seiten der säkularen Opposition. Kleinere Einheiten kämpfen sogar gemeinsam mit den kurdischen YPG-Einheiten gegen den IS. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass derzeit in Kobanê frühere und derzeitige FSA-Kämpfer auf beiden Seiten stehen.
Viele Linke sehen in den Kurdinnen und Kurden, die gegen den IS kämpfen, endlich wieder eine linke Alternative im Syrienkonflikt, die unterstützenswert ist. Hat dieser Optimismus eine reale Grundlage?
Es findet sicherlich eine gewisse Romantisierung statt; nicht zu übersehen etwa an den Plakaten, auf denen ikonenhaft kurdische Kämpferinnen abgebildet werden. Aber trotz aller Skepsis ist Rojava in Nordsyrien innerhalb des syrischen Bürgerkrieges eine der ganz wenigen demokratischen Zonen. Die PYD versucht – sei es aus Not oder aus einer basisdemokratischen Orientierung heraus – alle Bevölkerungsgruppen in Nordsyrien in die politischen Strukturen einzubinden, einschließlich über Quoten für Frauen und einzelne Bevölkerungsgruppen. Massaker an Zivilisten, Hinrichtung von Oppositionellen und brutale Repression, die leider in anderen Regionen Syriens zum Alltag geworden sind, finden unter der PYD-Herrschaft nicht statt. Dies ist für syrische Verhältnisse schon sehr viel.
Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Christine Buchholz, musste viel Häme und Kritik einstecken, weil sie sich bei Facebook mit einem Schild zeigte, auf dem sie sich für Solidarität mit den Kurden in Kobanê, aber gegen US-Bombardements aussprach. Ist es nicht tatsächlich Aufgabe einer Linken, Alternativen zur Militärpolitik zu fordern?
Das Problem mit dem Buchholz-Schild war nicht die grundsätzliche Kritik an westlichen Militär­interventionen. Diese Kritik formulieren viele. Sondern es ging um eine vermeintliche solidarische Bezugnahme auf die Verteidiger von Kobanê, wobei Buchholz völlig unterschlagen hat, dass genau diese Menschen die US-Luftangriffe herbeigewünscht und begrüßt haben. Und zwar als eine Rettungsmaßnahme, als die Gefahr, dass Kobanê vom IS erobert werden könnte, am größten war. Über Antiimperialismus lässt sich ja streiten, über Heuchelei weniger.
Wenn die Frage wäre, ob Organisationen wie der IS sich allein durch militärische Maßnahmen, sei es durch YPG-Kämpfer oder durch US-Luftangriffe, aus der Welt schaffen lassen, dann ist die Antwort: Natürlich nicht. Ohne eine demokratische Lösung für Syrien, in der alle Bevölkerungsgruppen friedlich koexistieren dürfen, kann vielleicht der IS besiegt werden – aber nur um vom nächsten reaktionären Gewaltakteur abgelöst zu werden.