Die Geschichte und Bedeutung der GDL

Allein in der deutschen Streikwüste

Zur Geschichte der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und über ihre früheren und heutigen Feinde.

Am Freitag vergangener Woche, am dritten Streiktag der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), schwärmten Teams der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) rund um den Kölner Hauptbahnhof aus und verteilten Schokolade an Bahnmitarbeiter, die sie an den Gleisen, Schaltern und in Büroräumen aufsuchten. Auf Kitekat-Riegel hatte die EVG den Slogan »Wir leben Gemeinschaft« geklebt; eine Schachtel »Milka-Dankeschön« war verziert mit dem Spruch: »Wir stehen solidarisch zu euch«. Dazu erhielt das Bahnpersonal ein Flugblatt, in dem der EVG-Vorstand noch einmal betonte, was durch die Berichterstattung in den Medien zum Allgemeingut geworden schien: Der GDL gehe es »allein um Macht und Einfluss«. Ganz anders stellte sich die EVG dar: »Wir lassen unsere Kolleginnen und Kollegen nicht allein.« GDL-Mitglieder bekamen Austrittserklärungen in die Hand gedrückt; EVG-Mitgliedsanträge wurden verteilt. Die unsolidarische Ak­tion wurde mit den Worten begleitet: »Die bewusste Konfrontation muss ein Ende haben und damit auch die Spaltung der Belegschaft.« Ob diese plumpe Rhetorik, gepaart mit aggressiver Mitgliederwerbung und Schokolädchen, bei den Bahnmitarbeitern verfängt, darf bezweifelt werden. Hier wollen Leute punkten, die eher zum Problem gehören als zur Lösung.
Die EVG entstand aus der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED), die sich 2000 in Transnet umbenannte und 2010 mit der stetig schrumpfenden Beamtengewerkschaft GDBA fusionierte. Obwohl die EVG seit jeher Mitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds ist, unterscheidet sie sich doch erheblich von Industriegewerkschaften wie der IG Metall. Sie legt keinen besonderen Ehrgeiz an den Tag, über die Deutsche Bahn AG (DB) hinaus Belegschaften zu organisieren. Sie ist aus einem Staatsbetrieb entstanden, dessen Personal aus Beamten ohne Streikrecht bestand. Auch wenn diese Bahn längst grundlegend reformiert wurde, haben sich in der EVG sowohl die friedliche Beamtenmentalität als auch ein traditionell enges Verhältnis der Gewerkschaftsbosse zu den Unternehmen offenbar gehalten. Sie dürfen als prägend für diese Gewerkschaft gelten.
Heute ist die DB nur noch insofern ein Staatsbetrieb, als ihre Aktienmehrheit dem Bund gehört. Sie wird vom ehemaligen Daimler-Benz-Manager Rüdiger Grube für ein Jahressalär von 3,7 Millionen Euro geleitet. Die DB ist nach der klassischen Formel neoliberaler Privatisierung in eine Holding umgewandelt, in ein undurchdring­liches Gestrüpp aus Tochter- und kaskadierenden Subunternehmen aufgespalten und durch nationale wie internationale Zukäufe ergänzt worden. Dieses Dickicht bietet die dauerhafte Grundlage für eine hoch bezahlte Dienstleisterszene aus Unternehmensberatern, Rechnungsprüfern, Steuerberatern, Wirtschaftskanzleien. Betriebswirtschaftlich macht das vor allem deshalb Sinn, weil es die Organisierbarkeit und Steikfähigkeit der Belegschaft systematisch aushebelt, was sich in sinkenden Löhnen und steigendem Arbeitsdruck niederschlägt.
Jedes der rund 900 Tochterunternehmen der DB hat außerdem eigene Vorstände und Aufsichtsräte. Hier gibt es ein beinahe unbegrenztes Betätigungsfeld – auch für Multi-Funktionäre von Bahngewerkschaften. Bereits früher gab es einen personellen Verschiebebahnhof von der GdED ins Ministerium, so wurde Norbert Hansen (SPD), der damalige Vorsitzende von Transnet und ein Freund von Gerhard Schröder, am 15. Mai 2008 zum Arbeitsdirektor der Deutschen Bahn AG ernannt. Hansen war der Nachfolger von Margret Suckale, die in den Medien als unbeugsame Gegenspielerin im GDL-Streik 2007 dargestellt worden war. Transnet unter Hansen war hingegen die vermutlich einzige Eisenbahngewerkschaft der Welt, die die Privatisierung ihres Unternehmens nicht einmal halbzerzig bekämpfte, sondern offiziell begrüßte und durch intensiven Lobby­ismus voranzutreiben suchte. Hansens Wechsel vom Gewerkschaftsboss zum Personalverantwortlichen führte zu großer Empörung. Nachdem Hartmut Mehdorn, Vorstandsvorsitzender der DB AG, den skandalgeplagten Konzern aufgrund von Presseberichten über systematischer Bespitzelung, Rasterfahndung gegen Mitarbeiter und Datenmissbrauch im April 2009 hatte verlassen müssen, ließ sein Nachfolger Rüdiger Grube zum Amtsantritt erst einmal Köpfe rollen. Die Manager Norbert Bensel, Margret Suckale und der CSU-Mann Otto Wiesheu wurden regelrecht gefeuert; Hansens plötzliches Ausscheiden im Mai 2009 wurde mit einer ernsthaften Erkrankung begründet.

Nicht alles klappte bei der deutschen Bahn. Vergleicht man ihren Werdegang mit den ehemaligen Staatsbetrieben Post/DHL und Telekom, lief die Privatisierung nicht reibungslos. Der geplante Börsengang musste nach der Weltfinanzkrise von 2008 für unbestimmte Zeit aufgeschoben werden. Die Bedenken gegen eine Kaputtsanierung der Eisenbahn nach britischem Vorbild fanden im Bündnis »Bahn für alle« eine Stimme. Das strategische Ziel, die GDL zwischen 2007 und 2008 als veralteten Restbestand quasi nebenbei zu entsor­gen,wurde vollständig verfehlt. Die älteste deutsche Gewerkschaft, die 1867 als Verein Deutscher Lokomotivführer gegründet worden war, erwachte nicht zuletzt durch das anmaßende Auftreten von Transnet und Bahnmanagement aus einem jahrzehntelangen Schlaf. Unter dem Vorsitz des CDU-Mitgleids Manfred Schell setzte die GDL im Tarifkonflikt ab 2007 Maßstäbe für die Gewerkschaften in Deutschland, das sich seit 1992 als Streikwüste darstellte. Schells Stellvertreter, Claus Weselsky, der im selben Jahr in die CDU eintrat, bot man 2007 den Posten des DB-Personalvorstands an. Er lehnte ab. Eine scheinbar veraltete Berufsgewerkschaft, geleitet von Christdemokraten, gibt seither in Deutschland praktischen Anschauungsunterricht in Sachen Streik und gewerkschaftlicher Organisation. Aber so unmodern, wie sie wirkte, war die GDL vielleicht gar nicht. Sie organisierte recht bald auch Straßenbahn- und S-Bahn-Fahrer in München und Berlin, sie erweiterte sich bereits seit 2002 systematisch im Sinne einer Industriegewerkschaft und nahm Zugbegleiter auf.

Während Hansen nur noch eine Randnote in der langen deutschen Gewerkschaftsgeschichte ist, stieg ein weiterer Gegner der GDL seit 2007 auf: Thomas Ubber ist durch sein Engagement gegen Streiks und Gewerkschaften zum unangefochtenen Star der deutschen Arbeitsrechtsanwälte auf Unternehmerseite geworden. Als er 2011 von der Kanzlei Lovells zu Allen & Overy wechselte und seinen langjährigen Weggefährten Hans-Peter Löw mitnahm, begeisterte das die Wirtschaftspresse ebenso wie juristische Fachzeitungen. Allen & Overy gehören zu den mächtigsten Londoner Kanzleien, Deutschland bildet inzwischen einen ihrer wichtigsten Märkte weltweit. Ubber wurde nach kurzer Zeit zum Leiter des weltweiten Arbeitsrechtsteams von Allen & Overy und zum »Managing Partner Deutschland«, einer Art Geschäftsführer. Er schaffte es, zwei nahe beieinander liegende Felder der Juristerei für sich zu monopolisieren: den Kampf gegen Streiks und den Kampf gegen Gewerkschaften vor allem in der Transportbranche. Hier stehen den Konzernen mit berufsständischen Gewerkschaften wie Cockpit, GDL, UFO und GdF unangenehme, schlagkräftige Kontrahenten gegenüber. Umso dankbarer ist man für die Dienste eines Experten, der »flexibel und kenntnisreich« ist und »exzellente Lösungen« findet. Manfred Schell fand im Oktober 2007 andere Worte: »Prozesshanselei« durch »Dreck­säcke«. Es ging um Versuche, den Lokführerstreik vom Arbeitsgericht Chemnitz verbieten lassen, was für den Fern- und Güterverkehr auch gelang und nur im Nahverkehr scheiterte.
Für einen Verbund aus Fraport, Lufthansa, Air Berlin, Condor und der Deutschen Flugsicherung versuchte Ubber außerdem, horrende Schadensersatzforderungen aufgrund von Streiks oder Streikankündigungen durchzusetzen.

Dabei ist Thomas Ubber keineswegs nur ein ­Gegner von berufsständischen Gewerkschaften. Als die IG Metall 2011 Speditionen und Logistik-Betriebe in der Automobilbranche organisierte, um ihre Durchsetzungskraft zu erhöhen, riet Ubbers den Arbeitgebern in einem Gastkommentar der Deutschen Verkehrszeitung, sie »sollten sich frühzeitig auf mögliche Aktivitäten anderer Gewerkschaften vorbereiten«, um den Bemühungen der IG Metall durch »punktuelle Verbesserung« den Wind aus den Segeln nehmen. Seine Vorschläge klingen nach union busting US-amerikanischer Schule: Es sei wichtig »den Organisationsgrad der Belegschaft zu ermitteln« und spe­zielle Klauseln in Arbeitsverträge einzufügen, um die »Durchsetzung von Tarifregelungen« oder den Wechsel des Tarifvertrags zu verhindern.
Die Hintergrund: Die IG Metall konnte Ende 2011 beim Logistikunternehmen Schnellecke Logistics einen Tarifvertrag für rund 1 200 Beschäftigte durchsetzen. Er sah kürzere Arbeitszeiten als der von Verdi verhandelte Tarif vor.
Auch hier ist schon von Konkurrenzkampf der Gewerkschaften die Rede, diesmal aber unter Schwestergewerkschaften. Wenn DGB-Gewerkschaften sich ins Gehege kommen, konnten sie das bislang durch DGB-Schiedsgerichte regeln – was nicht ausschloss, dass auch hier schmutzige Tricks eingesetzt wurden. Während vor dem internen DGB-Gericht jene Gewerkschaft gute Karten hat, die für die besseren Tarifabschlüsse und mehr Durchsetzungskraft steht, will man auf der Seite der Arbeitgeber logischerweise, dass die schwächere Gewerkschaft obsiegt. Diese wird nach Kräften gefördert, etwa eine Hausgewerkschaft wie die EVG. Am liebsten hätte man aber gar keine Gewerkschaft und keinen Tarifvertrag. Und vor allem: keine Streiks.