Die reine Stimmung

Jeder kennt das: Man liest einen Zeitungsartikel, sei es im Internet oder auf Papier, und möchte nach der Lektüre laut aufschreien. Was für ein Unsinn! Ist der Autor noch ganz bei Trost? Typisch ahnungsloser Journalist, glaubt, er könne über alles schreiben. Und was kommt dabei raus? Schwachsinn! Es gibt selbstredend auch andere Reaktionen. Zum Beispiel, wenn das Gelesene die eigene Meinung bestätigt. Oder man findet das Geschriebene einfach spannend, anregend, informativ. Und denkt sich: guter Text. Der Schreiberling hat wirklich Ahnung. Mehr davon.
Früher konnte man ziemlich sicher sein, von derartigen Gefühlen des Lesers wenig mitzubekommen. Denn in der grauen Vorzeit der Medienwelt musste erst ein Brief an die jeweilige Redaktion verfasst werden. Mit einem Stift oder einer Schreibmaschine. Auf Papier, wohlgemerkt. Und das Ganze funktionierte nur mithilfe der Post. Da brauchte es schon viel Zorn oder Freude, um sich derartigen Mühen zu unterziehen. Folglich war die Anzahl der Meinungsbekundungen per Leserbrief recht übersichtlich.
Doch das ist lange her. Heute, im digitalen 21. Jahrhundert, kann ein Beitrag innerhalb von Sekunden kommentiert werden. Ohne jeden Aufwand ist es möglich, seinen Gefühlen Luft zu machen. Und davon wird gerne Gebrauch gemacht. Einfacher ist die Beziehung zwischen Medienmachern und Konsumenten dadurch zwar nicht geworden, aber ehrlicher. Zustimmung oder Ablehnung authentisch und in Echtzeit.
Die Kollegen bei der Bild-Zeitung haben jetzt diesen Mechanismus boulevardesk noch etwas angepasst. Unter dem Motto »Zeigen Sie Ihre Emotionen« kanalisiert man dort jetzt Volkes Stimmung – sichtbar für alle. Am Ende vieler Artikel finden sich seit kurzem fünf Buttons (Facebook lässt grüßen), die dazu ermuntern sollen, spontan seinen Gefühlen freien Lauf lassen: Lachen, Weinen, Wut, Staunen, Wow. Zusätzlich gibt es auf der Startseite von Bild.de die Kategorie »Stimmung«. Da ist gleich zu sehen, welche Themen die Nutzer gerade umtreiben.
Dass beispielsweise ein einziges Stacheltier 17 Löwen in die Flucht schlug, wurde mit vielen »Wows« goutiert. Ein Bericht über »Die zehn Geheimnisse unseres Darms« ließ viele Leser staunen. Und wütend machte sie »Die große Bahnstreikbilanz«. Wer hätte das gedacht?! Und genau das ist das Problem des Stimmungsbarometers: Wen schert’s? Was für epochale Erkenntnisse lassen sich aus dem Betätigen der fünf Buttons ziehen? Ehrlich gesagt: gar keine. Die Sache ist weitgehend sinnfrei. Ein simples Spielchen, das an Instinkte appelliert und deshalb viele Klicks bringt. Das nutzt dem Medienhaus Springer, aber Autor und Nutzer gehen leer aus. Da bleibt nur eins, liebe Leser: Bitte weiter fleißig kommentieren! Damit wir Journalisten uns ein Bild machen können.