Thomas Kuczynskis »Geschichten aus dem Lunapark«

It’s the economy, sagt Kuczynski

Bekannt wurde er vor allem mit seiner Studie über die Entschädigungsansprüche von Zwangsarbeitern: Der Ökonom und Marxist Thomas Kuczynski wird 70 Jahre alt.

Als Thomas Kuczynski am 12. November vor 70 Jahren in London geboren wurde, war die Welt in heller Aufregung. Der Zweite Weltkrieg näherte sich seinem Ende, doch welche Gräuel und Abscheulichkeiten die kommenden Monate noch für die allierten Truppen bereithielten, war nicht zu ahnen.
Thomas Kuczynski wurde als Sohn deutscher jüdischer Kommunisten im englischen Exil geboren. Seine Eltern Marguerite und Jürgen Kuczynski arbeiteten als Ökonomen und engagierten sich im Kampf gegen Nazideutschland. Sein Großvater, der berühmte linksliberale Statistiker Robert René Kuczynski, lebte ebenfalls in England und bald sollte seine Tochter Ursula, die sich als Schriftstellerin Ruth Werner nannte und als Spionin unter dem Decknamen Sonja agierte, Informationen über die amerikanische Atombombe, die sie von Klaus Fuchs erhalten hatte, an die Sowjetunion übermitteln. So ist Thomas Kuczynskis Tante gewissermaßen eine der Mütter der sowjetischen Atombombe.
In diese Familie ist er also vor 70 Jahren hineingeboren worden. Bald zog er mit seinen Eltern nach Berlin, zunächst in ihr altes Haus im Westen, dann nach Ostberlin. Vater Jürgen Kuczynski galt als designierter Wirtschaftsminister einer noch zu gründenden DDR, doch das antisemitische Klima der Stalinzeit und die Skepsis, die plötzlich all jenen entgegengebracht wurde, die ihre Exilzeit im Westen der Welt verbracht hatten, verhinderten dies.
Jürgen Kuczynski, der immer wieder für den Wirtschaftsnobelpreis im Gespräch war, wurde stattdessen eine der bekanntesten Figuren im Kulturbetrieb der DDR. Seine Kolumne über Wirtschaftsfragen, die wöchentlich in der Jungen Welt erschien und die er bis kurz vor seinem Tode im Jahr 1997 auch in der Jungle World veröffentlichte, war legendär. Sein Buch »Dialog mit meinem Urenkel« ist ein Klassiker der DDR-Literatur, wurde aber zunächst von der Zensur verhindert, bis schließlich Erich Honeker eingriff. Jürgen Kuczynskis vierzigbändige »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« und die zehnbändigen »Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften« gelten bis heute als Standardwerke. Jürgen Kuczynski bezeichnete sich selbst als linientreuen Dissidenten.
Sein Sohn Thomas Kuczynski betrieb ebenfalls ökonomische Studien, veröffentlichte eine Studie zum Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland 1932/33 und beschäftige sich mit der Frage, inwiefern mathematische Methoden auf die Wirtschaftsgeschichtsschreibung anwendbar seien. Schließlich war er – als Nachfolger seines Vaters – der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, die 1991 geschlossen wurde.
Das Ende der DDR erwischte ihn nicht eiskalt, doch die Folgen hat wohl auch er nicht absehen können. Vor allem musste er mitansehen, dass selbst jene Linke, die sich als Sozialisten oder gar als Marxisten bezeichnen, ganz offenkundig keine wirtschaftspolitischen Fragen mehr verhandeln wollten und die Fragen der Ökonomie in ihren Analysen zum Zustand der Welt mehr und mehr unbeachtet ließen. Mit Bedauern musste er zudem feststellen, dass sich nahezu alle linken Zeitschriften und Zeitungen von ihrem Wirtschaftsteil verabschiedet hatten, und in der Tat ist es ja merkwürdig, dass etwa das Neue Deutschland, für das Thomas Kuczynski auch immer mal wieder geschrieben hat, die Ökonomie nun entweder im Politikteil oder im Feuilleton behandelt. Kuczynski hat sich davon allerdings nicht beirren lassen.
Er erstellte etwa eine brauchbare Lesefassung des »Kommunistischen Manifestes« und arbeitet im Moment an einer Lesefassung des ersten Bandes des »Kapitals«, er edierte die Geschäftsbücher von Moses Mendelssohn, er berät die Herausgeber der Werke von Marx und Engels (MEW) oder hält Vorträge über Fritz Behrens und »seine rätekommunistische Kritik sozialistischer Reform«.
Feuilletonlesern in Gesamtdeutschland wurde er erstmals um die Jahrtausendwende vorgestellt, als er gemeinsam mit seinen Geschwistern die Arbeitsbibliothek seiner Eltern verkaufte. Sie war die drittgrößte Privatbibliothek Deutschlands war und umfasste rund 70 000 Bücher, darunter signierte Erstausgaben der Werke Kants, die ein Vorfahre gesammelt hatte und mit denen er die Bibliothek begründete, oder signierte Erstausgaben von Anna Seghers und Bertolt Brecht. Diese Bibliothek ist heute in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin untergebracht, die sich, wie es Thomas Kuczynski verfügt hat, auch um die Aufarbeitung der Nachlässe von Robert René und Jürgen Kuczynski kümmert.
In seiner Studie »Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ›Dritten Reich‹ auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne« rechnete er vor, dass die Bundesrepublik Deutschland den Opfern von Zwangsarbeit in Nazideutschland rund 180 Milliarden DM schulde, wenn sie die Gehälter zugrunde lege, die die Nazis den Sklavenarbeitern vorenthalten hatten. In seinem Buch »Brosamen vom Herrentisch« bekannte Thomas Kuczynski 2004, noch nicht alle Zahlen berücksichtigt zu haben und korrigierte sich. Er kam nun auf einen Betrag von 228 Milliarden DM, also 116 Milliarden Euro.
Ab dem Jahr 2007 wirkte er an dem Theaterprojekt »Karl Marx: Das Kapital« der Gruppe Rimini Protokoll mit und tourte damit durch die halbe Welt, seither arbeitet er für weitere Theaterprojekte.
Seit 2007 schreibt Thomas Kuczynski auch eine Kolumne für die Zeitschrift Lunapark, die gesammelten Kolumnen sind soeben in einem Buch unter dem Titel »Geschichten aus dem Lunapark. Historisch-kritische Betrachtungen zur Ökonomie der Gegenwart« erschienen. Diese »Geschichten« unterstreichen erneut, was den Ökonomen Thomas Kuczynski so besonders macht – nicht nur ist er ein großer Gelehrter und Kenner des Marxschen Denkens, nein, er ist auch ein großartiger Stilist. Seine Kolumnen lesen sich auch für Nichtökonomen leicht, ohne dass sie zu Populismus neigen. Gleichwohl will sich Kuczynski die Polemik nicht verbieten lassen. In seinen Texten geht es um den Regionalismus in der EU oder Mindestlöhne, es geht um Failed States und Staatsbankrotte. Wenn er den aktuellen wirtschaftspolitischen Bericht des Club of Rome, 40 Jahre nachdem der erste erschien ist, liest, dann zieht er folgenden Schluss: »Die Frage, ob ein derartiges Umsteuern möglich ist, ist eine Frage der Politik und insbesondere der Wirtschaftspolitik, mithin die Frage, die auch auf dem Boden kapitalistischer Produktionsverhältnisse beantwortet werden kann, selbstredend nicht ohne schärfste politische Auseinandersetzungen innerhalb der bürgerlichen Parteien (die bundesdeutsche Debatte um den Atomausstieg dürfte damit verglichen ein harmloses Geplänkel sein). Der Club of Rome, dem vor allem ausgesuchte Industrielle, Ökonomen und Naturwissenschaftler angehören, aber satzungsgemäß keine hochrangigen Politker (jedenfalls keine ›in Amt und Würden‹), könnte diese Auseinandersetzungen eben deshalb höchst aktiv begleiten, allerdings nur, wenn er sich nach 40 Jahren Diagnose endlich in die hart umkämpften ›Niederungen‹ der Therapie begibt.«
Man muss Thomas Kuczynski nicht in allem zustimmen, und sicher werden einigen seine politischen Analysen aufstoßen – Kuczynski zu hören oder zu lesen, lohnt aber in jedem Falle.

Thomas Kuczynski: Geschichten aus dem Lunapark. ­Papyrossa Verlag, Köln 2014, 128 Seiten, 11,90 Euro