Das ganze Tier. Ein neuer Fleisch-Trend aus Kalifornien

Kalbsbries unter Palmen

Schweinehalsragout ist das neue Gemüse: Kaliforniens Hipster liebten bisher veganes Healthy Food. Zwischen Soja-Latte-Bars und Bio-Delis etablieren sich in San Francisco neuerdings teure Fleischrestaurants. Dabei gilt: Das Tier wird komplett verwertet.

Nachmittags, 16 Uhr 55, Downtown Los Angeles. Das schwarzgekleidete Kochteam, bestehend aus Mittzwanzigern, findet sich in der offenen Restaurantküche zu einem Moment der Besinnung zusammen und beginnt dann mit dem kollektiven Ruf »Bestia!« den Arbeitstag. Das Restaurant Bestia, dessen Wellblechwände eher an eine Lagerhalle erinnern, ist jeden Abend mit 250 Gästen komplett ausgebucht. Es befindet sich am Flussufer der Stadt, in der Nähe des Armenviertels Skid Row. Kurz nach der Öffnung um 17 Uhr sind die im Industriechic gehaltenen Tische bereits vergeben, zu spät gekommene Gutgekleidete müssen an der Bar speisen. Es gibt Fleisch in allen Formen: Pancetta, Knochenmark auf Spinatgnocchetti, Rinderherztartar, Nudeln mit Schweinehalsragout. Nicht nur das vor einem Jahr an der Westküste eröffnete Bestia trotzt mit seiner fleischlastigen Küche erfolgreich dem glutenfreien oder veganen Healthfood. Seit etwa zwei Jahren bereichern die neuen Lokale in Los Angeles und San Francisco die Restaurantlandschaft. In Restaurants wie dem Bestia, dem Chi Spacca und dem Animal in Los Angeles oder dem Fatted Calf, Porcellino und State Bird Provisions in San Francisco werden Fleisch und Innereien zu einer neuen Art von Comfort Food verarbeitet, das als Ausdruck von Subversion und Lifestyle des Silicon Valley gilt.
Palmen und Pelikane im Küstennebel – zum kalifornischen Selbstbild des gesunden Outdoor-Lebens gehört auch die biologische Küche und Restaurant-Szene in Los Angeles und San Francisco, die sich vom Fastfood der US-amerikanischen Unterschicht zu unterscheiden sucht: Man bevorzugt Frühstücksburritos, Grünkohlchips und Soja-Latte. Das besser verdienende Kalifornien hat sich in den vergangenen zehn Jahren zunehmend über fleischarme, vegetarische oder vegane Küche definiert. In Kalifornien gibt es kaum einen Metzger, wie man ihn in europäischen Ländern kennt, der neben Steaks oder Burgerpatties auch Innereien oder gar Hühnerfüße und Schweineohren anböte. Eine große Auswahl an der Fleischtheke ist eher ungewöhnlich, Wursttheken gibt es kaum und der Brotbelag besteht meist aus Truthahnbrust oder importierter Salami.
Inzwischen ist jedoch an der Westküste eine neue Nobelfleischkultur entstanden. Pionierarbeit leistete das Animal, ein 2008 von John Shook und Vinny Dotolo eröffnetes Restaurant südlich von Hollywood, dem jüdischen Viertel der Stadt, in der Nähe koscherer Delis und Bäckereien. John und Vinny, leger gekleidet in Khakishorts und T-Shirt, mit tätowierten Oberarmen, sehen ihr Lokal als »fleisch-exzentrisches« Restaurant, ihre Gerichte als antidiätische und ästhetische Statements. Zudem legen sie Wert auf die ökonomische Verwertung des Tiers. Alles kommt in die Pfanne, ob Zunge, Flanke oder Hirn. Serviert werden Chorizo auf getoastetem Brot, darüber geschmolzener baskischer Käse, Schweineohr mit Chili-Limette und Ei, gebratene Hasenbeine, Kalbszunge oder -hirn, Chicken Wings auf Mango Amba und Koriander. Die Zutaten sind »bio«, das Fleisch aus artgerechter Freilandhaltung.
Das liegt durchaus im Trend. Der kalifornischen Landesregierung liegt derzeit ein Gesetzentwurf vor, der die Verabreichung von Antibiotika an Tiere gänzlich verbieten soll. Im Oktober hatte sich der kalifornische High Court für ein Verbot von Gänsestopfleber in Restaurants ausgesprochen. Der bewusste Umgang mit Fleisch, so die Autorin Jane Kramer, sei eine Reaktion auf die Anwürfe der Vegetarier, wonach Fleischkonsum der Gesundheit und dem Klima schadeten. Daher beziehen die neuen Fleischrestaurants Hollywoods und des Silicon Valley ihre Zutaten – Fleisch und Gemüse – von lokalen Biofarmen oder Nahrungsmittelkooperativen.
Zugleich stehen hinter der Komplettverwertung des Tiers auch ökonomische Motive. Junge Köche haben zumeist wenig Kapital, wenn sie ihr erstes Restaurant eröffnen. In San Francisco erinnert sich der Koch Nate Appleman an die Eröffnung des Restaurants »A16« vor etwa zehn Jahren. Damals habe er Fleisch von der Qualität des nordkalifornischen Michelin-Sterne-Restaurants French Laundry servieren wollen. Dies sei nur durch eine umfassende Verwertung des Tiers möglich gewesen. Auch im Bestia stehen Rindshack, Knochenmark, Rinderzunge und Steak auf der Karte, der Trend setzt sich auch im Chi Spacca und im Animal fort. Mario Batali, Eiscreme-Hersteller und Miteigentümer von »Chi Spacca«, erklärt, dass er mit der Komplettverwertung des Tieres seinen Respekt vor dem Leben ausdrücke. Er versteht das Zerlegen und die Verarbeitung von Fleisch als kreativ-intellektuelle Aufgabe. Die Herstellung von Salami erfordere viel Geduld und sei eine esoterische Denkübung guter Köche.
Comfort Food Innerei: Kulinarische Neuerungen lassen sich selten nationalen Esskulturen zurechnen, sondern entstehen im internationalen Austausch. Man denke etwa an das von griechischen »Gastarbeitern« in den Sechzigern in Deutschland eingeführte Gyros-Pita oder an den Burrito, der von mexikanischen Feldarbeitern in Kaliforniens Central Valley als Variation heimischer Küche um die Jahrtausendwende eingeführt wurde. Anstatt Chili und Fleisch in eine Tortilla einzuschlagen, nahmen die Arbeiter »amerikanische« Zutaten, wie Salat, Käse oder Sour Cream. Erst später wurde der amerikanisierte Burrito mit den ersten mexikanischen Restaurants in San Francisco oder Los Angeles wieder nach dem Originalrezept zubereitet.
Die neue Esskultur des Fleischs bezieht ihre Inspiration vornehmlich aus Italien und siedelt sich zwischen zwei kulinarischen Polen an: gesundheitsbewusstem, fleischarmen Essen und dem Gegentrend Foodtruck. So treffen sich zwei Kulturen, die der Weißen, Gebildeten und Wohlhabenden und die der Armen, Migranten und der working class.
Die meisten Fleischrestaurants siedeln sich in der unmittelbaren Umgebung Hollywoods an. Damit sind die Fleischgerichte italienischer Migranten der zweiten und dritten Generation endgültig in die High end-Gastronomie Hollywoods aufgestiegen. Batali erinnert sich: »Meine Großeltern kochten so ziemlich alles am Tier, ich war Ochsenschwanzravioli und Schweinefüße gewohnt. Damals dachte ich, wir seien exotisch, dabei waren wir einfach nur arm.« Noch heute ist für den Koch das Schlachten und Zerlegen ein festlicher Akt wie im Sizilien seiner Jugend.
Für Ori Menashe vom Bestia verweist der Name seines Restaurants auf das Tier und das bestialische Schuften der einfachen Leute. Der Weg zum Erfolg ist prekäre, körperliche Arbeit. In einer jüngst veröffentlichten Studie untersuchte Paul Rozin, Psychologe und Biologe der Harvard Universität, das metaphorische Verhältnis von Geschlecht und Fleisch. In seinem Aufsatz »Is Meat Male?« (2012) kam sein Team noch zu dem Schluss, dass (amerikanische) Konsumenten über Gerichte ihr Geschlecht und ihr eigenes diskursiv geprägtes Empfinden von »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« reproduzieren. So wird Muskelfleisch wie Steaks, Kotelett, Burger (zusätzlich noch Orangensaft) von Konsumenten vorwiegend mit »Männlichkeit« in Verbindung gebracht, Austern, Sushi, Pfirsich oder verarbeitetes Essen wie Hühnchensalat oder Rührei mit »Weiblichkeit«. Unentschieden zeigten sich die Konsumenten hingegen bei Innereien, Leberpâté oder hartgekochten Eiern. Je roher, desto männlicher, lautet ein Fazit der Studie, Frauen hingegen würden große Mengen »männliches« Essen vermeiden, um ihre »Weiblichkeit« zu wahren.
Ganz anders in der Metzgerei »Lindy and Grundy« im Süden Hollywoods, die von einem lesbischen Ehepaar betrieben wird. Die aus Japan beziehungsweise Mexiko stammenden Frauen, die sich auf Twitter »butcherette« und »femmebutcher« nennen, praktizieren das nose to tail, also das Verwerten von ganzen Tieren. Sie beziehen das Fleisch von Freilandfarmen der Umgebung, stellen Lehrlinge ein und bieten Tranchierkurse an. Vor allem aber durchbrechen sie mit ihrer Metzgerei die symbolischen, heteronormativen Verbindungen von Fleisch und Männlichkeit. Fleisch(verzehr) ist hier weder ausschließlich männlich noch weiblich konnotiert, die Lust am Fleisch eine hybride Begehrensform.
Die Innereienküche der Hollywood-Restaurants oder der lokale Femme-Metzger sind in Los Angeles nicht nur migrantische Aneignungen. Sie erinnern an die subversiven Anfänge Hollywoods der zwanziger Jahre, als vor allem Frauen und jüdische und italienische Händler in den Westen strömten, um sich im Wettkampf um kulturelle Macht im Grenzgebiet der Massenkultur und jenseits bürgerlicher Vorstellungen von Gender neu zu erfinden.
Das jüngst in San Francisco eröffnete Fleischrestaurant State Bird Provisions liegt im ärmeren Teil des Jazz-Distrikts Filmore, zwischen Einkaufsviertel und Japantown, und nimmt die unteren Räume eines mokkafarbenen Hauses ein. Jeden Abend stehen hier erwartungsvolle Gäste Schlange: Männliche Hipster in engen Jeans und pfauenfarbenen Hemden mit Stehkragen und Frauen in Leggins und Schlabberkleid warten auf einen Tisch, um dann Rinderzunge auf Essigkartoffel oder Pflaumensalat mit Schweinebauch zu verspeisen. Andere Restaurants servieren in San Francisco für die Westküste ungewöhnliches Fleisch, doch etwas weniger gewagt und weniger hybrid als in Hollywood. In Restaurants wie Fatted Calf und Porcellino etwa sind die Gerichte eindeutiger: Es gibt vor allem Gourmetsalami, Räucherfleisch und Pâté auf Brot.
Der Hype ums Fleisch wird auch von IT-Gurus und der Hightech-Branche aufmerksam verfolgt. Im Sommer haben sich Hacker auf der Konferenz »Hack/Meat« an der Stanford University in Palo Alto mit der Frage nach der völligen Verwertbarkeit des Tiers und der Entwicklung neuer Apps beschäftigt. Drei Tage lang trafen sich Informatiker, Farmbesitzer, Unternehmer, Designer und Köche mit dem Ziel, Ideen zu entwickeln, wie man die Fleischindustrie für das digitale Zeitalter fit machen kann. Es ging um Internetplattformen für Weideland und das Internetportal Beefopedia, das über die Vorzüge von freilandgehaltenem Rind aufklärt.
In San Francisco hat das Kreativunternehmen Mine das erste virtuelle Ratingsystem für Burgerfleisch entwickelt. Der Burger, früher ein Synonym für Fast Food, ist längst in der Gourmet-Klasse angekommen. Christopher Simmons, Geschäftsführer von Mine, treibt den Burgerkult auf die Spitze. Der Unternehmer, der Design und Brands unter anderem für Restaurants entwickelt, betreibt einen Blog und verkündet: »The message is medium rare.« Seit Anfang des Jahres verzehrt Simmons jede Woche einen Burger in einem anderen Restaurant im Silicon Valley und verschickt einen Newsletter mit der aktuellen Burger-Rezension und einem Foto des jeweilgen Prachtstücks. Es geht ihm um »kreative Lektionen« für Designer und Leser. »Für diejenigen, die sich für Exzellenz interessieren, kann es auch nur Exzellenz geben; immerhin ist Design nur so stark wie sein schwächstes Element«, heißt es nach dem Verzehr von Burger Nummer 20. »Jemand anderes mag aus Jane Austens Romanen oder Werbesendungen Einsichten gewinnen«, sagt Simmons: »Die Welt ist überschwemmt mit Bedeutung. Die Burgerbetrachtungen sind unsere Art, einmal innezuhalten.«