Der neue Trainer von Olympique de Marseille

El Loco bei Olympique

Mit Marcelo Bielsa als Trainer steht Marseille wieder an der Tabellenspitze. Sein Ziel aber bleibt einfach bloß immer das nächste Spiel.

Überraschung: Nicht die neureichen Millionen-Clubs Paris Saint-Germain oder AS Monaco stehen nach einem Drittel der Saison ganz oben in Frankreichs Ligue 1, sondern Olympique de Marseille. Nach holprigem Saisonstart gelangen den Südfranzosen zwischenzeitlich acht Siege in Serie – und das mit zum Teil begeisterndem Fußball. Auch wenn es zuletzt zwei knappe Niederlagen bei Olympique Lyon und PSG gab, der Unterschied zum Vorjahr ist deutlich.
Großen Anteil am Erfolg hat der neue Trainer, der frühere Nationalcoach von Argentinien und Chile, Marcelo Bielsa. Das Erstaunen war groß, als der 59jährige Ex-Abwehrspieler – genannt »el Loco«, der Verrückte – im Sommer seine Verpflichtung bei Olympique bekanntgegeben hatte. Dabei war es im Grunde keine große Überraschung. Vor ein paar Jahren hat Bielsa einmal ein Angebot von Inter Mailand ausgeschlagen, da er der mit in die Jahre gekommenen Stars gespickten Mannschaft nicht zutraute, seine auf Pressing und Laufbereitschaft basierende Idee von Fußball umzusetzen; stattdessen war er ins Baskenland zu Athletic Bilbao gewechselt. In Marseille scheint dieser Fußballlehrer, der eine romantische Idee vom Fußball dicken Scheckheften vorzieht und lieber aus jungen, leistungsbereiten Fußballern das Maximum herausholt, als Superstars zu bändigen, daher genau richtig zu sein.
Im Umfeld des Clubs jedenfalls hat seine Verpflichtung viel Euphorie hervorgerufen. »Bielsa, lass uns träumen« war auf einem am Trainingsgelände angebrachten Fanbanner zum Trainingsauftakt Ende Juni zu lesen.
Die großen Zeiten von Olympique liegen einige Jahre zurück. Anfang der neunziger Jahre schoss Jean-Pierre Papin den Club zu vier Meisterschaften in Folge (1989–92) und Basile Bolis Treffer im Champions-League-Endspiel 1993 gegen den AC Mailand in München brachte Olympique den bis heute einzigen Europapokalsieg. Doch der Absturz folgte kurz darauf: Wegen einer Bestechungsaffäre wurde Marseille im selben Jahr ein Meistertitel aberkannt und der Club zur Saison 1994/95 in die zweite Liga zwangsversetzt. Zwar ließ der Wiederaufstieg nicht lange auf sich warten, aber erst nach 17 Jahren gewann Marseille mit Meisterschaft, Ligapokal und Supercup (2010) wieder Titel. In der vergangenen Saison spielte die Mannschaft zwar in der Champions League, verlor aber alle sechs Partien in der Vorrunde. In der Meisterschaft landete man nur auf Platz 6 und verpasste den internationalen Wettbewerb, was Coach Jose Anigo den Job kostete.
Bielsa soll nun den Neuaufbau vorantreiben und verstärkt auf eigene Talente setzen. Wie in seiner ersten Trainerstation bei Newell’s Old Boys in Argentinien oder auch in Bilbao hat er in Marseille eine Mannschaft aus jungen, talentierten Spielern wie Thauvin (21), Mendy (20), Lemina (20), Sparagna (19), Imbula (21) oder Dja Djedje (23), die laufstark, dynamisch und in der Lage sind, Bielsas Idee vom Fußball auf dem Spielfeld umzusetzen.
Dass sich der Erfolg aber so schnell einstellte, kommt dann doch einigermaßen überraschend. Denn der Start verlief alles andere als glatt – mit einer denkwürdigen Pressekonferenz, nur einem Punkt aus den ersten beiden Liga-Partien und harscher Kritik an der Transferpolitik der Clubführung.
Bielsa stellte dagegen einen neuen Rekord bei Olympique de Marseille auf: Er ist der erste Trainer des Vereins, der mehr als einen Monat verstreichen ließ, bevor er seine erste Pressekonferenz gab. Und die können bei Marcelo Bielsa schon mal sehr lange dauern, da er alle Fragen beantwortet, den Blick zumeist nach unten gerichtet, Augenkontakt vermeidend. »Wenn ich gut genug Französisch spreche, schaue ich Ihnen in die Augen«, ließ Bielsa, von der Reporterschar darauf angesprochen, seinen Übersetzer ausrichten, den er bei der Gelegenheit auch gleich als den wertvollsten all seiner Assistenten bezeichnete. Nach seinem Spitznamen gefragt, sagte Bielsa: »Man nennt mich el loco, den Verrückten, da ich manchmal Antworten wähle, die nicht mit den üblichen übereinstimmen.« Und er gab gleich ein paar Kostproben: »Große Führer sprechen und werden gehört. Ich habe den ersten Schritt gemacht. Ich spreche wenig und werde sehen, ob ich gehört werde.« Und als ein Journalist ihn um Beispiele für große Führer bat, antwortete er: »Die Leiterin der Kinderklinik in Rosario [Bielsas Herkunftsstadt, Anm.]. Sie spricht wenig und tut mehr als alle.«
Nach sieben Punkten aus vier Spielen sorgte Bielsa Anfang September dann für einen Eklat, als er öffentlich Vereinspräsident Vincent Labrune kritisierte. Auf einer kurzerhand angesetzten Pressekonferenz holte er zum Rundumschlag aus und beklagte die Transferpolitik des Clubs: »Der Präsident hat Versprechungen gemacht, von denen er wusste, dass er sie nicht einhalten würde. Die Realitäten, mit denen ich konfrontiert werde, wenn sie mir ehrlich dargelegt werden, akzeptiere ich. Ansonsten erzeugt das meinen Unmut.« Er habe zwölf mögliche Optionen vorgeschlagen, aber keiner dieser Spieler sei geholt worden. Von der Verpflichtung des brasilianischen Abwehrspielers Doria (19) erfuhr er erst kurz vor dessen Medizincheck. Und um das Ganze abzurunden, musste Bielsa auch noch den Abgang des französischen Nationalspielers Mathieu Valbuena, Vereinsidol und Schlüsselspieler – er wechselte für sieben Millionen Euro zu Dynamo Moskau –, verkraften.
»Die Arbeitsweise des Vereins enttäuscht mich. Dies ändert nichts an meinem Optimismus hinsichtlich der Gruppe, aber die Realität ist nicht die, die wir geplant hatten«, schloss Bielsa, sichtlich wütend.
Einige Medien spekulierten danach bereits über eine vorzeitige Entlassung. Aber Bielsa wäre nicht Bielsa, hätte er nicht aus dem vorgefundenen Spielermaterial das Beste herausgeholt. Er verpasste der Mannschaft einen von immenser Laufbereitschaft und Pressing getragenen Tempofußball – weit entfernt von dem Defensivschema seiner Vorgänger Didier Deschamps oder Elie Baup.
Die Spieler waren zunächst von Bielsas strenger und anspruchsvoller Arbeitsweise überrascht. Der neue Trainer richtete die Videoräume neu ein – er gilt als Taktikfreak – und brachte die »Deutschen« mit, aufblasbare Puppen, die er schon bei Athletic Bilbao verwendete, um die Positionen der gegnerischen Spieler zu simulieren. Die Trainingseinheiten sind zudem länger als üblich und das besondere Augenmerk auf Ausdauer und Physis in der Saisonvorbereitung wurde in einigen Zeitungen mit den Gepflogenheiten bei militärischen Übungen verglichen.
Mittlerweile aber danken es ihm die Spieler, allen voran Stürmer Pierre-André Gignac, der übergewichtig und aus der französischen Nationalmannschaft geflogen war. »Du musst fünf Kilo abnehmen, dann wirst du 25 Tore machen«, hatte Bielsa zum Trainingsauftakt zu ihm gesagt. Mittlerweile wurde Gignac wieder in die Nationalelf berufen und in der Torjägerliste der Ligue 1 liegt er nach 13 Spieltagen an zweiter Stelle mit zehn Treffern – fünf mehr als PSG-Stürmerstar Zlatan Ibrahimovic.
In der Tabelle hat Paris Saint-Germain nach dem 2:0-Sieg im »Le Classique« am vorvergangenen Wochenende den Anschluss an Marseille zwar wieder hergestellt, Monaco aber liegt bereits neun Zähler hinter den Südfranzosen zurück. Und Bielsa? Der will von der Meisterschaft oder einem allzu weiten Blick in die Zukunft nichts wissen. »Ich setze mir keine langfristigen Ziele hier bei Olympique. Das nächste Spiel ist das unmittelbare Ziel.«