Amazon lädt Journalisten ein

Im Herz der Finsternis

Amazon öffnet dieser Tage deutschlandweit seine Tore und lädt Pressevertreter zu Medientagen ein. Die Jungle World war bei der Charme-Offensive des Internetkonzerns am Standort Leipzig dabei.

Nach zahlreichen Berichten über die miserablen Arbeitsbedingungen bei Amazon ist es um den Ruf des Internetkonzerns nicht allzu gut bestellt. Amazon gilt vielen als ein amerikanisches Monster, das es darauf abgesehen hat, den deutschen Einzelhandel zu zerstören und seine Angestellten gleich dazu. Hierzu hat es perfide Methoden entwickelt, die vielleicht nur wenige gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte durchschauen, dafür aber die deutschen Medien. Wenn ein solches Ungeheuer einlädt, Potemkinsche Dörfer zu begutachten, die es speziell zu diesem Anlass errichtet, lassen sich regionale wie überregionale Medien natürlich nicht zweimal bitten, gilt es doch hinter den Kulissen den nächsten exklusiven Amazon-Skandal zu entdecken.

Schon bei der Ankunft am Logistikzentrum Leipzig, intern auch liebevoll »Fulfillment-Center« genannt, da die Erfüllung der Kundenbedürfnisse des Konzerns oberstes Gebot ist, fällt das gewaltige Banner auf, das am gelben Eingangsportal prangt. »Am Nordpol arbeiten? Erfüllen Sie lieber Wünsche als Teil des Amazon-Teams in Leipzig«, so wird da um Saisonarbeiter geworben. Ist das Selbstironie? Soll gesagt werden, hier zu arbeiten sei immer noch besser als am Nordpol?
Ein geschärftes Bewusstsein für die öffentliche Meinung von Amazon ist hier auf jeden Fall vorhanden. Das wird bei der eröffnenden Rede des Standortleiters Dietmar Jüngling deutlich. Als er bei seiner Präsentation von Daten und Fakten rund um das Unternehmen auf die Vielfalt der Nationalitäten unter den Leipziger Angestellten zu sprechen kommt, springt ihm Senior Public Relations Manager Anette Nachbar bei. All diese Menschen wohnten und lebten selbstverständlich wenigstens in mittelbarer Nähe zum Versandzentrum. Niemand werde zur Saisonarbeit aus dem Ausland angeworben. Diese Praxis habe Amazon nach der berüchtigten ARD-Reportage, die im Februar vorigen Jahres gesendet wurde, komplett eingestellt, teilt sie später im Gespräch mit.
Doch wie sieht es nun aus im Inneren, im Herz der Finsternis? Für jeden, der schon mal in der Lagerlogistikbranche gearbeitet hat, ungemein unspektakulär. Alles ist künstlich beleuchtet, Fenster gibt es nicht. Sonnenlicht fällt höchstens durch die Tore ein, an denen LKW ent- oder beladen werden. Menschen stehen an Fließbändern oder bewegen Rollwagen durch die Gegend. Allein die Regale erwecken eher den Eindruck einer Bibliothek oder eines riesigen Warenhauses als den eines gewöhnlichen Lagers. Zum einen werden die Pakete, die hier eintreffen, entpackt, zum anderen werden in Leipzig lediglich kleine, handliche Artikel eingelagert und umgeschlagen, Möbelstücke oder ähnliches werden dem Amazon-Kunden aus anderen Ecken Deutschlands zugesandt. Der Eindruck des Warenhauses wird jedoch dadurch gebrochen, dass sich keine klare Systematik im Aufbau der Regale erkennen lässt. Dies sei Absicht, sagt Jüngling. Würden allzu ähnliche Artikel dicht beieinander gelagert, erhöhe sich das Risiko, dass Packer versehentlich das Falsche für die Kunden heraussuchten. Derartiges gilt es unter allen Umständen zu vermeiden, denn Amazon strebt eine hundertprozentige Zufriedenheit der Kunden an. Ein hehres Ziel, glauben doch nicht einmal die BWL-Studierenden des ersten Semesters, die ebenfalls gelegentlich Führungen durch die Hallen erhalten, daran, dass so etwas möglich sei.

Zur ständigen Selbstoptimierung erhebt Amazon fortlaufend Daten, über den Arbeitsprozess. Dafür gibt es einen Flowmanager, dessen Aufgabe darin besteht, Wege und Arbeitsschritte so kurz wie möglich werden zu lassen. Jüngling selbst hat während einer Woche als Lagerarbeiter, die für Führungspersonal verpflichtend sei, in bester Selfquantifier-Manier einen Schrittzähler getragen, um ein verifizierbares Bild von dem zu bekommen, was die Angestellten täglich leisten müssen. Solche Zahlen sind es, auf die Journalisten es besonders abgesehen haben, wie sich vergangene Woche in diversen Zeitschriften beobachten ließ. Denn mit Hilfe solcher Zahlen lässt sich die Unmenschlichkeit der Arbeit bei Amazon behaupten. Als Arbeitgeber ist Amazon genauso schlecht oder genauso okay wie andere Unternehmen auch. Die Arbeit, die im Fulfillment-Center Leipzig zu leisten ist, wird trotz fehlenden Tarifvertrags vergleichsweise gut bezahlt, gemessen an den Tarifen der Logistikbranche. Jüngling sagt, was hier vor Ort getan werde, sei die Arbeit eines Logistikunternehmens. Verdi – seit 2011 um einen Tarifvertrag bemüht – hat die Einschätzung, es handle sich um einen Versandhandel, im Hinblick auf das globale Unternehmen liegt die Gewerkschaft damit richtig. Verdi fordert für Amazon-Mitarbeiter in den deutschen Versandzentren tarifliche Regelungen, wie sie im Einzel- und Versandhandel üblich sind. Bei Amazon in Bad Hersfeld betrug der Einstiegslohn eines Lagerarbeiters Ende 2013 dem Unternehmen zufolge pro Stunde 10,01 Euro, im zweiten Jahr 11,59 und im dritten 11,71. Nach dem Versandhandelstarif müssten es durchgängig 11,77 Euro sein. In Leipzig betrug der Einstiegslohn Ende 2013 Amazon zufolge 9,55 Euro, im zweiten Jahr 10,47 und im dritten 10,99 Euro, damit liegt der Konzern über der Vereinbarung für die Logistikbranche.Schlecht bezahlt ist der Job, den die circa 1 600 Festangestellten sowie die ungefähr 2 000 Saisonarbeiter für das Weihnachtsgeschäft machen, vor allem deshalb, weil Arbeitskraft und Zeit, die in stumpfsinnige Fließbandarbeit gesteckt werden, nie anständig entlohnt sein können. Unter Druck von Gewerkschaft und Medien wurden in den vergangenen Jahren die Löhne erhöht, Betriebsräte eingerichtet und innerbetriebliche Verbesserungen für die Arbeitnehmer vorgenommen, so wurden Pausenräume eingerichtet, die näher am Arbeitsplatz liegen als zuvor. Auch für Thomas Schneider, Streikorganisator in Leipzig, stellen die Änderungen ein Verdienst der seit fast zwei Jahren immer wieder in den Ausstand tretenden Kollegen dar. Die Streiks werden weitergehen, solange es keinen Tarifvertrag gibt, gerade auch jetzt im Weihnachtsgeschäft.
Verdi hat einen Infostand vor den Toren aufgebaut, um den Journalisten Dinge mitzuteilen, die in der Konzernpropaganda unterzugehen drohen. Die zentrale Botschaft dabei ist, dass die Organisierten nicht die Bösen sind, als die der Konzern sie angeblich gerne darstelle. Tatsächlich sei auch Verdi an der Optimierung des Unternehmens gelegen – bloß eben aus Arbeitnehmerperspektive. Der Gewerkschaft geht es auch um tarifliches Urlaubs- und Weihnnachtsgeld und Sonn- und Feiertagszuschläge. Dem Kapitalisten aus Amerika, der seine Angestellten durch die permanente Leistungsquantifizierung einem Leistungsdruck aussetzt, der Arbeitnehmern deutscher Unternehmen wie Tönnies und Lidl sicherlich gänzlich fremd ist, hält Verdi an diesem Vormittag deutsche Gemütlichkeit entgegen. Die Organisierten trinken Kaffee und lauschen der Bierzeltmusik, die vom Infowagen herschallt.

Eine Kritik, die über die Dämonisierung eines einzelnen Unternehmens beziehungsweise seiner Methoden hinausgeht, scheint kaum gefragt. »Schließen Sie einen Tarifvertrag eigentlich kategorisch aus?« fragten die Pressevertreter. Jünglings Antwort, dass Amazon sich lieber eine Flexibilität bewahren wolle, die zum Beispiel auch beinhaltet, den Lebenshaltungskosten entsprechend in Augsburg höhere Löhne zu zahlen als in Leipzig, zeigt, dass man hier auch von der uralten Gewerkschaftsforderung »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« weit entfernt ist.