Der Bau des Nicaragua-Kanals und dessen ökologische Folgen

Kanal zum Kapital

Im Dezember sollen im sandinistisch ­regierten Nicaragua die Bauarbeiten zum Nicaragua-Kanal beginnen. Internatio­nale Experten und Naturschutzorganisationen warnen vor einer ökologischen ­Katastrophe.

Die Insel Ometepe liegt im Nicaragua-See und besteht aus zwei inaktiven Vulkanen, die inmitten dichten Dschungels liegen. Über den dünnen Küstenstreifen verteilt leben Familien, die sich mit Fischfang und dem Anbau von Kochbananen und etwas Gemüse vorrangig selbst versorgen. Wegen ihrer abgeschiedenen Lage inmitten des zweitgrößten Sees Lateinamerikas blieb die Insel von den vielfältigen gewalttätigen Auseinandersetzungen der Vergangenheit die meiste Zeit unberührt und auch der Tourismus beschränkt sich noch vorrangig auf kleine Öko-Fincas. »Oase des Friedens« wird die Insel daher auch genannt. Mit dem Frieden könnte es aber nun vorbei sein. Denn schon bald könnte der See zerstört sein und riesige Containerschiffe würden an der Insel vorbeiziehen. Ometepe liegt im Verlauf des geplanten Nicaragua-Kanals, der neben dem Panama-Kanal eine weitere Wasserroute quer durch Mittelamerika schaffen soll. Es handelt sich um eines der derzeit größten Infrastruktur-Bauvorhaben der Welt. Bereits im Dezember sollen die Bauarbeiten an dem monströsen Projekt beginnen, das weitreichende Auswirkungen auf die Natur und die an der Route ansässigen Menschen haben wird. Und zwar keine guten.

Nach dem derzeitigen Stand der Planungen wird der Kanal eine Länge von 280 Kilometern haben und bis zu einem halben Kilometer in die Breite gehen. Jedes Jahr sollen dann Tausende Schiffe quer durch Nicaragua schippern, die mit bis zu 400 000 Tonnen Gewicht und einer Länge von bis zu 400 Metern weitaus größer sein werden als die Containerschiffe, die durch den 80 Kilometer langen Kanal in Panama passen. Zusätzlich sind eine Ölpipeline, ein Flughafen sowie Häfen und Freihandelszonen an beiden Enden des Kanals geplant. Mindestens 50 Milliarden US-Dollar soll das Megaprojekt kosten, das eine Schneise in den zweitgrößten Regenwald der westlichen Hemisphäre schlagen wird. Indigene Gruppen, die das Gebiet mehrheitlich bewohnen, laufen ebenso wie Naturschützer Sturm und warnen vor den unabsehbaren Folgen für Mensch und Natur.
Mehrere zum Teil bisher unberührte Naturschutzgebiete sind von dem Projekt betroffen, unter anderem das 20 000 Quadratkilometer große Unesco-Biosphärenreservat Bosawás, das als letzter Rückzugsort vieler vom Aussterben bedrohter Tierarten gilt. Insgesamt wird der Kanal an die 400 000 Hektar Regenwald zerstören. Jorge Huete-Pérez, Präsident der nicaraguanischen Akademie der Wissenschaften, warnte gemeinsam mit dem deutschen Biologen Axel Meyer in dem Wissenschaftsmagazin Nature vor einer »ökologischen Katastrophe«. Neben dem Regenwald sorgen sich Naturschützer vor allem um den Nicaragua-See, der das größte Trinkwasserreservoir Zentralamerikas darstellt. Es besteht die Gefahr, dass dieser durch den Kanal mit Salzwasser verunreinigt wird, ganz zu schweigen vom Schiffsöl der Riesentanker. Von dem interozeanischen Kanal sind aber nicht nur ganze Tierarten und das komplette Ökosystem der Region bedroht, sondern ebenso Zehntausende Menschen, die umgesiedelt beziehungsweise vertrieben werden sollen. Einer Studie der Nichtregierungsorganisation Centro Alexander von Humboldt zufolge müssten 100 000 Menschen und fast 300 Dörfer dem Kanal weichen.

Daniel Ortega, Präsident Nicaraguas und altgedienter Freiheitskämpfer der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN), hatte noch 2007 betont, dass er »für kein Gold dieser Welt« den Nicaragua-See verkaufen und durch einen Kanal in Gefahr bringen würde. Mittlerweile revidierte er diese Aussage. Er habe lernen müssen, so Ortega im Oktober, dass der interozeanische Kanal »die einzige Möglichkeit ist, die Nicaragua hat, um die Armut bekämpfen zu können«. Armutsbekämpfung ist das Haupt- und zugleich Totschlagargument der Regierung für den Bau des Kanals. Nicaragua ist das zweitärmste Land Lateinamerikas, fast die Hälfte der Bevölkerung muss mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen. Um die Armut wirkungsvoll bekämpfen zu können, benötige es ein Wachstum von acht bis zehn Prozent, so die Regierung. Der Kanal würde dem Land bereits in der Bauphase fast 15 Prozent jährliches Wachstum bescheren und so würde nicht nur die Armut verschwinden, sondern das Land zu unvorstellbarem Wohlstand gelangen. Dies will zumindest Ortega glauben machen, der jüngst betonte, dass der Kanal Nicaragua zur »endgültigen Unabhängigkeit« verhelfen werde. Die Mehrheit der Bevölkerung scheint ihm das abzunehmen und steht, wenn auch vorsichtig optimistisch, hinter dem ambitionierten Projekt. Aber nicht nur Ökonomen bezweifeln die Rechnung Ortegas. Auch der mit dem chinesischen Unternehmen Hongkong Nicaragua Canal Development Investment Group (HKND) geschlossene Vertrag über den Bau des Kanals klingt so gar nicht nach »Unabhängigkeit«.
Sowohl die Ausmaße und die Auftragsvergabe des Projekts als auch die bisherige Umsetzung der Planung erinnern eher an die Zeiten, als Nicaragua noch unter quasi kolonialer Verwaltung der USA und ausländischer Unternehmen stand. Innerhalb von drei Tagen vergab der FSLN, der die absolute Mehrheit im Parlament stellt, den Auftrag an das Unternehmen, ohne dass eine öffentliche Ausschreibung stattgefunden hatte. HKND bekam für die ersten 50 Jahre die exklusiven Rechte für den Bau und den Betrieb des Kanals, verlängerbar um weitere 50 Jahre. Das Unternehmen hatte freie Wahl hinsichtlich der Route und darf alle dafür benötigten Ländereien enteignen. Sämtliche während der Bauzeit gefundenen Rohstoffe gehören HKND, und wenn der Kanal erst einmal in Betrieb ist, wird das Unternehmen sämtliche Einnahmen für sich behalten und ist zudem für ein ganzes Jahrhundert von Steuern befreit. Zugleich wurde HKND präventiv von allen möglichen Schadensersatzforderungen befreit, für mögliche Umweltschäden muss der Staat aufkommen.
Was die Beurteilung der Umweltfolgen angeht, verlässt sich die Regierung ebenfalls ausschließlich auf die HKND-Gruppe und die von ihr in Auftrag gegebenen Gutachten – deren Ergebnisse noch nicht einmal veröffentlicht werden müssen. Im Gegenzug für den dubiosen Deal bekommt Nicaragua gerade einmal ein Prozent Anteile am Kanal, die alle zehn Jahre um weitere zehn Prozent aufgestockt werden, bis das Land nach einem Jahrhundert alleiniger Besitzer ist. Dazu bekommt es zehn Millionen US-Dollar jährlich ab Beginn des Betriebs. Der nicaraguanische Ökonom Julio Francisco Baéz sagte der Tageszeitung La Prensa, das Projekt bedeute »eine Transformation des Landes, in ökologischer, juristischer und ökonomischer Hinsicht und die Art und Weise, wie dies beschlossen wurde, erscheint wie ein Witz«. Der renommierte Professor für Bau- und Umwelttechnik, Pedro J. Alvarez, der sich intensiv mit dem Kanalprojekt beschäftigt hat, bezeichnete das Vergabeverfahren als »äußerst ungewöhnlich und besorgniserregend«. Er habe »noch nie solch eine einseitige Preisgabe staatlicher Souveränität« gesehen, sagte er im Gespräch mit National Geographic. Die Demons­trierenden, die in den von den Kanalplanungen betroffenen Gebieten gerade jede Woche zu Tausenden auf die Straße gehen, werfen Ortega ebenfalls vor, ein vendepatria (»Vaterlandsverräter«) zu sein. Ernesto Cardenal, bekannter Dichter, alter Kampfgefährte Ortegas und nach der Revolution für acht Jahre Kulturminister, sprach gar von »dem größten Verbrechen in der Geschichte Nicaraguas«.

Neben der Kritik am Staatschef richtet sich die Wut der betroffenen Bevölkerung vor allem gegen die chinesischen Investoren und auch ge­nerell gegen Chinesen. »Chinesen raus« wird auf den Demonstrationen skandiert, Schilder in den Dörfern verbieten Chinesen den Zutritt. Der Grund dafür ist nicht zuletzt, dass der bereits abgeschlossene Zensus in den betroffenen Gebieten von chinesischen Angestellten ausgeführt wurde, gegen den Willen der Bevölkerung und beschützt von bewaffneten nicaraguanischen Soldaten. Auch wenn es sich offensichtlich nicht um eine chinesische »Invasion« handelt, wie viele der Demonstrierenden meinen, hat das Projekt eine enorme geopolitische Bedeutung. China ­investiert bereits seit Jahren immer stärker in Lateinamerika und durch den Kanal wird die bisher noch bestehende wirtschaftliche US-Hegemonie in der Region weiter geschwächt. Im Jahr 2012 hatte China mit über 200 Milliarden US-Dollar Handelsvolumen die EU als zweitgrößten Handelspartner Lateinamerikas abgelöst und auch als Investor steht das Land nur noch knapp hinter den USA. Auch Russland will sich an dem Projekt beteiligen, Medienberichten zufolge soll gar russisches Militär den Schutz des Kanals übernehmen. Nach dessen Fertigstellung, die für 2019 geplant ist, würden die USA dann nur noch die zweitwichtigste Verbindung zwischen der West- und Ostküste Amerikas wirtschaftlich kontrollieren.
An der Diskussion um das Megaprojekt zeigen sich die veränderten machtpolitischen Verhältnisse des 21. Jahrhunderts. Ein Vorhaben gleichen Ausmaßes, durchgeführt von der USA in Zusammenarbeit mit einer ihnen wohlgesonnenen lateinamerikanischen Regierung, hätte in der ganzen Region zu großer Empörung geführt, insbesondere bei den Linksregierungen. Aber Ortega gilt noch immer als sandinistischer Held und ist eng mit den Staatschefs von Kuba, Venezuela, Ecuador und anderen Ländern des sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts verbunden. Und da der Vertrag mit China und nicht mit den USA geschlossen wurde, kann Ortega den Mythos Nicaraguas als »antiimperialistisches Bollwerk« weiter aufrecht erhalten, den er zum 35. Jahrestag der sandinistischen Revolution im Juli erneut bekräftigte. Die Demonstrierenden, die derzeit gegen ihn und das Projekt auf die Straße gehen, sehen das anders und versuchen, Ortega mit seiner eigenen Vergangenheit zu schlagen. Unter Anspielung auf die sandinistische Revolution wandten sie sich vergangene Woche an den Staatschef mit den Worten: »In den Achtzigern haben wir unsere Angst verloren. Und wenn wir sterben müssen, werden wir eben sterben.«