Die Proteste gegen die Regierung in Belgien

Regieren statt verdampfen lassen

In Belgien regiert seit Mitte Oktober eine rechte Koalition. Gegen ihre wirtschafts­liberalen Pläne mehren sich Proteste.

Zunächst wirkt es originell, wenn ein frischgebackener Staatssekretär für Migrations- und Asylpolitik mit den Worten zitiert wird: »Ich hasse meine Nationalität.« Doch Optimismus ist fehl am Platz. Zwar hatte dies der belgische Staats­sekretär Theo Francken, der am 11. Oktober mit den anderen Mitgliedern der neuen Regierung vereidigt wurde, tatsächlich gesagt, allerdings in der vergangenen Legislaturperiode, als er noch als Abgeordneter im belgischen Bundesparlament saß. Und er meinte damit, dass er statt des mehrsprachigen belgischen Bundesstaats lieber ein rein niederländischsprachiges, völkisch or­ganisiertes Flandern entstehen sähe. Der Rest des 1830 als Pufferstaat zwischen der britischen und der französischen Einflusssphäre in Europa gegründeten Königreichs, das französischsprachige Wallonien sowie die gemeinsame Hauptstadt Brüssel, dürfte dann eben sehen, wo er bleibt.
Am selben Wochenende, an dem die neue Regierung ihren Amtseid bei König Philippe ablegte, begab Francken sich zu einer Geburtstagsfeier, an der rund 20 illustre Gäste teilnahmen. Es handelte sich um den 90. Geburtstag des flämischen Politikers Bob Maes. Er gehört heute derselben Partei wie Francken an, der 2001 entstandenen Neu-Flämischen Allianz (N-VA). Während des Zweiten Weltkriegs war er unter anderem Mitglied der Nationalsozialistischen Jugend Flanderns (NSJV). Bekannt wurde Maes vor allem dadurch, dass er 1949/50 den Vlaamse Militanten Orde (VMO) gründete, eine paramilitärische rechtsextreme Organisation, die für die Unabhängigkeit Flanderns und eine Amnestie aller flämischen NS-Kollaborateure eintrat und bis 1971 bestand.

In den vergangenen Jahren hat der Aufstieg der N-VA, die als eine Variante der völkisch-konservativen Rechten gelten darf, den neofaschistischen Vlaams Belang (VB, früher Vlaams Blok) immer stärker marginalisiert und nahezu zu ­einer Splitterpartei herabgestuft. Anführer der aufstrebenden Partei ist Bart de Wever. Der 43jährige amtiert seit 2012 als Bürgermeister von Antwerpen. Nun scheint er weitgehend am Ziel seiner Träume. Das politische Fernziel seiner Partei, den belgischen Bundestaat »verdampfen« zu lassen, hat er zwar noch nicht erreicht, aber auf Bundesebene darf die flämisch-nationalistische Partei nun mitregieren. Da ihr unter anderem das Innenministerium überantwortet wurde, unterstehen der N-VA nun 90 Prozent der belgischen Bundesbeamten sowie Armee, Polizei und Geheimdienste.
Der Regierungseintritt der N-VA wurde dadurch möglich, dass die flämischen und die wallonischen Wirtschaftsliberalen der französischsprachigen Partei »Reformbewegung« (MR) und der niederländischsprachigen Open VLD sowie flämische Christdemokraten (CD&V) sich dazu entschlossen, eine »rein wirtschaftsorientierte Regierung« zu bilden, die nun auch als »Die Schwedische« bezeichnet wird. Denn die Koalition unter dem Premierminister Charles Michel (MR) vereint die Parteifarben blau für die Wirtschafts­liberalen, gelb für die flämischen Nationalisten sowie ein Kreuz für die Christdemokraten.

Seit Antritt der neuen Regierung ist Belgien wesentlich stärker polarisiert als zuvor. Es begann mit der ersten Sitzung des Parlaments nach der Regierungsbildung, die am 14. Oktober stattfand. Abgeordnete der Oppositionsparteien empörten sich über Aussagen mehrerer Regierungsmitglieder. Dazu zählten nicht nur alte Zitate Franckens, sondern auch ein neue Aussage des neuen Innenministers Jan Jambon (N-VA). Er sagte, flämische NS-Kollaborateure hätten »gute Gründe« für ihr Verhalten gehabt.
Die Regierungsvereinbarung bringt inhaltlich viel Erwartbares, etwa den Ausbau von Abschiebegefängnissen. Aber auch eher Unerwartetes steht im Koalitionsvertrag. In der Vereinbarung zur Innenpolitik, die von Amnesty International und der Liga für Menschenrechte (LDH) als »beunruhigend« bezeichnet wird, findet sich ein vage gehaltenes Kapitel zur »Bekämpfung von Radikalisierung«. Damit sind zwar auch Jihadisten gemeint, aber die Interpretation dieses Begriffs lässt sich weit dehnen. Ebenso findet sich dort eine Passage, die explizit Armeeeinsätze im Inneren zur Unterstützung der Polizei vorsieht.
Zum Leiter des Antidiskriminierungszentrums erhob die N-VA den Juraprofessor und Verfassungsrechtsexperten Matthias Storme. 2004 musste er seinen damaligen Platz in der Parteiführung der N-VA räumen, weil er infolge der Verurteilung des rechtsextremen Vlaams Blok als rassistisch erklärt hatte, dieses Urteil verpflichte ihn moralisch zu einer Stimmabgabe für die neofaschistische Partei. Er behauptete, es gebe »ein Grundrecht zu diskriminieren«. In einem Interview vom 6. November bekräftigt Storme seine Position. In Belgien verwechsele man ihm zufolge »Recht mit Moral«. »Ein Arbeitgeber muss frei sein, seine Angestellten ganz nach seinen Interessen auszuwählen, weil er sonst die Konsequenzen tragen muss«, so Storme.
In sozialer und wirtschaftspolitischer Hinsicht droht an vielen Stellen ein rabiater Kahlschlag. Die Programmatik ist in weiten Bereichen von der früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher inspiriert. In Teilen der flämischen Gesellschaft sind diese Ideen populär, ist man doch dort der Auffassung, die Wallonen und die Ausländer würden die Zeche schon zahlen.
Am 5. November berichteten die Zeitungen Het Nieuwsblad und De Standaard, chronisch Kranke würden ab Anfang 2015 bis zu 269 Euro im Monat weniger erhalten, da es ihnen künftig nicht länger erlaubt werde, den Bezug von Arbeitslosengeld mit Leistungen der Krankenkasse zu kombinieren. Die linke Partei PTB publizierte bereits am 15. Oktober Zahlen zu den eingeleiteten Reformen bei den Pensionen. Diese würden bis zu 300 Euro monatlich weniger für Rentnerinnen und Rentner bedeuten. Zudem soll das Renteneintrittsalter angehoben werden, auf 66 Jahre im Jahr 2025 und dann auf 67 Jahre bis 2030.
Die ersten, die gegen diese Pläne protestierten, waren Beamtinnen und Beamte, die mit am härtesten von den neuen Rentenregelungen getroffen werden. Außerdem traten Polizistinnen und Polizisten während der Herbstferien am Flughafen von Brüssel in einen Bummelstreik. Die staatliche Bahngesellschaft SNCB beschloss, Teilnehmerinnen und Teilnehmer »wilder Streiks« in einem beschleunigten Verfahren mit Disziplinarstrafen zu belegen.
Am 6. November fanden dann in weiten Bereichen, etwa sämtlichen öffentlichen Verkehrsbetrieben, Streiks mit hoher Beteiligung statt. Am selben Tag riefen die beiden wichtigsten Gewerkschaftsdachverbände, die sozialdemokratisch geführte FGTB mit gut einer Million Mit­gliedern und der ansonsten eher zahme christliche Gewerkschaftsbund CSC mit 1,7 Millionen Beitragszahlern, zu einer Demonstration in Brüssel auf. Dem Aufruf folgten rund 120 000 Menschen, eine große Beteiligung, da Belgien nur etwa 11,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner hat. Am Rande der Demonstration kam es im Laufe des Nachmittags zu Ausschreitungen, jedenfalls für belgische Verhältnisse: Zwei Autos wurden umgeworfen, Mülltonnen in Brand gesetzt und Wurfgeschosse auf die Polizei geschleudert. Dafür machten belgische Medien zum Teil »Anarchisten« verantwortlich. Allerdings ergibt sich aus vielen Berichten auch, dass militante Rechtsextreme eine Rolle bei den Ausschreitungen gespielt haben, an denen sich insgesamt 1 000 bis 2 000 Personen beteiligt haben sollen.
Am 24. November wird nun in vier Provinzen Belgiens – Lüttich, Luxemburg, Limburg und Antwerpen – erneut zum Streik aufgerufen, am 15. Dezember sogar zum Generalstreik.