Der Film »Traumland« von Petra Volpe

Tee und Kondome

Petra Volpe erzählt in ihrem ersten Spielfilm »Traumland« von Prostituierten, Freiern und deren Familien.

Wo Menschen sind, gibt’s schlechte Laune. Das scheint eine Devise zu sein, die die Regisseurin Petra Volpe bei ihrem ersten Spielfilm »Traumland« beherzigt. Traurig, enttäuscht und einsam ist das Figurenpersonal, das auf der Leinwand defiliert. Die spärliche Beleuchtung spendet das Rotlicht des Zürcher Bordellbezirks. Kalt ist es auch noch, schließlich spielt der Episodenfilm »Traumland« im Weihnachtsmodus. Prostituierte, alleinstehende Rentner, Betrug – dieses Jahr findet man alles unterm Tannenbaum.
Wer macht was? Die 18jährige Mutter Mia (Luna Zimić Mijović) arbeitet auf Zürichs Straßenstrich. Das Mädchen aus Bulgarien hält sich frierend an einer Zigarette fest. Zu Hause sitzt der Zuhälter, droht ihr Schläge an und besäuft sich mit dem Cousin.
Zu Mias festen Kunden gehört der trübsinnige Rolf (André Jung); die Frau hat ihn verlassen, die Tochter hasst ihn. Daneben dann der Plot mit der Streetworkerin Judith (Bettina Stucky), die die Mädchen mit Tee und Kondomen versorgt.
Später werden wir lernen, dass die stark übergewichtige Frau Abwechslung im SM-Milieu sucht. Sie datet gänzlich fremde Männer in Hotelzimmern. Auf den Strich könnte Judith nicht gehen und will das auch nicht. Nun hat sie ihre Augen verbunden, und die Männer tragen Fledermauskostüme oder Ähnliches.
Zu Kompensationsshandlungen neigt auch Martin (Devid Striesow), stinkereicher Kardiologe mit schickem Eigenheim. Die Eltern sind zu Besuch, die Familie ist aufsässig. Scheißlaune hat seine hochschwangere Ehefrau Lena (Ursina Lardi). In der Familienkutsche hat sie nämlich eine leere Tüte Analgleitmittel gefunden. Wie das wohl da hingekommen ist? »So eine Schweinerei«, gibt Martin umgehend Kund, als hätte er es vor der Szene noch geübt. Der war jedenfalls vorbereitet.
Das kleine Tütchen ist bestimmt irgendwo am Absatz hängengeblieben, empört er sich. Lena glaubt ihm kein Wort. Dreimal darf man raten, welche Dame im Auto saß, als Martin zum Getränkemarkt fuhr.
Und auch für Maria ist Mia die richtige Anlaufstelle. Ihre Nachbarin, eine Exilspanierin und Ordnungsfanatikerin im besten Alter – dargestellt von Marisa Paredes, die zur Stammbesetzung Pedro Almodóvars gehört – lebt ihren Hass an der jungen Frau aus. Vor der Waschmaschine liefern sich die beiden ihre Kämpfe. Ob das wohl gut geht? Volpe spielt mit den Zuschauern und lässt sie ins Ungewisse lachen.
Wie in der Soap haben die Figuren hier ihren Auftritt, jede stellt sich vor. Anschließend wird gespielt. Wie dies zum Beispiel die düpierte Lena macht. Die nimmt sich den Familienschützenpanzer, in dem sonst die kostbare Brut in die Kindertagesstätte chauffiert wird, und schaut mal selbst nach auf dem Straßenstrich. Wer steigt ins Auto? Mia.
Was denn die Männer wollen? »Arsch ficken und blasen – alles, was ihre Ehefrauen nicht machen«, wie Mia gegen eine Gage von mehreren hundert Franken in Schweizer Dialekt mit osteuropäischem Akzent informiert. Später zu Haus wird Lena Martin auf die Frage, ob sie sich trennen will, mitteilen: »Wieso? Wegen einer Prostituierten?«
Die beiden werden sich weiter Gedanken über ihr Sexleben machen, da ist Mia schon beim nächsten Kunden. Sie braucht Geld, um zu ihrem Kind zu reisen. Die schlecht gelaunte Maria aber hat Mias Geldversteck hinter der Waschmaschine ausfindig gemacht. Die Mittelschicht bestiehlt die Unterschicht – aus Wut, nicht aus Notwendigkeit.
Und der nächste Kunde? Ist Rolf. Der ist so einsam und traurig, dass er mit der Stricherin Weihnachten feiern will. Dann aber taucht doch die Tochter auf, und auch der zornige Vater aus dem Altenheim feiert mit. Es wird zwar peinlich, aber: Die beiden Mädchen freunden sich an. Trotzdem schmeißt Rolf Mia raus. Jetzt ist die familiäre Ruhe hergestellt. Auch bei Martin; nur ein Grundrauschen bleibt. Und während die bürgerliche Klassengesellschaft also doch noch unterm Tannenbaum zusammenfindet, ist die Bulgarin wieder am Arbeitsplatz.
Sorry, ich hab leider recht viel vom Inhalt verraten. Ich hab das aber für nötig gehalten, weil gezeigt werden soll: Hier hat eine ganz schön am Drehbuch gefeilt. Es sind in höchstem Maße konzentrierte, pointierte Szenen. »Traumland« setzt auf abrupte Dialoge, auf drastische Wendungen.
Wenn Volpe so weitermacht, entsteht vielleicht mal etwas wirklich Großes. Warum ihren Film nicht als Plädoyer verstehen für die von ihr unterstützte Initiative »Pro Quote«, die den Anteil von Regisseurinnen bei der Filmförderung anheben will? Von den 62,5 Millionen, die der Förderfonds 2013 vergeben hat, gingen knapp sechs Millionen an Regisseurinnen und etwas mehr als 56,5 Millionen an Regisseure. Und die haben jede Menge Stuss gedreht. Den sucht man in »Traumland« vergeblich. Da gibt es Witz, Ironie, Härte. Die Themen orientieren sich an dem an der Beziehungskomödie geschulten deutschsprachigen Kino: Beziehungen, Liebe, Erotik. Daraus und aus dem Rest holt die Regisseurin dann das Beste heraus.
»Traumland« erzähle davon, wie mit den Schwächsten unserer Gesellschaft umgegangen werde, sagt die Regisseurin. »Und ich glaube, das hat etwas damit zu tun, wie wir unsere Beziehungen leben, wie wir mit Ablehnung, Einsamkeit, Betrug und Schmerz, aber auch mit Verletzungen und unserem Sehnen nach Nähe und Intimität umgehen.«
Die Milieus, in denen die Figuren leben, seien unterschiedlich, vielleicht könne man von Mittelstand sprechen, weil außer Mia niemand ökonomische Probleme habe. »Das betrachte ich nicht als eine Leistung, sondern einfach als Glück.« Der Film könne auch in einer anderen wohlhabenden Stadt spielen, denn »Traumland« sei universell.
Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Kunstform Kino, eine »universelle« Geschichte zu erzählen – es ist eine soziale Herangehensweise. Volpe selbst beruft sich auf ihr Studium an der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. »Das war ursprünglich die Filmschule der DDR. Mich persönlich interessieren die Stilisierung und Überhöhung und die damit verbundene Distanzierung nicht. Wenn die Figuren lebensnah agieren, dann kann man sich nicht so leicht zurücklehnen, weil man sich möglicherweise wiedererkennt.« »Traumland« solle den Zuschauer aus der »Komfortzone« holen.
Und weil es sonst zu perfekt geworden wäre, setzt sie den Zuschauer leider dort wieder ab. Die Handlung wird gänzlich ironiefrei fortgeführt: Das starke Mädchen wird unter die Räder kommen.
Mia als pures Opfer, während die anderen wieder friedlich im Warmen sitzen! Da kehrt das Publikum aber flugs wieder in seine VIP-Lounge der Erwartungen zurück: Mia tut uns leid, aber genau das wollte diese Figur nicht. Da wird eine Symmetrie hergestellt, auf die dieser Film gut hätte verzichten können. Und nun? Was erwartet wurde, tritt ein – wo doch bisher so bewundernswürdig das Unerwartete regierte.
Um des Films willen wäre besser gewesen, dass Mia mal richtig aufräumt. Mia, das ist eine schöne, starke Frauenfigur. Man hätte ihr was Besseres gewünscht. Welche Möglichkeiten hat eine 18jährige osteuropäische Prostituierte auf Westeuropas Straßen? Soll das Kino ruhig mal konstruktive Handlungsanweisungen geben.
Zuschauererwartung hin und her: Vielleicht ist »Traumland« aber auch genau richtig so. Warum sollte ein Film auch besser sein als die Wirklichkeit.

Traumland (D 2013). Regie: Petra Volpe. Darsteller: Luna Zimic Mijovic, André Jung, Devid Striesow. Start: 20. November