Ist Mexiko ein »gescheiterter Staat«?

Wie tot ist der Staat?

Ist am Terror in Mexiko der Staat Schuld oder seine Abwesenheit? Für die Opposi­tion kann es derzeit jedenfalls nur um die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit ­gehen.

Ende Oktober im Präsidentenpalast, über 40 Männer und Frauen aus dem südmexikanischen Bundesstaat Guerrero treffen auf Präsident Enrique Peña Nieto. Die Angehörigen der Verschleppten aus Ayotzinapa – Väter, Mütter und Geschwister sowie die junge Witwe eines zu Tode Gefolterten – ignorieren alle protokollarischen Gepflogenheiten. Sie erheben sich nicht, als das Staatsoberhaupt eintritt, sie lächeln nicht und sie bedanken sich nicht artig. Stattdessen zwingen sie den Präsidenten, ihnen geschlagene fünf Stunden lang zuzuhören und zum Schluss sogar ein Protokoll mit einer Reihe von Selbstverpflichtungen handschriftlich zu unterzeichnen. Blass habe Peña Nieto ausgesehen, berichtet einer, der dabei war. Er habe sich Notizen gemacht und sei sichtlich bemüht gewesen, jeden Anwesenden mit Namen anzusprechen. Falls das Ganze als Inszenierung des eigenen guten Willens gedacht war, wie es die »revolutionär-institutionelle« Staatspartei PRI noch in jeder Krise so meisterlich vermochte, so hat die Regie hier eindeutig versagt.
Das Treffen blieb natürlich folgenlos. Das Misstrauen ist seither eher größer geworden, die Zweifel an der jüngsten regierungsamtlichen Darstellung der Ereignisse sind alles andere ausgeräumt, die Proteste im ganzen Lande schwellen immer weiter an. Dennoch ist die Szenerie symptomatisch: Sie zeugt von einer bislang kaum ­dagewesenen Schwächung der Präsidentschaft, eine Schwächung an eben jenem Punkt, an dem sich politische wie symbolische Macht in Mexiko stets verdichtete.

Damit stellt sich die Frage, was es mit dieser Staatsmacht heute auf sich hat. Haben wir es mit einem »Mafia-Staat« zu tun, wie »kriminelle Regierungen« in der internationalen Debatte neuerdings etikettiert werden, oder mit einem narco­estado, einem Narco-Staat, wie auf den mexikanischen Transparenten geschrieben steht? Und wie passen die beiden Slogans zusammen, die bei den Protestmärschen der vergangenen Wochen am öftesten zu lesen waren: »Fue el estado« (Es war der Staat), aber auch »El estado ha muerto« (Der Staat ist gestorben). Ist das überhaupt ein Widerspruch?
Ein Blick zurück: Selbst linke Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler tun sich schwer damit, das, was in Mexiko in den siebziger Jahren als gezielte Aufstandsbekämpfung betrieben wurde – und zwar mit denselben Methoden wie bei den Militärregimes Südamerikas –, als »Staatsterrorismus« zu bezeichnen. Diese Blindstelle hat womöglich auch damit zu tun, dass nicht wenige von ihnen in genau dieser Zeit aus Argentinien nach Mexiko flohen und sich nicht vorstellen konnten, dass das sich antifaschistisch gebende Gastland, das ja tatsächlich Tausende Verfolgte aufnahm, zugleich die Opposition im eigenen Land mit brutalsten Mitteln verfolgte. Tatsächlich spricht wenig dagegen, diese so selektive wie systematische Aufstandsbekämpfung, die erklärtermaßen die Vernichtung der Guerilla zum Ziel hatte, als Staatsterror zu kennzeichnen. Dieser koexistierte – typisch mexikanische Schizophrenie – mit einer »demokratischen Öffnung« in der Hauptstadt, wo in den siebziger Jahren die Kultur- und Universitätsszene geradezu aufblühte.
Was hat das nun mit der Gegenwart zu tun? Einiges, aber eben nicht alles. Zweifellos befördert die weitgehend ungebrochene Tradition der impunidad, die quasi institutionalisierte Straflosigkeit für die allermeisten Verbrechen, besonders die in Amt und Uniform verübten, die hemmungslose Ausbreitung der Gewalt. Was in Iguala zudem deutlicher als zuvor wiederkehrt, ist die aus den Zeiten des Staatsterrors bekannte Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens von Menschen. Anders als die meisten der 80 000 Ermordeten und zwischen 20 000 und 30 000 Verschwundenen der vergangenen Jahre hatten die Opfer von Iguala ein klares politisches Profil. Bislang fielen unliebsame Aktivisten oder Reporterinnen eher Attentaten und Einzelangriffen zum Opfer und nicht wie hier einem vermutlich großangelegten Auftragsmassaker. Doch der Terror im Lande, der in Iguala ja nur einen sichtbaren Höhepunkt erfuhr, ist heute kaum mehr einer kühl kalkulierenden Zentralgewalt geschuldet, die paramilitärische Killerkommandos ausschickt. Er zeugt weniger von einer zentralen Kontrollinstanz als vielmehr von einem verheerenden Kontrollverlust. Die Abwahl des PRI vor 14 Jahren hat den Einfluss der Präsidentschaft und damit auch die Macht des Staates geschwächt, die bis dahin mehr oder weniger regulierten kriminellen Ökonomien begannen aus dem Ruder zu laufen. Die Militarisierung des territorialen Konflikts mit und zwischen den konkurrierenden Kartellen, die Präsident Felipe Calderón zwischen 2006 und 2012 in die Wege leitete, tat ein Übriges, den bewaffneten Konflikt in ein offen kriegerisches Szenario zu verwandeln.

Darin ist der Staat längst kein halbwegs funktionales System von Institutionen mehr, wie es in Mexiko über viele Jahrzehnte, wenn auch mit mehr als zweifelhaften Mitteln, gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleistete – die vielzitierte »PRI-Krake«. Der mexikanische Staat ist heute ein allerorten fragmentierter Apparat, dessen Tentakel, um im Bild zu bleiben, sich längst verselbständigt haben. Diese sind in einer Vielzahl von Behörden und Regierungen – und zwar »auf Kommunal-, Landes- und Zentralebene«, wie der Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia betont – auf das Engste mit denen der organisierten Krimina­lität verfilzt. In manchen Regionen nehmen die Kartelle heute schon nicht mehr den Umweg der Bestechung, sondern kaufen sich gleich direkt die Ämter und Mandate. Narcoestado meint also weniger einen monolithischen Mafia-Staat als kollabierende Staatlichkeit, keine neue Totalität des Terrors als vielmehr seine – nicht weniger bedrohliche – Zersplitterung.
Der Präsident tritt bei alldem weniger als Drahtzieher denn als der große Abwesende in Erscheinung. Nicht nur regierungskritische Medien monieren seine fast schon bizarr anmutende Entrücktheit: Ganze zehn Tage vergingen nach der Entführung der jungen Männer, bevor Peña Nieto seine Bundesbehörden mit Ermittlungen beauftragte. Seither hat er einige hölzerne Skripte vorgetragen. Auf dem Höhepunkt der Krise brach er dann zu einer einwöchigen Reise ans andere Ende der Welt, Australien und China, auf – und erntete Hohn und Unglauben in seiner Heimat.
Dass bei den massenhaften Protesten nun auch die Forderung nach dem Rücktritt Peña Nietos laut wird, ist kaum überraschend. Darüber hinaus bringt der Slogan »Que se vayan todos« (Alle sollen abhauen), als Echo aus dem argentinischen Crash zur Jahrtausendwende, eine weit verbreitete Überzeugung auf den Punkt: dass nicht nur der Präsident, sondern die gesamte »politische Klasse«, einschließlich der linken Parteien, versagt habe. In Internet-Foren wird die Staatsfixiertheit kritisch diskutiert und libertäre Visionen von gesellschaftlicher Selbstorganisation machen die Runde, fast wie zu den Hochzeiten der Zapatisten.
Und dennoch führt kein Weg am Rechtsstaat vorbei. Selbstverteidigung, wie in Michoacán oder Guerrero, ist eine Not- und keine Dauerlösung. Zivilgesellschaftliche Wahrheitskommis­sionen, wenn sie nicht nur der Katharsis dienen, oder auch internationale Kommissionen und Gerichtshöfe sind dabei zweifellos von Nutzen. Doch nur Vertreterinnen und Vertreter eines wie auch immer neu zu legitimierenden Staates können versuchen, so etwas wie Rechtsstaatlichkeit zu implementieren: eine effektive Wende in den Ermittlungen, die die Würde der Opfer zum Ausgangspunkt nimmt, die Täter und kriminelle Netze aufdeckt und endlich mit deren Bestrafung beginnt. Das klingt bescheiden. Im heutigen Mexiko aber käme eine solche neue Staatlichkeit fast einer Revolution gleich.