Das Lollapalooza-Festival kommt 2015 nach Berlin

Wir lieben euch doch alle

Das legendäre Musikfestival Lollapalooza findet 2015 zum ersten Mal in Europa statt. Die Festivallandschaft Berlins ordnet sich neu.

Der embedded journalism, der in die Musikindustrie und ihre Verkaufsstrategien bestens eingebettete Berichterstattungsjournalismus, kann kaum an sich halten vor Freude. Jubelnd ist von »Bewegung in der deutschen Festivallandschaft« die Rede und die Berliner Regionalpresse gewährt dem amerikanischen Festivalgründer eine halbe Seite ihres zusammengestrichenen Feuilletons für ein Interview, in dem er allerlei Platitüden absondern darf. »Ich sehe ein Bedürfnis nach Liebe in eurer Stadt«, so Perry Farrell, Gründer des Lollapalooza-Festivals, im Gespräch mit der Berliner Zeitung, denn: Lollapalooza kommt nach Berlin! Das US-amerikanische Großfestival, das aus seiner Gründungszeit einen werbetechnisch gut zu verkaufenden Alternativ-Appeal konserviert hat, wird 2015 nach Stationen in Südamerika – 2001 Santiago de Chile, 2012 São Paulo (Brasilien), 2014 Buenos Aires (Argentinien) – erstmals in Europa stattfinden, auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof.
Lollapalooza ist auf dem selbsterklärten Weg zur »globalen Marke«. »Wir wollen eine Familie gründen, eine lokale Community aus Musikern und Künstlern«, sagt der Festivalchef, »Lollapalooza soll eine große Party werden«, es gehe um ein »besonderes Festivalfeeling« und um weit mehr als bloß Musik, nämlich auch um »Kunst-, Design-, Theater- und Modeprojekte«, gar um »Integrität«. Farrell kann noch so sehr versuchen, die Marktorientierung seines Festivals hinter einer hippen, coolen Fassade verschwinden zu lassen, in Wahrheit geht es allein um eines: das Geschäft. Um den Gewinn, den man mit Großevents machen kann.
Hinter fast jedem profitträchtigen Konzept steht heutzutage ein Großkonzern. Dass im Zusammenhang mit Lollapalooza gern von aufrechten Indie-Werten gefaselt wird, lenkt gekonnt davon ab, wer das Festival betreibt. Farrell spricht von seinem »Produktionsteam in den Staaten« und von »unserer Agentur, die die Musiker auswählt und bucht. Das sind die besten in ihrem Business.« Nun, auf jeden Fall sind sie die größten. Denn hinter Lollapalooza stehen neben dem Musiker Perry Farrell auch die weltgrößte und mächtigste Künstleragentur William Morris Endeavor (WME) sowie C3 Presents, eine Firma aus Austin, Texas, die erst 2007 gegründet wurde und heute der drittgrößte Konzertveranstalter der USA ist. C3 Presents produziert jährlich über 1 000 Events weltweit, darunter Großfestivals in den USA und Australien, aber auch Veranstaltungen wie die »Election Night Celebration« oder die »Inaugural Celebration« des US-Präsidenten Barack Obama 2008. Der größte Konzertveranstalter der Welt, Live Nation, strebt eine Übernahme der Mehrheitsanteile an C3 Presents an, wie im Oktober in Billboard und der New York Times zu lesen war. Das Unternehmen soll derzeit mit etwa 250 Millionen Dollar bewertet werden.
WME, der andere Mitbesitzer von Lollapalooza, ging 2009 aus einem der größten Unternehmenszusammenschlüsse in der Geschichte der Entertainmentindustrie hervor und vertritt Künstler, Unternehmen, Sportler, Institutionen und sogar Politiker aus allen Bereichen. Zu den Klienten, die WME weltweit oder in Nordamerika exklusiv vertritt, gehören Musiker und Bands wie Lady Gaga, Depeche Mode, Pet Shop Boys, Björk, Foo Fighters, Paul Kalkbrenner, Pharrell Williams und Cat Power, aber auch etliche der angesagtesten neuen Namen wie A$AP Rocky, FKA Twigs, James Blake oder The Weeknd – um nur einige Beispiele aus der vierstelligen Anzahl von Künstlern zu nennen, deren Namen sich wie ein Who is Who des Popgeschäfts lesen. Außerdem vermittelt WME Redner von Richard Branson über Condoleezza Rice bis Serena Williams und repräsentiert vor allem die meisten Filmstars unserer Tage, von Ben Affleck über Kevin Costner, Michael Douglas, John Malkovich, Emma Watson bis hin zu Catherine Zeta-Jones sowie zahlreiche erfolgreiche Filmemacher, darunter Michael Moore, Martin Scorsese, Ridley Scott und Quentin Tarantino. WME vertritt 49 Prozent der amerikanischen Fernsehautoren, Produzenten und Showmaster. Die Fernsehabteilung des Unternehmens war die erste Firma, die Showformate international verkaufte, wie zum Beispiel »Who Wants to be a Millionaire«, und spielte eine führende Rolle bei der Entwicklung des neuen Reality-Fernsehens: Big Brother, American Idol, Top Chef, Dancing with the Stars. Die »Commercials Division« von WME betreut unter anderem AT&T, Apple, Dior, Samsung, Gucci, Mercedes und Visa. Außerdem gibt es eine »Branded Lifestyle«-Abteilung. Es geht längst nicht mehr nur um die Vertretung von Künstlern, sondern darum, auf allen Ebenen in die Köpfe der Konsumenten einzudringen und sie mit Popmusik, Markenartikeln und Fernsehformaten zu manipulieren. Das Ziel ist die möglichst vielfältige Monetarisierung des Klientel allen Ebenen.
Man braucht kaum zu betonen, dass es kein wirkliches Kunststück ist, ein Festival wie das Lollapalooza mit großen Künstlernamen zu bestücken, wenn man den Konzern mit im Boot hat, der die weltweite Unterhaltungsindustrie dominiert. Umgekehrt ist es interessanter: Denn natürlich geht es hier längst um vertikale und horizontale Profitmaximierung. Wenn ein Großkonzern wie WME über einen derart lukrativen Künstlerstamm verfügt, kann ein besonders hoher Gewinn dadurch erzielt werden, dass man die Festivals, auf denen diese Künstler auftreten, gleich selbst mitorganisiert und nicht nur den Gewinn als Künstleragent, sondern eben zusätzlich auch den Gewinn als Festivalveranstalter kassiert. US-amerikanischen Medien zufolge setzte das Lollapalooza-Festival in Chicago dieses Jahr 28,8 Millionen Dollar um, die südamerikanischen Neugründungen lagen zwischen 10,2 und 16,8 Millionen.
Hierzulande wird über die zu erwartenden Umsätze und Profite nicht berichtet. Stattdessen gilt die offizielle und von den Medien an keiner Stelle hinterfragte Narration von der Einzigartigkeit Berlins. Es gebe eben so »unglaublich viele tolle Künstler und schätzungsweise 4 000 Galerien – dass die Kunstszene so floriert, gibt uns genau das Flair, das ich mir für unser Festival vorstelle«, so Farrell, der die Berliner damit umgarnt, dass das Festival »einiges von der Kultur und den Dingen, die Berlin so einzigartig machen, miteinbeziehen wird«. Ja, es gehe ihm sogar darum, »den vielversprechendsten jungen Künstlern zum Durchbruch zu verhelfen«. Was für eine Mär. Aber nun, Apple, Facebook oder Google erzählen ihren Usern auch nicht, dass sie sie ausspionieren und zu Produkten machen wollen. Das ist eben das Spiel heutzutage: Den Menschen wird vorgegaukelt, dass der von ihnen erwartete Konsum, den weltumspannende Großkonzerne organisieren, ihnen das große Glück beschert. Da sind wir mitten im aktuellen Deal aus wachsendem Konsum und Unfreiheit, eben in Herbert Marcuses »Hölle der Gesellschaft im Überfluss«. Nur, das dreiste Versprechen, ihr »Bedürfnis nach Liebe« zu befriedigen, haben die Berliner seit Erich Mielkes »Ich liebe doch alle – alle Menschen« vor 25 Jahren so frech nicht mehr gehört.
Selbstverständlich benötigen die US-amerikanischen Großkonzerne wie WME und C3 Presents an Ort und Stelle nützliche Gehilfen, die das Werk regional umsetzen und das Gelände bereiten. Bereits 2011 hat sich der britische Livemusik-Konzern Festival Republic ins Berlin Festival eingekauft. Festival Republic, an dem Live Nation, der umstrittene weltgrößte Konzertveranstalter, eine Mehrheitsbeteiligung hält, betreibt drei der größten britischen Festivals, nämlich Reading, Leeds und Latitude sowie das irische Electric Picnic und das Hove Festival in Norwegen. Und Melt! Booking, der andere Eigner des Berlin Festivals, ist Teil der Hörstmann Unternehmensgruppe (HUG), zu der die Musikzeitschrift Intro genauso gehört wie Turnschuhmessen, eine eigene Biermarke, eine Gastro- und Cateringfirma, eben ein Tourneeveranstalter und Musikfestivals wie Melt! und das Berlin Festival. Auch die HUG ist ihrer Website zufolge »geprägt vom Leitsatz Leben und Lieben für die Popkultur«. Es gehe darum, Erfahrungen »von Fan zu Fan zu teilen«, man schaffe »soziale Orte und innovative kulturelle Angebote (…), um die Menschen ein bisschen glücklicher zu machen« – »werde Teil des Ganzen!« So wird Nicoles »Ein bisschen Frieden« auf den neoliberalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts übertragen.
Man spricht eine Sprache mit den weltweiten Großkonzernen, die das Musikgeschäft dominieren. Auch die HUG unterhält eine eigene PR-Firma, die »die vielfältigen Ressourcen des HUG-Netzwerkes zu einem aktiven Kompetenz-Center bündelt«, »mehrphasige Kommunikations-Strategien konzipiert und crossmedial über ausgewählte Medien aktiviert«, kurz: die die Popkultur zugunsten des Profits der Brands und des eigenen Konzerns ins bestmögliche Licht setzt. Das 2015 in Berlin geplante Lollapalooza-Festival ist nicht mehr und nicht weniger als das jüngste Beispiel für die entfesselte Popwirtschaft unserer Zeit – weltweit agierende Konzerne veranstalten Großevents unter dem Deckmäntelchen von Freiheit und Abenteuer, wo es doch eigentlich nur um neue Abspielorte für ihren exklusiven Content geht. Der Doyen des Berliner Pop-Feuilletons, Jens Balzer, prophezeit in der Berliner Zeitung: »Für den Pop in Berlin wird 2015 ein spannendes Jahr.« Da sollte man sich nicht so sicher sein. Denn auch das andere »interessante Festivalexperiment«, das Balzer ins Feld führt, nämlich das vom staatlichen Berliner Musicboard veranstaltete Pop=Kultur-Festival, krankt an Ideenlosigkeit, die mit Fanboytum und der Hinwendung ans Pop-Großkapital übertüncht wird. Die Musikbeauftragte des Landes Berlin etwa wirft sich in die Arme von Universal Music, dem Weltmarktführer unter den Plattenfirmen und Musikverlagen, der etwa 40 Prozent des weltweiten Tonträgergeschäfts kontrolliert: »Wenn uns Universal mit tollen Leuten für Talks oder Konzerte hilft, super«, sagt Katja Lucker im Interview mit Musikmarkt und betont: »Indie gut, Major böse ist Denke von gestern.« Ach ja?
Man darf sehr skeptisch sein, ob die in Kooperation mit oder gleich unter direkter Beteiligung der Großkonzerne veranstalteten neuen Festivals 2015 die Berliner Musikszene bereichern. Hoffen wir, dass das Land Berlin den Lollapalooza-Machern wenigstens einigermaßen hohe Mieten und Gebühren abknöpft. Davon könnte dann langfristig tatsächlich die Berliner Musikszene profitieren. Ansonsten stehen Lollapalooza und wahrscheinlich auch das Pop=Kul­tur-Festival eher für die neue biedermeierliche Einfalt der globalen Popmusik. Während die Vielfalt der Popkultur in Berlin auch weiterhin von den kleinen und mittleren Firmen geprägt wird, die mit Energie, Verve und Leidenschaft das ganze Jahr über die musikalische Szene der Stadt mit ihren Veranstaltungen bereichern. Und natürlich von den vielen Musikern und Künstlern in Berlin, deren Großteil beim Lollapalooza-Kommerz wohl draußen vor den Toren des Tempelhofer Flugfeldes bleiben dürfte.