Besuch in einer besetzten Fabrik in Argentinien

Übernehmen, in aller Ruhe

Von einem Tag auf den nächsten standen 407 Angestellte einer argentinischen Druckerei auf der Straße. Der Unternehmer flüchtete, kurz darauf übernahmen die Arbeiter den Betrieb. Die Jungle World hat sie besucht.

Kilometerlang reiht sich eine Fabrik an die nächste, wenn man von Buenos Aires stadtauswärts dem Verlauf der »Panamericana« folgt. Dieses triste Industriegebiet am letzten Teilstück der Autobahn, die Mexiko mit Argentinien verbindet, ist seit einigen Monaten Schauplatz von Kämpfen zwischen organisierten Arbeitern und Arbeitgebern. Immer wieder wird die wichtige Autobahn blockiert.
Einer der erbittertsten Arbeitskämpfe findet derzeit beim Autozulieferer Lear statt, der im Mai 440 Angestellte entlassen hat. Einige von ihnen mussten mittlerweile wieder eingestellt werden, aber der Konflikt besteht fort, davon zeugen die Dauerwache der Gendarmerie und die Absperrgitter vor dem Werk.
Nicht weit entfernt, im Ortsteil Garín, gegenüber dem Riesenwerk von Ford, liegt relativ unscheinbar eine Druckerei, die in den vergangenen Monaten wegen der Übernahme durch die Belegschaft Aufmerksamkeit erregt hat. Es handelt sich um ein Werk von Donnelley, einem US-Konzern, der, wie ein rostiges Schild auf dem Firmengelände verkündet, Weltmarktführer in Sachen Druckerzeugnisse ist. Das Unternehmen beschäftigt weltweit etwa 57 000 Angestellte. Das Werk in Buenos Aires gehört zu den modernsten Druckereien des Landes, viele der am Kiosk erhältlichen Illustrierten wurden bis vor kurzem hier hergestellt. Das monatliche Volumen betrug eine halbe Million Druckbögen, was 15 Millionen 40seitigen Zeitschriften entspricht.
Per Aushang erfuhren die 407 Beschäftigten – Arbeiter und Verwaltungsangestellte – am 11. August von der Pleite Donnelleys und von ihrer Entlassung. Man solle sich unter einer Hotline-Nummer melden, hieß es, um sich über etwaige Abfindungen und Lohnausstände zu informieren. Es meldete sich aber lediglich eine automatische Ansagestimme, ein Ansprechpartner oder wirkliche Erklärungen gab es nicht. »Wir sind am Tag nach der Schließung mit einem Großteil der Kollegen wieder rein«, sagt Betriebsrat Jorge Medina, »wir haben dann erstmal die ausstehenden Aufträge fertiggemacht. Es ging vor allem um die Sicherung unserer Arbeitsplätze, darum haben wir die Fabrik übernommen.« Was vorher die argentinische Niederlassung Donnelleys war, heißt jetzt Madygraf und befindet sich unter Arbeiterkontrolle. Übernahmen von Fabriken sind in Argentinien mittlerweile häufig, Schätzungen gehen von derzeit etwa 400 Fällen aus.
Die jahrelange Organisationsarbeit sei sehr wichtig gewesen für den Erfolg der Übernahme, sagt der 31jährige Jorge Medina. Luis Campos, ein älterer Kollege, der die Vorgeschichte der Fabrik kennt, teilt seine Meinung. Er arbeitet seit 1992 dort, als das Werk noch die Hausdruckerei von Atlántida, einem der wichtigsten Verlage Argentiniens, war. »Ich war Anfang 20 und meine Familie sagte: ›Mach’ deine Arbeit sorgfältig, fall’ nicht auf und halt am besten die Klappe‹«, erzählt er, während er in der selbstverwalteten Kantine ein Stück Gemüsekuchen isst. Sie hätten damals sehr gut verdient, in den vermeintlich goldenen Jahren des Neoliberalismus, in denen Präsident Carlos Menem künstlich die Dollarbindung aufrecht erhielt – bis dieses Modell 2001 kollabierte. Der Durchschnittslohn lag bei ihnen bei um die 4 000 Pesos, etwa 4 000 US-Dollar. Ende der neunziger Jahre kaufte Donnelley die Fabrik. Das waren die Zeiten der grünen, also der peronistischen Gewerkschaftsmehrheit, schildert Luis: »Viel Bürokratie, wenig Demokratie, Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf«, so sei das gewesen.
Heute ist das anders. Es geht nicht mehr vorrangig um den Machterhalt Einzelner, sondern um basisdemokratische Entscheidungen und die Überwindung von gewerkschaftlichem Filz. Seit einigen Jahren stellt die dunkelrote Liste und damit der PTS (Sozialistische Arbeiterpartei), eine trotzkistische Partei, die ihren Schwerpunkt in den vergangenen Jahren auf die betriebliche Organisationsarbeit in den Industriegebieten von Buenos Aires gelegt hat, die Betriebsratsmehrheit. Seither fungieren bei Donnelley regelmäßige Vollversammlungen als Entscheidungsgremium. Zu Beginn jeder Versammlung wird zunächst die politische Lage im Land beurteilt, bevor man sich den fabrikinternen Themen widmet. Betriebsrat Jorge erläutert: »Wir haben die Versammlungen eingeführt und die Abstimmungen auch oft verloren. So ist das halt, wenn die Mehrheit entscheidet.« Mit der Zeit merkten sie, dass sogenannte asambleas reducidas sinnvoll sind, um vorbereitende Diksussionen zu führen und zurückhaltende Kollegen zum Mitreden zu animieren. Diese Kleingruppendiskussionen finden nicht in einem institutionalisierten Rahmen statt, sondern ergeben sich in der Kantine, beim Mate-Tee oder am Rande von Fußballspielen. Durch ihre Geschlossenheit gelang es den Arbeitern nach und nach, die rechtsbeugenden Praktiken der Geschäftsleitung zu begrenzen. Gehörte es stets zur Gewohnheit der Chefetage, immer wieder das Personal auszuwechseln – alle zwei Jahre wurden 30 Personen neu eingestellt, eingearbeitet und kurz danach 30 andere entlassen –, schob der Betriebsrat dieser Praxis den Riegel vor. Verstöße gegen Tarifverträge wurden nicht mehr akzeptiert. Ferienbestimmungen mussten genauso wie Bonustagsregelungen eingehalten werden. Beförderungen wurden eingeklagt, so dass schließlich die Zahl der Maschinisten, die auch für einfache Arbeiten qualifiziert bezahlt werden müssen, die Zahl der Maschinen übertraf. Ein Schlüsselerlebnis für viele ereignete sich im Mai 2011, nachdem 18 Kollegen entlassen worden waren. Dank des Widerstands der Arbeiterschaft mussten die Rauswürfe nach kurzer Zeit revidiert werden und auch skeptische Angestellte erkannten den praktischen Nutzen eines kämpferisches Betriebsrats.
Es sei gut möglich, dass der Mutterkonzern das Werk am Río de la Plata wegen des starken Widerstands abgestoßen habe, glaubt Jorge. Insgesamt wirkt es so, als habe die Arbeitgeberseite kapituliert, im Grunde wollte sie aber den letzten Trumpf spielen. Kurz vor der Schließung wurden ein zusätzlicher Zaun aufgebaut und die Fabrikfenster vergittert. Erst drei Monate zuvor war eine neue Maschine für 1,5 Millionen Euro gekauft worden. »Ich glaube nicht, dass der Konzern die Fabrik für immer aufgeben wollte. Die wollten uns abfinden, ein paar Wochen warten und dann alles verkaufen«, sagt der Gewerkschafter. Diese Methode sei in vielen Ländern angewandt worden.

In Garín hat die Werksschließung alle überrascht, selbst das Management. Die Jacke des operativen Geschäftsleiters, die immer noch über dem Sessel in seinem trostlosen Büro hängt, zeugt davon: Er kam, wie die Verwaltungsangestellten, nicht wieder. Der Betriebsrat beantragte noch am Tag der Schließung eine sogenannte verbindliche Schlichtung beim Arbeitsministerium der Provinz Buenos Aires, durch die der Zustand vom Vortag wiederhergestellt und eine Verhandlungsfrist festgelegt wurde. Da die Arbeitgeber nicht zum angesetzten Termin erschienen, gingen die Arbeiter wieder rein. Dabei profitierten sie davon, dass der beauftragte Sicherheitsdienst praktisch die Arbeit verweigerte. Angesichts des massenhaften Protests von Arbeitern und Unterstützern vor der Tür zogen sie der Bewachung der Fabrik einen geregelten Rückzug vor, wie Jorge schmunzelnd erzählt.
»Das ist unser Ausweg«, sagt Luis, der eigentlich Anlagentechniker ist, derzeit aber an der Rezeption arbeitet. In den vergangenen 20 Jahren hat er schon mehrere Besitzer kommen und gehen sehen: »Es kann nicht sein, dass sich das gleiche Spiel immer wiederholt: Ein Unternehmen kauft die Fabrik, es werden staatliche Subventionen kassiert, schließlich wird die Pleite erklärt und alle werden entlassen. Danach kommt das nächste Unternehmen und alles geht wieder von vorne los.« Zusammen mit 216 der ehemals 320 Fabrikarbeiter betreibt er mittlerweile die Fabrik in Eigenregie unter dem Namen Madygraf. Die Arbeiter haben nicht nur Solidarität von anderen Belegschaften und linken Gruppen erfahren, seit kurzem erhalten sie auch eine staatliche Subvention von 2 000 Pesos pro Kopf. Zusammen mit dem Solifonds reicht dies aber nicht annähernd, um die Rechnungen zu begleichen, die monatlich auflaufen. Da sie vorher relativ gut verdient haben, mit Nacht- und Wochenendarbeit kamen sie auf bis zu 15 000 Peso (knapp 1 500 Euro) monatlich, wird der gewohnte Lebensstil nun zur Herausforderung. Luis erzählt, dass sich viele Geld von Verwandten leihen müssen, andere gehen anderweitig arbeiten. Teilweise wirkt das Werk daher momentan ein wenig verwaist.
Juan Manuel Sepúlveda, der bis August für die Reinigung der Toiletten zuständig war, arbeitet nun in der Küche. Die Fabrik sei »sehr politisiert«, sagt der rothaarige Mittdreißiger, der auch Mitglied des Betriebsrats ist. Hier könne man sich mit jedem über Politik unterhalten, sagt er, während nebenan aus dem Radio schrabbeliger Punkrock schallt. »Wir haben hier schon immer eine ruhige Kugel geschoben«, stellt der großgewachsene Mann rückblickend fest. Schon lange haben sie sich nicht mehr von der Betriebsführung hetzen lassen. Laut seinen Kollegen, die in der Produktion gearbeitet haben, war es damals nicht ganz so entspannt. Sie klagen über eine hohe Belastung durch den Zeitdruck und die körperliche Anstrengung, die ständig zu Unfällen, Bandscheibenvorfällen und Sehnenscheinentzündungen geführt haben.
Jorge, der bereits seit zehn Jahren bei Donnelley arbeitet, ist ein Beispiel für die kontinuierliche Politisierung in der Fabrik. Seit gut einem Jahr ist er Mitglied des Betriebsrats. Er sagt über sich, dass er früher wilder gewesen sei und ihn erst die Verantwortung ruhiger gemacht habe. So richtig abnehmen will man das dem zurückhaltenden jungen Mann nicht. Es ist nicht der typische Politkader, ihn sich als aufbrausenden Agitator vorzustellen, fällt schwer. Vielleicht liegt das auch daran, dass er nach der Nachtschicht und drei Stunden Schlaf schon wieder vor Ort ist, um an der Verteilung von 10 000 Schulheften für bedürftige Kinder mitzuwirken, die Madygraf im Rahmen eines ersten sozialen Projekts produziert hat. Er fand es schon immer gut, erzählt er, dass die Arbeiter sich organisierten, gegen Entlassungen stellten und für ihre Rechte, einen besseren Lohn und mehr Sicherheit kämpften. Als man ihn vergangenes Jahr darauf ansprach, ob er sich im PTS organisieren wolle, willigte er ein. Er hebt hervor, dass Madygraf kein Parteiprojekt sei. Die meisten Kollegen seien unabhängig, auch wenn sie große Sympathie für die Partei verspürten. Diese wird dadurch verstärkt, dass zwei PTS-Abgeordnete seit einigen Monaten ihre Diäten auf ein in Argentinien sehr niedriges Lehrergehalt kürzen. Die Differenz zu ihrem eigentlichen Gehalt spenden sie unter anderem an den Solidaritätsfonds für die Arbeitenden.

Bei Madygraf mangelt es derzeit nicht an Aufträgen, aber deren Abrechnung gestaltet sich schwierig. Denn alle Einnahmen werden von dem zuständigen Richter und zwei Konkursverwaltern auf unbestimmte Zeit zurückgehalten und insgesamt ein Drittel wird als Gebühr abgezogen. Derzeit hält Madygraf sich durch kleinere Aufträge von linken Gruppen über Wasser und druckt Produkte, die erst später in Rechnung gestellt werden. So kommen momentan überdurchschnittlich viele Marx-Konterfeis und Demoplakate aus den Druckmaschinen. Insgesamt müssen die Arbeiter sich um die Auftragslage dank ihres guten Rufes keine Sorgen machen. Der Verlag Atlántida will auf jeden Fall weiter in dem Werk drucken und hat schon einen Brief an die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner gesandt, um die Verstaatlichung zu beschleunigen. Die Enteignung geht tatsächlich in Rekordgeschwindigkeit voran. Gegen Donnelley wird derzeit wegen Finanzbetrugs (»Störung der wirtschaftlichen Ordnung«) mit Hilfe eines Antiterrorparagraphen ermittelt. Der Konzern wies in seiner letzten Bilanz ein Vermögen von 40 Millionen US-Dollar aus und ist daher nach Ansicht der Regierung gar nicht pleite, sondern hat den Konkurs fingiert. Das Gesetzesprojekt zur Enteignung hat derweil die erste parlamentarische Hürde genommen, Anfang Dezember soll im Senat von Buenos Aires abgestimmt werden.
Um eine staatliche Fabrik unter Arbeiterkontrolle zu werden, mussten die Besetzer eine Kooperative gründen und eine Leitungskommission einrichten. »Es schien uns nicht sinnvoll, wenn der Betriebsrat zugleich auch die Leitung ist«, sagt Jorge und fügt an, dass es auf jeden Fall ein Rotationsprinzip geben werde. »Unabhängig vom Leitungsgremium werden die Entscheidungen weiterhin durch die Versammlungen getroffen werden.« Die Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle hat für sie höchste Priorität, der Staat soll sich nicht aus der Verantwortung stehlen können. Angesprochen auf die Risiken staatlicher Intervention, reagieren sie gelassen. Juan Manuel verweist auf die Erfahrung von Zanón, der Keramikfabrik in Patagonien, die das wohl bekannteste Beispiel eines übernommenen Unternehmens ist. Die Kollegen dort stehen nun, nach knapp 13 Jahren Selbstverwaltung, vor der Aufgabe, den Maschinenpark zu modernisieren. Da das notwendige Kapital fehlt und sie kein Staatsunternehmen sind, müssen sie auf öffentliche Mittel hoffen. »Außerdem ist Verstaatlichung auch eine politische Entscheidung«, erklärt Juan Manuel, »wir wollen uns nicht von Rest der Gesellschaft isolieren.« Eine weitere Forderung ist die allgemeine Priorisierung von staatlichen Unternehmen und Kooperativen bei Staatsaufträgen. Davon würden beide Seiten profitieren, denn der Staat könne günstiger produzieren und unterstützte zugleich ein soziales Unternehmen.
Bislang lässt sich festhalten, dass das Pokern Donnelleys gründlich schief gegangen ist. »Sie haben die politische Lage falsch eingeschätzt«, heißt es unisono in der Madygraf-Arbeiterschaft, wohl wissend, dass man von einer günstigen politischen Konjunktur profitiert hat. Die vermeintliche Pleite kam, als der Streit mit einigen Hedgefonds, die Argentinien bankrott sehen wollen, auf seinem Höhepunkt war. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner griff damals in einer Fernsehansprache die Werksschließung auf und verkündete, man werde sich von derartigen »Geiern« – wie Hedgefonds lokal bezeichnet werden – keine Angst machen lassen. Das Staatsoberhaupt ist dafür bekannt, Privatfehden öffentlich auszutragen. Die Tatsache, dass Paul Singer, Multimilliardär und Eigentümer besagter Hedgefonds, Verbindungen zu Donnelley unterhält, begünstigte die Parteinahme der Präsidentin. Aber auch sonst ist heute vieles anders: Es gibt eine staatliche Beratungsstelle für selbstverwaltete Betriebe und die Novelle des Konkursgesetzes im Jahr 2011 hat Übernahmen wesentlich erleichtert. Die Arbeiter von Madygraf wissen um ihr widersprüchliches Verhältnis zur Regierung, die nicht davor zurückscheut, ihre Kollegen von Lear regelmäßig mit Repression durch die von ihr befehligte Nationalpolizei und Gendarmerie zu überziehen. Sie machten nun erst einmal »in aller Ruhe« ihr Ding, wie Juan Manuel sagt, wohl wissend, auf welcher Seite sie im Zweifelsfall stehen.