Der Film »Timbuktu«

Die Herrschaft der Sharia

In Abderrahmane Sissakos Film »Timbuktu« brechen Islamisten in den Alltag einer toleranten Stadt ein. Das Leben auf den Straßen erstickt in Angst.

Eine Gazelle läuft über den Wüstensand. Gehetzt von einer Gruppe von Männern mit Schnellfeuergewehren auf einem Pick-up. Eine Schießübung in voller Fahrt. Eine aufmontierte schwarze Fahne weht, darauf der Schriftzug »Ansar Dine«, »Helfer der Religion« in der Sprache der Tuareg. Der Kampf ist international. Auf den ersten Blick sieht es wie ein Stoßtrupp des IS aus, aber es sind islamistische Kämpfer im Umland von Timbuktu. Elf Monate stand die Stadt am südlichen Rand der Sahara vom März 2012 bis zum Januar 2013 unter dem Regiment von Ansar Dine und Aqmi, al-Qaida im islamischen Maghreb. Ansar Dine ist ein Ableger von Aqmi, die in Mali entstand, Aqmi ist die Nachfolgeorganisation der Gia, die im Bürgerkrieg in Algerien in den neunziger Jahren ungezählte Überfälle, Massaker und Attentate verübte, Tausende Menschen starben. Über die islamistische Herrschaft in dem an Algerien grenzenden Nordmali hat Abderrahmane Sissako einen Spielfilm gedreht, der so heißt wie die Stadt, in der er spielt: »Timbuktu«.
Der Regisseur wurde 1961 in der Islamischen Republik Mauretanien geboren, seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Mali. Er studierte Film in Moskau, lebt in Paris und hat viel beachtete Spielfilme gedreht, so 2006 den Film »Bamako«. Der Film spielt im Hinterhof seines Elternhauses in der Hauptstadt Malis und zeigt ein fiktives Tribunal gegen den IWF und die Weltbank, weil deren Strukturanpassungsprogramme die Armen bekämpfen würden und nicht die Armut.
In den ersten Szenen von »Timbuktu« üben sich Söldner im Schießen. Was willkürlich wirkt, folgt einem Prinzip: Unterwerfung oder Tod und Zerstörung. Nachdem sie auf eine Gazelle geschossen haben, zielen die Männer auf Holzskulpturen im Wüstensand. Die kunstvoll geschnitzten Figuren sind im Stil der Dogon gefertigt. Die in Mali lebende Gruppe der Dogon ist seit Jahrhunderten für diese Holzschnitzarbeiten berühmt, die auch für religiöse Zwecke genutzt werden. Nur wenige Dogon sind Muslime, ihre Kunst gilt als unislamisch. Skulpturen von nackten Frauen werden die Brüste, die Köpfe weggeschossen. Die Splitter bleiben im Wüstensand liegen.
Die Bilder schockieren, verstören wegen des gewalttätigen Hasses auf Frauen und Andersdenkende. Während ihrer Herrschaft in Timbuktu zerstörten die islamistischen Krieger systematisch jahrhundertealte Mausoleen islamischer Gelehrter, da deren Verehrung als Heilige ihrer fundamentalistischen Auffassung vom Islam widersprach. Als sie sich angesichts der vorrückenden französischen und malischen Truppen aus Timbuktu zurückzogen, setzten sie die Bibliothek der alten islamischen Schriften in Brand. Zum Glück verbrannte nur ein kleiner Teil, weil fast alle Schriften heimlich ausgelagert worden waren.
Timbuktu ist in Westafrika weithin bekannt für seine Mausoleen und die dort beerdigten, verehrten Marabut: Gelehrte, die der als tolerant geltenden Tradition der Madrasa von Timbuktu zugerechnet werden. Im 15. und 16. Jahrhundert befand sich hier eine der größten arabischen Universitäten, intellektuelle Dispute um verschiedene Auslegungen des Islam galten nicht als zu bestrafende Blasphemie. Die islamistische Besatzung richtete sich mit rigiden Verboten und Strafen gegen das Religionsverständnis in der Stadt, gegen den Alltag der muslimischen Bevölkerung.
Abderrahmane Sissako zeigt in seinem Film eine Stadt, die von einem toleranten Islam geprägt ist – bis zu dem Zeitpunkt, als die Islamisten die Macht übernehmen. Als eine Gruppe Islamisten den örtlichen Imam um Unterstützung bitten, weist er sie zurück: »Hier wollt ihr einen Jihad führen? Ihr kommt bewaffnet und mit Schuhen in das Haus Gottes? Geht, es ist Zeit zum Beten!« Sie ziehen unverrichteter Dinge ab. In einem Gespräch beim Tee erklärt der eloquente Imam dem Anführer der Krieger, er würde ja als erster mit in den Jihad der Islamisten ziehen, sei aber so mit seinen Gebeten und seinen an Allah gerichteten Bitten um Vergebung beschäftigt, dass er dafür keine Zeit habe.
Islamisten fahren auf Motorrädern durch die Straßen und verkünden über Megaphon eine Reihe von Verboten: kein Fernsehen, kein Radio, kein Fußball, keinen Alkohol, keine Musik. Herumstehen auf den Straßen ist verboten, Frauen müssen sich verschleiern, Handschuhe und Strümpfe tragen. Abderrahmane Sissako zeigt die Islamisten als Invasoren, die in die bis dahin friedliche Stadt gläubiger Muslime einbrechen. Dass die Gelehrsamkeit in Timbuktu auf dem im Transsaharahandel erworbenen Reichtum basiert, wird nicht angesprochen – es waren vor allem Sklaven, an deren Verkauf seinerzeit gut verdient wurde. Auch die Toleranz in Timbuktu hatte ihre Grenzen – die jüdische Gemeinde wurde gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Aus dem 15. und 16. Jahrhundert existiert keine Synagoge mehr, aber architektonisch beherrschen die drei großen Moscheen, Friedhöfe und Mausoleen aus dieser Zeit das Stadtbild.
Kameramann Sofian El Fani hat die Lehmhäuser und die sandigen Straßen der Stadt in beeindruckenden Bildern eingefangen. Mit einer robusten Arri filmend, hat er auf zusätzliche Beleuchtung weitgehend verzichtet und das natürliche Licht so genutzt, dass das Publikum die Stadt wie auf einem Gang durch die verwinkelten Gassen kennenlernt. Flirrende Wüstenhitze, Dünen, Akazien, dazwischen ein großes Zeltdach, eine nomadisch lebende Hirtenfamilie wird in Alltagsszenen gezeigt. Der Mann, Kidane, singt abends zur Gitarre, Satima wäscht ihr stets unverschleiertes Haar. Toya, ihre 12jährige Tochter, lacht, umarmt ihren Vater. Die Ziegen fressen friedlich, der Waisenjunge, den sie aufgenommen haben, treibt die Kühe zur Wasserstelle. Dort tötet ein Fischer die prächtigste Kuh namens GPS, weil sie in seine Netze gelaufen ist. Der Hirte stellt den Fischer zur Rede, der Konflikt um die knappe Ressource Wasser endet tödlich. Während der Rangelei löst sich ein Schuss, auf der weiten Panoramaaufnahme glitzert das Wasser, der Fischer liegt tot in seinen Netzen. Die Sonne brennt vom Himmel und wenig später wird Kidane von den Islamisten verhaftet und des Mordes angeklagt. Laut der Sharia muss er sterben, außer, die Familie des Getöteten verzeiht ihm. Er soll der Familie 40 Kühe als Entschädigung geben. Woher nehmen? Das Sharia-Gericht tagt, wie so oft.
»Jeder Mensch ist vielschichtig«, erklärte der Regisseur in Cannes anlässlich der Filmpremiere. »Wer misshandelt, mag zugleich daran zweifeln.« In vielen Handlungssträngen wird episodenhaft der Einbruch der Terrorherrschaft der islamistischen Besatzer in den städtischen Alltag gezeigt. Viele Versuche, die Sharia zu umgehen, werden dargestellt, bis hin zu offenem Widerstand. Etwa, wenn eine Fischhändlerin sich weigert, Handschuhe beim Verkauf am Stand zu tragen. Eines Nachts ist von irgendwoher Gesang zu hören, die Islamisten schwärmen bewaffnet aus, laufen in einer längeren Sequenz über die flachen Lehmdächer. Die Szene beeindruckt, weil sie die Weite der Stadt zeigt, die die Islamisten beinahe überfordert. Die Sängerin wird gefunden, verhaftet wird auch der sie auf einer Tahardent begleitende Musiker. Die Langhalslaute steht als traditionelles Instrument für die von den Besatzern bekämpfte malische Alltagskultur. Während die Sängerin öffentlich ausgepeitscht wird, fängt sie, um die Tortur zu ertragen, wieder an zu singen, immer lauter.
In »Timbuktu« sind die Islamisten verhärtete Männer, die von außen kommen und eine intakte Gemeinschaft bedrohen. Diese Sicht wird auch durch die Sprache verdeutlicht: Alles muss gedolmetscht werden, auch die Islamisten untereinander verstehen ihre verschiedenen Varianten des Arabischen kaum. Unterschlagen wird, dass sich viele junge Männer in Timbuktu gerne den Islamisten angeschlossen und den Jihad begeistert unterstützt haben. Durch Drogen- und Menschenhandel, auch Entführungen verdienen die Islamisten im heutigen Transsaharahandel viel Geld, und das zeigen sie ebenso gerne her wie ihre modernen Waffen, Smartphones, Autos und Camcorder. Das moderne Geschäftsmodell islamistischer Rackets wird in »Timbuktu« nur angedeutet, seine Attraktivität für junge Männer nicht dargestellt. Es wird weitere Filme geben, die den Islamismus mit Bildern bekämpfen. »Timbuktu« ist ein wichtiger Anfang.

Timbuktu (Frankreich/Mauretanien 2014). Regie: Abderrahmane Sissako. Darsteller: Abel Jafri, Toulou Kiki, Ibrahim Ahmed, Kettly Noël. Start: 11. Dezember