Prozess gegen russische Neonazis mit Verbindungen zur Regierung

NSU auf Russisch

In Russland hat der Prozess gegen Mitglieder einer Neonazigruppe begonnen, die in den vergangenen Jahren mehrere Menschen ermordete. Die Neonazis verfügten auch über Kontakte in den Kreml.

Kommt es zur Aufdeckung enger Verflechtungen zwischen staatlichen Behörden und der extremen Rechten, löst dies, sollte man meinen, wenn nicht grundsätzliche Kritik an der Funktionsweise von Sicherheitsstrukturen, so doch tiefe Beunruhigung aus. Wenn dem so wäre, dann dringen jedenfalls kaum Anzeichen davon an die russische Öffentlichkeit. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass in Russland eine angemessene Reaktion angesichts ständiger Überschreitungen von Vollmachten durch Staatsvertreter ausbleibt und die Bedeutung und Auswirkungen rechtsextremer Gewalt generell unterschätzt und verharmlost werden.
Mitte November begann nach langem Vorlauf in Moskau ein Prozess, der in mancher Hinsicht das russische Pendant zum NSU-Prozess in Deutschland darstellt. Vor Gericht stehen vier Mitglieder der Neonazigruppe »Kampforganisation russischer Nationalisten« (BORN): Michail Wolkow, Maksim Baklagin, Wjatscheslaw Isajew und Jurij Tichomirow. Alle seien lediglich einzelne Mordaufträge ausführende Anhänger rechtsextremer Ideen und keinesfalls gleichberechtigte Mitglieder, behauptet jedenfalls Nikita Tichonow, der Anführer von BORN. Wegen Mordes an dem Anwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Baburowa wurde er zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt (Jungle World 14/2011). Gegen den intellektuellen Kopf der Gruppe, Ilja Gorjatschew, der eine Schlüsselfunktion als Verbindungsmann zur Präsidialverwaltung besaß, steht ein gesonderter Prozess an. Aleksej Korschunow, dessen erster Mordanschlag auf Markelow misslang, zählte zum harten Kern der Gruppe, sprengte sich allerdings 2011 im ukrainischen Saporischschja aus Versehen mit einer Granate in die Luft. Ein weiteres aktives Mitglied, Alexander Parinow, wird ebenfalls in der Ukraine vermutet. Sein genauer Aufenthaltsort ist unbekannt.

Die harten Haftbedingungen im kalten russischen Norden haben Tichonow zu einer Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden bewegt, vermutlich aber auch das Anliegen, seine gleichzeitig mit ihm zu 18 Jahren Haft verurteilte Lebensgefährtin Jewgenia Chasis aus weiteren Ermittlungen herauszuhalten. Tichonow erhielt Ende September wegen des Aufbaus von BORN, illegalen Waffenhandels und der Beteiligung an mehreren Morden zusätzliche 18 Jahre Haft. Chasis fungiert im laufenden Prozess gegen BORN derweil lediglich als Zeugin, deren bereitwillige Aussagen so manche Hintergrundinformation zu der mörderischen Kampftruppe und ihren Verbindungen bis hinein in die Machtzentrale des russischen Staats hinzufügte.
Die Liste der vor Gericht verhandelten Mordfälle ist lang und betrifft neben führenden Angehörigen der Antifaszene auch Migranten aus Mittel­asien, Kaukasier und einen Richter, den im April 2010 erschossenen Eduard Tschuwaschow, der wegen seiner unerbittlichen Haltung gegenüber neonazistischen Gewalttätern ins Visier von BORN geraten war. Zur Ermordung einer Reihe weiterer bekannter Persönlichkeiten kam es nicht mehr, dabei reichten die diesbezüglichen Ambitionen der Gruppe bis zu einem hohen Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche und dem Anwalt von Michail Chodorkowskij, Wadim Kljuw­gant. Dessen »Vergehen« bestand darin, dass es ihm gelungen war, den politischen Hintergrund eines Messerangriffs in einer Moskauer Synagoge 2006 vor Gericht als strafrelevant durchzusetzen. Ein Umstand, der in der russischen Rechtsprechung Aufmerksamkeit verdient. Dabei bauten die Angeklagten sogar auf einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung. Hinsichtlich der Tatmotive ist der Mord an Sos Chatschikian bezeichnend. Baklagin und Isajew erschossen den armenischen Taxifahrer, der wenige Monate zuvor die Angestellte eines Telefonladens angegriffen haben soll, »zur Schaffung einer positiven Meinung über BORN« in der Öffentlichkeit.

Der Vorläufer von BORN agierte Ende der neunziger Jahre unter dem Label »OB-88«, was für »Vereinigte Brigade« und »Heil Hitler« steht. Ziel war es, über diverse Fussballfanclubs verstreute fanatische Anhänger der »weißen Rasse« in einer Dachorganisation zusammenzubringen. Allerdings bestand diese Gruppe nur bis zum Herbst 2001. Nachdem »OB-88« ein Pogrom auf einem Markt im Moskauer Stadtteil Tsaritsyno initiiert hatte, wurde die Gruppe von der Miliz zerschlagen. Michail Wolkow saß eine mehrjährige Haftstrafe ab als einer der Verantwortlichen für die gewalttätigen Übergriffe, bei denen zwei Dutzend Menschen teils schwer verletzt worden und mindestens drei ums Leben gekommen waren. Als Ideengeber hatte damals ein ehemaliger Milizionär fungiert.
In der Zwischenzeit lernten sich Tichonow und Gorjatschew kennen und begannen ihre Zusammenarbeit in der Redaktion der Zeitschrift Russkij obraz (Russische Gestalt). Die Idee zur Gründung einer gleichnamigen politischen Vereinigung hatte sich Gorjatschew aus Serbien abgeschaut. Über Russkij obraz hoffte er, junge Nationalisten in Machtpositionen hieven zu können. Das dahinterstehende Kalkül war simpel: Durch Loyalität gegenüber der Regierung würde es mit etwas Geschick auf Dauer gelingen, alle anderen Konkurrenten in dem überschaubaren Feld diverser kremlnaher Jugendorganisationen auszuschalten.
Für den Erfolg sind förderliche Bekanntschaften unabdingbar. 2007 war es so weit. Zu diesem Zeitpunkt versteckte sich Tichonow wegen Mordverdachts bereits vor der Polizei und kam deshalb für eine Tätigkeit in legalen Gruppen nicht mehr in Frage. Ilja Gorjatschew machte die Bekanntschaft des Geschäftsmanns Leonid Simunin, für den er zu arbeiten begann, und Aleksej Mitrjuschins, eines einflussreichen Anführers Moskauer Fußballhooligans. Beide fungierten in der Präsidialverwaltung als Kontaktleute zu Hooligans und zur rechten Szene und nahmen in der Folge Führungspositionen in der kremlnahen Jugendorganisation »Mestnyje« (Die Einheimischen) ein, die diversen Kadern aus der extremen Rechten als Schutzschirm diente. Gute Kontakte existierten außerdem zu einem Duma-Abgeordneten der Partei Einiges Russland, Maksim Mischtschenko.
Schenkt man Tichonows Aussagen Glauben, so geht die Idee des Aufbaus eines illegalen Kampfflügels der Organisation Russkij obraz auf Gorjatschew zurück, der außerdem vorgegeben habe, welche Personen vorrangig zu beseitigen seien. Er habe auch für die Weiterleitung von Informationen über die Antifaszene an das neugegründete »Zentrum zur Extremismusbekämpfung« gesorgt und im Gegenzug Passdaten einzelner aktiver Antifaschisten erhalten. So kamen die Mörder des Antifaschisten Fjodor Filatow an dessen Wohnanschrift. Unter dem Label BORN veröffentlichten die Neonazis erstmals nach dem Mord an dem jungen tadschikischen Arbeiter Salochitdin Azizow im Dezember 2008 eine Erklärung. Azizows abgeschlagenen Kopf warf Tichonow vor ein städtisches Verwaltungsgebäude im Osten Moskaus.
Anfangs schienen Gorjatschews Kontaktmänner in der Präsidialverwaltung das Vorgehen von BORN durchaus zu billigen. Das Konzept der Schwächung der zu dem Zeitpunkt auf Moskaus Straßen stark präsenten Antifa-Bewegung durch die Liquidierung ihrer Anführer schien Anklang zu finden. Stanislaw Markelow galt als fähiger politischer Kopf und als in der Linken gut vernetzt und sei dadurch besonders in Misskredit geraten. Unklar bleibt allerdings, ob der Mord an Markelow auf Leonid Simunins Hinwirken quasi als Auftragsmord der Präsidialverwaltung verübt wurde oder ob die Wahl der Opfer gänzlich auf Gorjatschew und Tichonow überlassen blieb. Simunin soll zudem vergeblich versucht haben, BORN für private Zwecke zum Schuldeneintreiben zu nutzen.
Für die Beschaffung von Schusswaffen wiederum erwies sich die Beziehung zum Journalisten Dmitrij Steschin von der voll und ganz auf Kremllinie liegenden Komsomolskaja Prawda als äußerst hilfreich. Dessen Wohnung diente Tichonow im Übrigen eine Zeit lang als Versteck. Steschin machte sich mit seinen Hetzreportagen als Kriegsreporter im Donbass einen Namen, während sich Simunin, dessen Spuren sich zwischenzeitlich verloren hatten, im Sommer als Verantwortlicher für Energiefragen in der Donezker »Volksrepublik« wiederfand. Naheliegend ist, dass er, solange der Gerichtsprozess gegen BORN läuft, versucht, sich allzu neugierigen Moskauer Journalisten zu entziehen. Im Kreml scheint Simunin hingegen nicht einmal bekannt zu sein, jedenfalls leugnet die Präsidialverwaltung, jemals einen Mitarbeiter mit diesem Namen beschäftigt zu haben. Nach den Morden an Markelow und dem Richter Tschuwaschow schien die Deckung für die Neonazis allmählich zu schwinden. Gorjatschew setzte sich zunächst nach Serbien ab, während Tichonow bereits im November 2009 in Untersuchungshaft landete.

Die Geschichte der Neonaziorganisation BORN liest sich wie ein außergewöhnlicher Fall, passt aber in das Konzept des »kontrollierten Nationalismus«, das die russische Führung seit Jahren verfolgt. Der extremen Rechten wurden weitreichende Handlungsmöglichkeiten zugestanden, gleichzeitig gab der Kreml zu verstehen, einer eventuellen »faschistischen Bedrohung« notfalls mit entsprechenden Maßnahmen zu begegnen. Während Angehörige etlicher Neonazigruppen wegen vielfachen Mordes zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, beließen es die Staatsanwaltschaften und Gerichte bei lockeren Maßregelungen führender rechter Kader. Wenn sie sich keine Gewalttaten hatten zu Schulden kommen lassen, blieb es im in der Regel bei der Androhung von Strafen oder die Strafverfahren verliefen im Sande.
Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise hat das Bedrohungspotential der russischen extremen Rechten aus der Perspektive des Machtapparats enorm an Nutzen verloren. Was bislang deren handzahme Vertreter leisteten, erfüllen nun der ukrainische »Rechte Sektor« und die allseits präsenten, geographisch jedoch klar vom russischen Territorium abgrenzbaren »Banderowtsy«. Da sich im postsowjetischen Russland die Vorstellungen von Faschismus im Allgemeinen und ukrainischen Nazi-Kollaborateuren im Besonderen auf ideologisch gefärbtes Halbwissen beziehungsweise die besiegte Gestalt eines starken deutschen Gegners beschränken, wirkt die Präsenz rechter politischer Kräfte in der Ukraine unabhängig von ihrer realen Bedeutung nur umso bedrohlicher. Für russische Neonazis bleibt zumindest vorläufig im politischen Establishment wenig Spielraum, in der Praxis hat dies vermutlich eine vermehrte Organisation im Untergrund zur Folge.