Antisemitismus in Frankreich

Das antisemitische Motiv

Nach einem brutalen Überfall in der Pariser Vorstadt Créteil versammelten sich am Wochenende hunderte Menschen, um ­gegen Antisemitismus zu protestieren.

Anderthalb Stunden Bangen um das eigene Leben, sexuelle Gewalt, antisemitische Beschimpfungen und Bedrohungen – das musste ein junges Paar am Montag vergangener Woche in der Pariser Vorstadt Créteil über sich ergehen lassen. Der 21jährige und seine 19jährige Freundin wurden bei sich zu Hause im Quartier du Lac überfallen, einem beschaulichen Stadtteil von Créteil, das ansonsten auch soziale Brennpunkte und Hochhauswüsten aufweist. Die junge Frau hatte einem Unbekannten die Tür geöffnet, weil sie geglaubt hatte, sein Gesicht wiederzuerkennen. Drei maskierte und bewaffnete Täter stürmten daraufhin in die Wohnung, ­fesselten die beiden und vergewaltigten die junge Frau.

Die antisemitische Dimension der Tat ist offenkundig. Weil die beiden sowie ihre Eltern ihr Geld allerdings entgegen der Annahme der Täter nicht zu Hause aufbewahren, fanden sie keine Beute. Die Opfer mussten antisemitische Beschimpfungen über sich ergehen lassen, mehrere das Judentum symbolisierende Gegenstände wie eine Menorah wurden zu Boden geworfen oder von der Wand gerissen. Zunächst kündigten die Täter an, auf die Eltern zu warten, um doch noch Geld zu erbeuten. Dann überlegten sie es sich anders und suchten das Weite.
Das Verbrechen, ungewöhnlich gewalttätig für einen bewaffneten Überfall, wurde Mitte voriger Woche publik. Am selben Tag waren bereits drei Tatverdächtige festgenommen worden, sie sitzen derzeit in Untersuchungshaft: zwei der Teilnehmer an dem Überfall und ein dritter junger Mann, der beim Auskundschaften des späteren Tatorts beobachtet worden war. Der dritte Mit­täter, der sich ebenfalls in der Wohnung aufhielt, ist hingegen noch flüchtig. Nach ihm wird gefahndet. Ansonsten drang über das Profil der Täter bislang wenig nach außen. Bekannt wurde ­lediglich, dass sie bereits zuvor einen ähnlichen Überfall begangen hatten, am 10. November, als sie einen jüdischen alten Mann in seiner Wohnung fesselten und prügelten.
Mehrere hundert Menschen versammelten sich am Sonntagvormittag in Créteil zu einer Kundgebung in der Nähe der überfallenen Wohnung. Die Teilnehmer waren darum gebeten worden, auf politische Erkennungszeichen zu verzichten. Innenminister Bernard Cazeneuve sagte zur selben Zeit, »der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus« müsse als dringliche »nationale Angelegenheit« behandelt werden. Er rief die Präfekten, die juristischen Vertreter des Zentralstaats in den französischen Départements, dazu auf, alle ihnen bekannt werdenden antisemitisch oder rassistisch motivierten Taten – auch Propagandadelikte – bei der Staatsanwaltschaft zu melden. Dies könnte dabei helfen, die Staatsanwaltschaft zu motivieren, systematischer zu ermitteln und das strafverschärfende antisemitische oder rassistische Tat- oder Begleitmotiv nicht zu vernachlässigen.

Ähnlich wie bereits im Mordfall Ilan Halimi im Jahr 2006, bei dem ein 23jähriger Pariser Jude entführt, als Geisel festgehalten und drei Wochen lang misshandelt worden war und an den Folgen verstarb, mischen sich bei der vorliegenden Tat antisemitische Beweggründe, Brutalität und materielle Tatmotive. »Juden haben Geld«, dieses Stereotyp liegt der Entführung von Halimi ebenso zugrunde wie dem Überfall in Créteil. Ilan Halimi war ein junger Verkäufer in einem Telefonladen und besaß keine Reichtümer, ebenso wenig wie seine Familie.
Am 14. November wurde eine Studie des bekannten konservativen Politikforschers Dominique Reynié publiziert, die antisemitische Ressentiments und Ideologieelemente in Teilen der französischen Gesellschaft belegt. Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen: Im ersten wurden 1 005 Personen aus der Bevölkerung nach ihren Parteipräferenzen befragt und dann auf ihre ­Anfälligkeit für antisemitische Argumentationen hin getestet. Im zweiten Fall wurden 575 Personen aus der muslimischen Bevölkerung befragt, wobei dieser zweite Teil der Studie sehr umstritten ist. Da die Speicherung ethnisch oder konfessionnell konnotierter Daten in Frankreich unter das »Verbot ethnischer Statistiken« fällt, konnten die Meinungsforscher in diesem Bereich nicht Menschen zu Hause anrufen. Deswegen nahmen sie ihre Studie auf der Straße vor, nach dem Zufallsprinzip. Dies ist jedoch methodisch sehr umstritten, und Nonna Meyer, eine profilierte Spezialistin für die extreme Rechte in Frankreich, widersprach am Wochenende diesem Vorgehen in einem Gastbeitrag für Le Monde. Sie befürchtet, dass optische Erkennungsmerkmale wie auffällig an den Tag gelegte religiös-kulturelle Symbole die Meinungsforscher geleitet haben könnten, während die meisten Muslime unauffällig leben und ihre Religion als Privatsache betrachten.
Jedenfalls berichten Reynié und sein Team, dass neun Prozent der Gesamtbevölkerung und elf Prozent ihrer als muslimisch definierten Auswahlgruppe zwei unter mehreren angebotenen antisemitischen Aussagen zustimmen. Nur einer solchen Aussage unter mehreren stimmen demnach 13 Prozent in der ersten und 18 Prozent in der zweiten Vergleichsgruppe zu. Zu den angebotenen Antworten gehören etwa »ein zu großer Einfluss von Juden in der Politik« und »die Verantwortung von Juden für die Wirtschaftskrise« – die letztgenannte Antwort erhält mit sechs Prozent im Durchschnitt den geringsten Zustimmungswert. Aber auch, ob Israels Palästina-Politik »rassistisch« sei, wurde gefragt, was auf die Gefahr eine Vermischung unterschiedlicher Betrachtungsebenen hindeutet. Unter den Anhängern politischer Parteien stufen die Meinungsforscher die Wählerschaft der Grünen – unter deren Anhängern widersprachen 62 Prozent allen angebotenen als antisemitisch gewerteten Aussagen – als am resistentesten ein. Die geringste Resistenz gegenüber antisemitischen Aussagen besteht bei den Anhängern des Front National, von denen nur 25 Prozent alle Aussagen ablehnten.