Die Befreiung des Nahen Ostens ist eine bürgerliche Revolution

Demokratie oder Barbarei

Die Befreiung des Nahen Ostens von Jihadismus und Diktatur erfordert eine bürgerliche Revolution und entsprechende Bündnisse.

Für den Fall, dass es jemand noch nicht bemerkt haben sollte: PKK/YPG und USA sind derzeit Verbündete. Die YPG haben Luftangriffe explizit gefordert, und ohne die Bombardierungen wäre Kobanê wahrscheinlich von den Jihadisten überrannt worden. Den libyschen Rebellen haben die meisten Linken ein solches Hilfsersuchen 2011 sehr übel genommen. Die Kurden können also wohl von Glück reden, dass sich gerade niemand anders als Projektionsfläche für Revolutionsromatik anbietet, andernfalls hätte man ihnen ihren Fauxpas vielleicht nicht verziehen.
Falsch ist nicht die Solidarisierung, sondern deren Beschränkung auf PKK und YPG, die den Kontext der arabischen Revolten ignoriert und damit das unbequeme Nachdenken über die mögliche Rolle der Linken bei der Demokratisierung des Nahen Ostens durch die Romantisierung heroischer Verlierer ersetzt. Denn verlieren werden PKK und YPG den Krieg, wenn sie isoliert bleiben. Sie bedürfen weniger der Waffen, für die nun gesammelt wird, als der Unterstützung dabei, ihre Legalisierung und Anerkennung im Westen durchzusetzen. Schließlich übt sich auch die andere Seite in Realitätsverleugnung, die US-Regierung hilft offiziell »den Kurden«, streicht aber die PKK nicht von der Terrorliste, während die deutsche Regierung am PKK-Verbot festhält.
Sollte es aber zu einer Neuordnung des Nahen Ostens kommen, käme kurdischen Parteien eine wichtige Rolle zu. PKK und YPG haben in jünge­rer Zeit Flexibilität in Ideologie und Praxis gezeigt, es ist unwahrscheinlich, dass sie sich etwa einer föderalen Lösung verweigern würden, die ihnen eine starke Position einbringt. Die Solidaritätsbewegung könnte daher eine Rolle bei der Verbürgerlichung der türkisch-syrischen Kurdenorganisationen spielen – und das wäre gut so.

Die offizielle Leitidee ist nun der »demokratische Konföderalismus«. Dass die Realität in Rojava anders aussieht, als die Ideale von Selbstverwaltung und Gleichberechtigung es vorsehen, kann nach Jahrzehnten der Diktatur und Jahren des Bürgerkriegs nicht überraschen. Weiterhin ist aber auch unklar, ob PKK und YPG ein Mehrparteiensystem akzeptieren, das ihre Führung in Frage stellt. Ohne politischen Pluralismus werden Rätedemokratie und Selbstverwaltung zur Farce, wie sich bereits nach der Oktoberrevolution gezeigt hat. Ermutigend ist vor allem, dass die kurdische Führung einen Kurswechsel für notwendig hielt. Stalinistische Direktiven und völkische Parolen gelten also nicht mehr als geeignetes Mittel, die Kurdinnen und Kurden zu begeistern – ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft sich von patriarchalen Hierarchien zu emanzipieren beginnt.
Ähnliches gilt für den Nordirak. Die Patriarchen der dort regierenden Parteien KDP und PUK waren nicht begeistert über die Entstehung von NGOs und unabhängigen Medien sowie den Aufstieg der Goran-Bewegung als dritter Partei, doch sehen sie sich gezwungen, die Demokratisierung zu akzeptieren. Debatten über Konzepte der Demokratisierung sind nicht unwichtig. Im derzeitigen Überlebenkampf aber sollte jede Organisation, die sich programmatisch zu demokratischen Prinzipien bekennt und den gesellschaftlichen Fortschritt nicht mit tödlicher Gewalt bekämpft, als Bündnispartner willkommen sein.
Und Partner, nicht nur kurdische, benötigt ein »demokratischer Konföderalismus« ja. Hier aber erschöpfen sich die Aussagen in allgemeinen Bekundungen der Kooperationsbereitschaft. Soll gemeinsam mit den arabisch-syrischen Rebellen gegen das Regime gekämpft werden? Die geschwächte arabisch-syrische Opposition kann nicht nur jeden Bündnispartner brauchen, eine Zusammenarbeit mit der YPG wäre auch ein ­Gegengewicht zum islamistischen Einfluss. Und ohne die Beseitigung des syrischen Regimes kann die kurdische Autonomie nicht von Dauer sein, denn Bashar al-Assad wird die Enklaven der YPG nur dulden, solange seine Truppen an anderen Fronten gebunden sind. Das wird mög­licherweise nicht mehr lange der Fall sein.

Wäre Assad auf sich allein gestellt, könnte ein Bündnis schlechter bewaffneter Guerillagruppen auf lange Sicht siegreich sein. Doch ihn unterstützen die Hizbollah und der Iran auch mit Bodentruppen. Gegen diese Übermacht können sich die syrischen Rebellen nur behaupten, wenn sie ihrerseits auf ausländische Unterstützung zurückgreifen – und da sind die USA the indispensable nation, auch wenn weder deren Regierung noch die Linke sie in dieser Rolle sehen wollen. Es ist ohnehin eine fragwürdige Form der Solidarität, wenn man den viel zu schlecht bewaffneten Kurdinnen, die man angeblich so ins Herz geschlossen hat, zumuten will, allein gegen eine Übermacht anzutreten. Wer nun scheinbar kämpferisch gegen den Einsatz von Nato-Bodentruppen wettert, wiederholt nur den Konsens im Nato-Hauptquartier. Das Bemerkenswerte am Konflikt mit den Jihadisten ist ja die Schluffigkeit, mit der der Westen reagiert. Im Kampf gegen den IS will man sich ein paar Jahre Zeit lassen. Sollte man nicht erwarten, dass diese Imperialisten etwas mehr Engagement bei der Verteidigung der Ölquellen zeigen, auf die sie es nach Ansicht der Traditionslinken abgesehen hatten?
Die tatsächlichen Interessen des Westens sind die Durchsetzung des Freihandelsregimes oder zumindest die Wiederherstellung der Bedingungen für eine geregelte kapitalistische Geschäftstätigkeit sowie die Wahrung der »nationalen Sicherheit«, also der Kampf gegen den islamistischen Terror, sofern er für den Westen bedrohlich erscheint. Da jeder Militäreinsatz einer nicht allzu kaltherzig klingenden Legitimation bedarf, kommt mit der responsibility to protect durch öffentlichen Druck jedoch auch ein politisch-moralisches Element ins Spiel, das die Kriegspolitik zwar nicht bestimmt, aber beeinflusst. Deshalb hat die US-Regierung in den Kampf um Kobanê doch noch eingegriffen.
Die Solidaritätsbewegung sollte sich dazu durch­ringen, den war on demand, den Militäreinsatz gegen rechtsextreme Kriegsparteien auf ausdrückliches Ersuchen einer Befreiungsbewegung oder einer demokratisch gewählten Regierung, wenigstens zu akzeptieren. Ein solches Ersuchen, vorgebracht 1991 von den irakischen Kurden, dann 1994 vom linkspopulistischen haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, 2011 von den libyschen Rebellen und nun von syrischen Aufständischen, ist ein klares Kriterium – und ein besseres als das undemokratische internationale Recht oder Entscheidungen der globalen Oligarchie im UN-Sicherheitsrat, wie es Reformpolitiker der Linkspartei bevorzugen. Wenn eine Umorientierung der Solidaritätsbewegung ihnen dennoch dabei helfen sollte, einen Ministersessel zu ergattern, wäre das ein vertretbarer Kollateralschaden.
Ums Mitmachen aber geht es nicht, denn die Solidaritätsbewegung müsste das Allerheiligste der deutschen Politik angreifen: die Außenhandelsbilanz. So nützlich die Beseitigung des IS-Kriegsgeräts an mehreren Fronten war – politisch ist die Interventionsstrategie verheerend. Zur Koalition gegen den IS gehören die ehemaligen, wenn nicht noch immer aktiven Unterstützer des Jihadismus aus den Golfmonarchien und der Türkei und nun informell auch die iranischen Machthaber. Erfolgreich hat man die übelsten religiösen Eiferer und die erbittertsten Feinde der Demokratiebewegung eingebunden, zudem stärkt der Einsatz die Position Assads. Unter diesen Bedingungen wird der Krieg auch nach einem Sieg über den IS weitergehen.
Die Alternative ist ein »demokratischer Föderalismus«, ein Bündnis der befreiten Gebiete, deren Führung sich auf demokratische und soziale Mindeststandards verpflichtet, das aber Raum für unterschiedliche Modelle lässt. Dies wäre zunächst eine Reaktion auf den Staatszerfall in ­Syrien und im Irak, könnte aber auch Anziehungskraft für Oppositionelle in anderen Staaten, nicht zuletzt im Iran, haben und würde die Demokratiebewegung in der Region stärken.

Das Ende der Apartheid hat Südafrika »nur« bürgerliche Demokratie gebracht. Doch falsch war es nicht, dass eine globale Solidaritätsbewegung für die Isolation des rassistischen Regimes gekämpft hat. Hier gilt es anzuknüpfen. Die Regionalmächte – vor allem die Golfmonarchien, der Iran und die Türkei – müssen isoliert und durch Sanktionen unter Druck gesetzt werden. Das ist schon im Fall des Iran umstritten, das profitable Bündnis mit den Golfmonarchien aufzukündigen, liegt außerhalb des Horizonts westlicher Politiker.
Die bürgerliche Demokratie gegen deren Repräsentanten durchzusetzen, ist kein romantischer, für Linke aber auch kein gänzlich neuer Job. Bei den Revolten im Nahen Osten geht es in erster Linie um Demokratie, in zweiter Linie um soziale Sicherheit, nicht aber um Sozialismus. Da hilft es wenig, eine baldige sozialrevolutionäre Radikalisierung herbeizuphantasieren oder die Abarbeitung jener To-do-Liste zu erwarten, mit der man daheim selbst nicht so recht weiterkommt. Aber eine rainbow federation im Nahen Osten, in der die Repräsentanten der kurdischen Produktionskollektive sich mit den Banken streiten, während die Ministerpräsidentin auf Facebook ihr Grußwort zur Gay-Pride-Parade in Teheran gegen reaktionäre Nörgler verteidigt, der internationale Gewerkschaftskongress in Damaskus eine globale Kampagne für einen Mindestlohn von 2 000 Dollar beschließt und die Buchmesse in Bagdad von Amos Oz eröffnet wird, dürfte als politisches Ziel ehrgeizig genug sein.