Zehn Jahre Hartz IV. Eine Bilanz

Jobs statt Arbeit

Zehn Jahre Hartz IV haben eine Spur der Verwüstung auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Ein Resümee.

Noch nie mussten so viele Beschäftigte wegen Angststörungen, Burnout, Depressionen oder Panikattacken krankgeschrieben werden. Nach den Daten der Krankenkassen sind die Fehltage wegen seelischer Erkrankungen seit Mitte der 2000er Jahre um fast 100 Prozent gestiegen. Offensichtlich machen die Arbeitsverhältnisse die Menschen krank. Wer eine Stelle hat, der quält sich lieber oder lässt sich quälen, als der Gesundheit zuliebe in den Sack zu hauen. Zehn Jahre nach Einführung der Hartz-IV-Reformen gilt in Deutschland: Jede noch so schlimme Arbeit, jeder noch so widerliche Chef, jedes noch so üble Mobbing – alles ist besser, als keinen Job zu haben. Diese Doktrin haben Millionen von Arbeitnehmern verinnerlicht.
Die Furcht vor dem sozialen Abstieg, die auch die sogenannte Mittelschicht erfasst hat, die Angst, »Hartzer« zu werden, lässt viele zu viel aushalten. Von der Arbeitsagentur haben Erwerbslose außer Repressalien nicht viel zu erwarten, die Parole vom »Fordern und Fördern« ist ein böser Etikettenschwindel. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes hat zur Zunahme prekärer Beschäftigung geführt. Aber Langzeitarbeitslose finden heute nicht schneller eine Stelle als vor der Reform. »Eine kritische Bilanz dieser Reform kommt zu dem Schluss, dass es sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System voll innerer Widersprüche handelt, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt«, urteilt der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge.

Rund 15 Millionen Menschen haben schon einmal Hartz IV bezogen. Sie haben also kein Vermögen und keinen Partner gehabt, der sie ernähren könnte – und beides in entwürdigenden Prozeduren gegenüber der Arbeitsagentur nachgewiesen. Wer einmal in der Hartz-IV-Welt gelandet ist, kommt oft nicht mehr aus ihr hinaus. Nach einer Untersuchung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung waren von der Einführung am 1. Januar 2005 bis Ende 2012 etwa 1,35 Millionen Menschen ununterbrochen auf die Fürsorge angewiesen. Bei 48 Prozent dauerte der Bezug zwar weniger als ein Jahr. Doch etliche konnten nur vorübergehend auf den Empfang verzichten.
Die hohe Arbeitslosigkeit um die Jahrtausendwende diente als Vorwand zur Einführung von Hartz IV. Ihr Rückgang danach gilt bis heute als Beleg für die Richtigkeit der Reform – fälschlicherweise. Die deutsche Wirtschaft erreichte 2006 Wachstumszahlen wie in den 15 Jahren zuvor nicht, deshalb sanken die Erwerbslosenzahlen. Rückläufig war in dieser Zeit auch der Teil der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter. »Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist auf schrumpfende Arbeitskraftreserven, verlangsamte Produktivitätsentwicklung und die Verteilung des Arbeitsvolumens auf mehr Köpfe zurückzuführen«, so der Wissenschaftler Matthias Knuth in einer Expertise für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Anteil der Arbeitslosen an den Neueinstellungen ist mit rund einem Drittel fast gleich geblieben. Einen Effekt hatte die Reform allerdings: Dieser Wirtschaftsboom ist der erste in der Geschichte der Bundesrepublik, an dem die Beschäftigten nicht in Form von Lohnsteigerungen partizipierten. Ohnehin verdienen mehr Menschen weniger. Der Anteil der Geringverdiener unter den Lohnabhängigen ist von 2005 bis 2012 von 23,1 Prozent auf 24,3 Prozent gestiegen, insgesamt 8,37 Millionen Menschen. Das ist keine Frage der Bildung. Nach Angaben der Böckler-Stiftung haben gut drei Viertel der Beschäftigten mit einem Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro einen Berufs- oder Hochschulabschluss.

Hartz IV ist vor allem eines: ein gigantisches Disziplinierungsprogramm. Wer Termine versäumt, geforderte Unterlagen nicht einreicht oder einen Job nicht akzeptiert, muss mit einer Strafe rechnen – in Form eines Geldabzugs. Die »Sanktionsquote« ist von 735 000 Sanktionen im Jahr 2009 auf über eine Million im Jahr 2012 gestiegen. Im Schnitt liegt die Strafe bei 100 Euro Abzug, der Regelsatz bei 391 Euro – für sämtliche Ausgaben mit Ausnahme von Wohnung und Heizung. Die Angst vor dem Gang zur Arbeitsagentur diszipliniert aber auch und vor allem die vielen Millionen, die in schlimmen Arbeitsverhältnissen stecken: Sie riskieren nicht, selbst zu kündigen, weil sie dann drei Monate kein Arbeitslosengeld erhalten und nach sieben Monaten in Hartz IV fallen – sofern sie keine Rücklagen haben. Sich gegen Arbeitsüberlastung, Schikanen und Ungerechtigkeiten zu wehren, ist für viele riskanter geworden. Mit den Hartz-Gesetzen ist der Kündigungsschutz in Kleinbetrieben stark vermindert worden. Früher galt er für Betriebe mit fünf, jetzt ab zehn Beschäftigten. Zehn Prozent aller Erwerbstätigen haben damit ihren Kündigungsschutz verloren. Ergebnis dieser Disziplinierung ist nicht nur die dramatische Zunahme psychischer Erkrankungen, sondern auch ein insgesamt trägerer Arbeitsmarkt. Denn jeder Jobwechsel wird zum unkalkulierbaren Risiko.
Bewegung am Arbeitsmarkt ist aber wichtig. Werden Jobs frei, können Erwerbstätige auf einen besseren Arbeitsplatz wechseln, Arbeitslose möglicherweise einen bekommen. Eine reguläre Stelle zu finden, ist nach der Deregulierung des Arbeitsmarktes unter Rot-Grün allerdings schwierig geworden. Als »Normarbeitsverhältnis« gilt eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit in einem echten, nicht auf Leiharbeit beruhenden, unbefristeten Vertragsverhältnis mit einer Wochenarbeitszeit von mindestens 21 Stunden. Das wird immer seltener. Unter den Neueinstellungen im Jahr 2012 waren nach den Erhebungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sage und schreibe 44 Prozent befristet, also fast jede zweite Stelle. Im Jahr 2001 lag der Anteil der befristeten Verträge bei Lohnabhängigen in der Bundesrepublik bei 31 Prozent.

Die am stärksten wachsende Form der atypischen Beschäftigung ist die Leiharbeit. 900 000 Menschen waren 2011 Leiharbeitende – viermal so viel wie Ende der neunziger Jahre. Sie verdienen weniger als ihre Kollegen in direkten Arbeitsverhältnissen und müssen stärker um ihren Job fürchten. Die Unternehmen bauen ihre Belegschaften ab und greifen immer öfter auf Leiharbeiter zurück. Nur sieben Prozent werden vom Entleiher übernommen. Auch Solo-Selbstständige gibt es mehr. Das sind Selbstständige, die keine Mitarbeiter bezahlen. Seit Beginn der Hartz-Reformen hat ihre Zahl fast um eine halbe Million auf vier Millionen zugenommen. Dazu gehören nicht nur die vielen Unglücklichen, die von Mitarbeitern der Arbeitsagentur aus Gründen der Statistikpflege in eine für sie völlig ungeeignete Selbstständigkeit getrieben werden, sondern auch viele Scheinselbstständige. Arbeitgeber heuern sie an, setzen sie wie reguläre Beschäftigte ein und sparen Sozialabgaben. Diese millionenfache Hinterziehung interessiert die Behörden offenbar nicht. Auch Werkverträge sind ein immer häufiger genutztes Instrument für Arbeitgeber, Sozialabgaben zu sparen. Hier will die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) immerhin 2015 tätig werden, um den ausufernden Missbrauch einzudämmen.
Auch Minijobs haben extrem zugenommen. 2012 hatten 4,8 Millionen Menschen als einzige Erwerbstätigkeit einen Minijob. Hinzu kommen etwa 2,6 Millionen Minijobs, die als Nebentätigkeit ausgeübt werden – weil das Einkommen aus dem 40-Stunden-Beruf nicht reicht. 71 Prozent der Minijobber lagen 2011 unter der Niedriglohnschwelle von 9,14 Euro, ein Viertel bekam unter sieben Euro. Lohnfortzahlung bei Krankheit, Schwangerschaft oder Urlaub ist bei Minijobs die Ausnahme.
Vor Hartz IV gab es die Arbeitslosenhilfe. Wer zuvor gut verdient hatte, konnte damit längere Zeit über die Runden kommen. Ein Zurück wird es nicht geben. Und es ist auch nicht wünschenswert. Die Alternative zur jetzigen Lage ist aber auch nicht, den Empfängern 100 Euro mehr zu zahlen. Denn die Doktrin, dass jeder noch so schlimme Job besser ist als keiner, würde damit nicht durchbrochen. Ein echter Paradigmenwechsel wäre das bedingungslose Grundeinkommen. Denn das nimmt Existenzängste. Aber dafür tritt – abgesehen von ihrer Vorsitzenden Katja Kipping – nicht einmal die Linkspartei ein.