Hartz IV und ich. Autorinnen und Autoren berichten über ihre Erfahrungen

Mein Leben mit Hartz

Ob wir wollen oder nicht: Hartz IV betrifft alle. Autorinnen und Autoren berichten von ihren Erfahrungen.

Pfand der unbegrenzten Möglichkeiten
Von Regina Stötzel
Für sich genommen mag es eine unschöne Sache sein, doch kam Hartz IV nicht allein in die Welt. Die bessere Hälfte von Hartz IV ist das Flaschenpfand; die beiden gehören zusammen wie Yin und Yang, Good Cop und Bad Cop, Angriffskrieg und Friedenspartei. Es ist so einfach wie genial: Das Geld, das Hartz IV aus dem Geldbeutel stiehlt, sammeln die Cleveren mit viel Bewegung an der frischen Luft wieder ein. Das hält gesund und munter! Die logistische Meisterleistung, die verschiedenen Behältnisse in den richtigen Läden abzugeben, bringt sogar die grauen Zellen auf Trab. Wer das Amt scheut, geht gleich zur Mülltonne. Gänzlich ohne bürokratischen Aufwand lässt sich ein hübsches Sümmchen verdienen, von dem der Ein-Euro-Jobber nur träumen kann.
Es ist ein wunderbares Geben und Nehmen, das Jürgen Trittin mit seinem Pfandsystem auf quasi alles außer Tiernahrung hervorgebracht hat. Wo früher Tonnen von Wertstoffen im Restmüll landeten, sortieren nun flinke Hände vor. Freundliche Dienstleister stehen bei Konzerthallen bereit, die nicht nur das Leergut der Musikliebhaber dankbar entgegennehmen, sondern ihnen auch noch den Weg zur kürzesten Schlange am Einlass weisen. Das System ist ausgeklügelt, es lässt niemanden im Regen stehen, sondern höchstens ein paar Meter im Regen laufen. Bescheiden und doch wirkmächtig sorgt der kleine Obolus für eine effektive Umverteilung von unten nach ganz unten. Wer noch acht Cent abzugeben hat, lässt die Flasche stehen, wer acht Cent braucht, sammelt sie ein. Das Geld liegt auf der Straße – man muss sich nur bücken!
Hartz IV hat ein Heer von erfolgreichen Ich-AGs hervorgebracht, die nicht einmal Übergangsgeld nötig hatten. Die Medien wissen von Profis zu berichten, die monatlich Tausende Euro verdienten. Noch ein kleines bisschen mehr Anstrengung und es ist möglich: vom Flaschensammler zum Millionär – dank Hartz IV.

Die Kündigung
Von Sarah Schmid
Als ich Hartz-IV-Empfängerin war, habe ich versucht, die Zeit, die ich auf dem Amt mit dem Ausfüllen von unsinnigen Anträgen und dem Schreiben von Widersprüchen verbringen musste, als bezahlte Arbeitszeit zu sehen. Immer saß ich im Flur an der Kochstraße und habe meinen Stundenlohn kopfgerechnet. Runde 700 Euro, also inklusive Miete, geteilt durch zehn oder 15 Stunden Einsatz, ergaben einen deutlich besseren Stundenlohn als der, den ich jetzt mit Schreiben von Romanen, Kurzgeschichten oder Jungle World-Glossen erziele. Natürlich habe ich heute ein viel besseres Leben, nicht unbedingt ein reicheres, aber ein sehr viel ausgefüllteres. Trotzdem hat dieser kleine Psychotrick ziemlich gut funktioniert, denn so phantasierte ich aus jedem zermürbenden Gespräch mit Sacharbeitern einfach einen schlechten Tag im Büro.
Das Schönste in dieser Zeit: Der Tag, an dem ich meinen »Job« kündigte. Ich hatte meinen monatlichen Termin, sollte wie üblich Kontoauszüge und Bewerbungen vorlegen und sagte: »Nein. Mach ich nicht mehr.« Auf der anderen Seite plötzlich der erste Augenkontakt dieses Tages, gefolgt von der üblichen Leier: »Dann bin ich leider gezwungen, Ihre Leistungen zu kürzen. Sie wissen, dass Sie zur Mitarbeit verpflichtet sind.« »Bitte sehr, machen Sie gleich eine 100prozentige Kürzung daraus.« »Wie bitte?« »Ich gehe.« »Das können Sie doch nicht machen.« »Doch, kann ich.« Kurzes Überlegen, dann: » Nun gut, das ist Ihre Entscheidung. Sie müssen uns dann nur noch einen Nachweis über Ihre neue Arbeitsstelle vorlegen und ich schließe Ihre Akte.« »Nee, muss ich nicht.« »Aber dann bleibt Ihr Fall unabgeschlossen. Sie sind dazu verpflichtet. Und ich bin verpflichtet, Ihren Vorgang abzuschließen.« Ich stand auf, sagte: »Da werden Sie wohl zur Strafe ebenfalls eine Leistungskürzung hinnehmen müssen. Wegen fehlender Mitarbeit. Da kann ich leider nichts machen, mir sind die Hände gebunden«, und verließ das Büro mit einem selten erlebten Hochgefühl. Und das ist bis heute nicht verschwunden.

Fifty Shades of Hartz
von Markus Liske
Unterm Strich muss ich gestehen, dass ich Hartz IV viel zu verdanken habe. Sicher, angenehm war es nicht, sich von einer magersüchtigen Marzahner Nazi-Blondine mit Strasspiercing und obsessiv bemalten Krallen sagen zu lassen, dass »so einer« wie ich wohl erst wieder lernen müsse, früh aufzustehen. Insbesondere da sie meine Tochter hätte sein können, sofern es jemals zur Übertragung von Erbinformationen zwischen mir und jenem Genpool gekommen wäre, aus dem die Heidi Klums, Beate Zschäpes und Fallmanagerinnen dieser Welt hergestellt werden. Aber ein echter Gewinn war das, was ihrer Einschätzung folgte. Gut, vielleicht hätte man mir, dem freischaffenden Autor, die Seminare »Wie schreibe ich einen Lebenslauf?« und »Richtig suchen im Internet« ersparen können. Als überaus vorteilhaft erwies sich dagegen eine Maßnahme, bei der ich den Umgang mit Word, Excel & Co. lernen sollte. Für nichts als meine Unterschrift und die mündliche Versicherung, dass mir diese Programme bekannt seien, erhielt ich sechs Monate lang einen Zuschuss von 200 Euro und konnte fortan vom verbitterten Krallenbiest unbelästigt zu Hause meinem Beruf nachgehen. Noch besser war das Seminar, das mich auf meine ja bereits bestehende Selbstständigkeit vorbereiten sollte. Zwar musste ich dort täglich erscheinen, bekam dafür aber beigebracht, wie man einen Businessplan so verfasst, dass einem das Jobcenter anschließend einen sündhaft teuren Laptop finanziert. Noch heute schreibe ich mit dem Ding, und obwohl so manches Jahr ins Land gegangen ist, kann es leistungsmäßig weiterhin mithalten. Für so einen Laptop mit nichts weiter bezahlen zu müssen als der Bereitschaft, sich regelmäßig demütigen, beleidigen und abstrafen zu lassen, das ist schon klasse. Dafür verzeihe ich dem Jobcenter auch, dass es mir in all der Zeit kein einziges Jobangebot geschickt hat. Obwohl ich manchmal neidisch auf meine Liebste war, der – bei gleicher Befähigung – immerhin mal »Clown auf der Kinderkrebsstation« angeboten wurde. Rückblickend kommt mir meine Hartz-IV-Existenz oft wie ein bizarrer SM-Traum vor. Dass es keiner war, davon künden heute nur noch mein Laptop, vier dicke Leitz-Ordner mit skurrilen Drohschreiben und das heimlich geschossene Foto der dürren Nazi-Blondine im Zentrum meiner Dartscheibe.

Ein Viertel Film
Von Jürgen Kiontke
Hartz IV ist uns Filmkritikern gar nicht richtig aufgefallen. Die Branche war früher arm, und sie ist es heute. Schauspieler saßen zwischen den Engagements immer schon auf dem Arbeitsamt, auch die prominenten. Gerade mal zwei Prozent von ihnen können von der Arbeit leben. Der Fünf-Sternchen-Aktrice Sibel Kekilli gebührt Dank, dies einmal öffentlich geäußert zu haben.
Naja, Künstler eben, könnte man sagen. Womit wir bei den Filmkritikern wären, auf die die Welt locker verzichten könnte, wie es neulich in der Welt stand. Wenn der Filmkritiker sich auch als Gesellschaftskritiker verstünde, wie das früher öfter mal vorgeschlagen wurde, wäre vielleicht was zu retten. Allein die Tatsache ist hinderlich, dass es die entsprechenden Filme nicht gibt, die so etwas vorgäben. Denn, logo: ohne Film keine Filmkritik.
Journalisten, Schauspieler, Drehbuchautoren, sie führen oft eine On-Off-Beziehung mit dem Sozialamt. Mal kommt was rein, mal nicht. Und Zuschauer: Laut Satz hat ein Hartz-IV-Bezieher einen Anspruch auf ein Viertel Kinokarte im Monat. Ist aber egal. Das Kino selbst ignoriert das Thema Armut in Deutschland – zu mindestens eben jenen 98 Prozent, die den Schauspielern an der Existenz fehlen.
Trotzdem stellte Hartz IV die Welt auf den Kopf. Zehn Jahre ideologisches Sperrfeuer, Ideotainment, machen es möglich. Es ermöglicht staatlich kofinanzierte Dumpinglöhne für die exportlastige Wirtschaft. Deutsche Politiker sind nimmermüde, den Kollegen in den europäischen Pleitestaaten eine ebensolche Arbeitsmarktreform anzudienen – wohl wissend, dass es nicht funktionieren kann, dass alle exportieren.
Das Hartz-System bedeutet auch ein Ende von Politik: Wer drinsteckt, steckt schnell fest. Künftige Generationen werden es danken: Da wird gearbeitet ohne Geld, was das Zeug hält. Ich glaube, 16 Monate lang absolvierte ein Jugendlicher ein Praktikum in einem Pflegeheim – mit Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Aus dem dann natürlich nichts wurde. Den Film dazu gibt’s auch noch nicht.

Hartz IV, per favore!
Von Federica matteoni
»Armutseinwanderin aus dem EU-Ausland« war ich lange, bevor es cool wurde. Als ich fest nach Berlin zog, vor genau zehn Jahren, wusste ich das allerdings nicht. Also, meine Armut war mir durchaus bewusst, und angekotzt hat sie mich damals schon ein wenig. Einen Plan, wie ich sie beenden sollte, hatte ich allerdings nicht, sprich: Ich kam nicht nach Deutschland, um reich zu werden. Eher das Gegenteil eigentlich, denn was ich hatte, war die Aussicht auf einen Job als Redakteurin bei einer charmanten linken Wochenzeitung aus Berlin. Und noch viele andere Dinge, die allerdings weniger in die Kategorie »Karriere« und mehr in die des »grenzenlosen Hedonismus« fielen. Ich hatte eben Prioritäten.
Dass auch ich heute, rein statistisch, zu den zugewanderten »Sozialschmarotzern« zählen könnte, die mal Geld vom großzügigen deutschen Staat kassiert haben, hat zwei Gründe: die europäische Schuldenkrise und mein neunjähriges Kind. Chronologisch gesehen eher umgekehrt, da die Krise jünger ist als mein Sohn. Ich gehöre zur ersten Welle der »Hartzler« aus dem EU-Ausland. Damals war die Toskana-Fraktion noch in aller Munde und ein Hauch von südländischem Akzent reichte noch, um entzückte Blicke auf sich zu ziehen. Mein Herkunftsland hatte zwar einen unmöglichen Regierungschef, zählte allerdings noch nicht zu den verrufenen »Euro-Krisenstaaten« und in der Warteschlange des Jobcenters gab es weder Rumänen noch Bulgaren. Und noch weniger Pleiteitaliener wie mich, wobei ich damals noch zum kreativen Prekariat gehörte, das bekanntlich keine Nation hat. Das sollte sich ändern, und zwar gewaltig. Mein letzter Besuch bei meinem Fallmanager liegt jetzt einige Jahre zurück, und es würde mich nicht wundern, wenn die Jobcenter heute ihre Kunden nach nationaler, religiöser oder ethnischer Herkunft sortieren und die Leistungen entsprechend verteilen würden.
Ich habe mein Hartz IV geliebt und es hat mich geliebt. Ich bin trotzdem froh, dass ich unser Verhältnis rechtzeitig beendet habe, bevor ich zur »faulen Südländerin« wurde.

Wie es auch hätte kommen können
Von Leo Fischer
Stellen wir uns einmal vor, ein beherzter Zeitreisender aus der Zukunft würde in unsere Vergangenheit reisen und das tun, wovon alle Zeitreisenden heimlich träumen: nämlich Gerhard Schröder umbringen. Es müsste relativ früh geschehen, 1998, eigentlich noch in den ersten Wochen nach der Wahl. Nach dem ersten Schock würde ein tief erschütterter Oskar Lafontaine das Ruder übernehmen, am Sozialstaat nur ein bisschen herumzupfen, statt ihn abzuschaffen, und sich natürlich nicht mit Peter Hartz ins Bett legen, sondern allerhöchstens mit den Gewerkschaften. Die PDS bliebe ein kleiner verstockter Haufen, die Reichen überwiesen grimmig ihre Vermögenssteuer, und auf den Straßen tummelten sich zehn Millionen Arbeitslose, allerdings bestens gelaunt und sehr konsumfreudig. Lafo würde 2002 abgewählt, Wolfgang Schäuble führe, weit weniger verbittert, ins Kanzleramt ein, um dann schließlich beim Irakkrieg mitzumachen. Dabei gehen natürlich viele Soldaten hops, die deutsche Friedensbewegung erstarkt, so dass 2006 wieder eine rot-grüne Koalition auf die Kabinettbank schleicht, ein Gespann Hans Eichel/Joseph Fischer etwa, weil Lafo mittlerweile von einem anderen Zeitreisenden mit FDP-Parteibuch umgebracht wurde. Weil Fischer nun ja auch schon etwas älter ist und dringender denn je in alle möglichen Aufsichtsräte möchte, setzt er das Reformpaket »Zetsche IV« durch, das eine Tötung aller Arbeitslosen über 30 sowie einen einheitlichen Maximallohn von zwei Kanten Brot erzwingt. Es gibt Massenproteste, die erbarmungslos niedergeschlagen werden. Am Ende steht eine moralisch bankrotte Sozialdemokratie, die die Hälfte ihrer Mitglieder verloren hat, sowie eine grüne Partei, die immer noch mit Bäumen und süßen Tieren assoziiert wird. 2010 folgt der Einzug Angela Merkels ins Kabinett, die nun keine zehn Jahre Zeit hatte, ihre innerparteilichen Gegner auszuschalten, sondern, sehr verhetzt und auf Druck der Banken, die Politik der sozialen Grausamkeit im Eiltempo auf Europa überträgt. Kurz und gut: 2014 wäre alles wieder so, wie wir es kennen, nur dass Helmut Kohl Bundespräsident ist. Und wir alle mit Raketenrucksäcken herumfliegen.