Syriza könnte im nächsten Jahr eine neue Regierung bilden

Tsipras ante portas

Während der Konflikt um die quantitative Lockerung in der Euro-Zone in eine neue Runde geht, bereitet sich die linke griechische Oppositionspartei Syriza auf die Regierungsübernahme vor.

Seit in der vorigen Woche die Europäische Zentralbank (EZB) eine Lockerung ihrer Geldpolitik und mögliche Käufe von Anleihen in Höhe von einer Billion Euro oder mehr in Aussicht stellte, ist der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern einer solchen Politik erneut eskaliert. Bereits im April hatte Mario Draghi, der Vorsitzende der EZB, angekündigt, dass die EZB Simulationsmodelle für ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen in Höhe von einer Billion Euro begonnen hat. Dieser Vorschlag einer quantitativen Lockerung, der auf dem US-Modell der Krisenverwaltung fußt, wurde mit den erwarteten Reaktionen begrüßt. Befürworter des US-Modells tun ihr Bestes, um zu zeigen, dass dies die einzige Lösung für die andauernde Konjunkturabschwächung in der Euro-Zone sei. Die von Deutschland angeführte Gegenseite meinte, dass eine solche Politik unverantwortlich sei und alles nur noch schlimmer machen würde.
Einerseits hat diese Meinungsverschiedenheit mit den unterschiedlichen Herangehensweisen an die Krise zu tun. Während es in den USA Konsens war, dass ein Einbruch der Nachfrage nur durch eine Erweiterung der Geldmenge (das heißt, dass der Staat Geld druckt) überwunden werden könne, stand die Euro-Zone der von Deutschland durchgesetzten Wirtschaftsideologie zufolge vor einem anderen Problem: Nötig seien Strukturreformen, die letztlich die Nachfrageprobleme automatisch bereinigen würden. Etwas vereinfacht: Die amerikanischen Politiker beschlossen, dass die strukturellen Probleme der kapitalistischen Wirtschaft nur (wenngleich temporär) ausgeglichen werden können, indem die Notenbank Federal Reserve tief in die eigene Tasche greift, um die als too big to fail angesehenen Pfeiler der Wirtschaft zu retten. Die europäischen Politiker entschieden sich dafür, den Steuerzahlern tief in ihre Taschen zu greifen, um die Banken und andere Finanzinstitutionen (die Pfeiler der Wirtschaft) zu retten. Was sich als quantitative Lockerung in den USA materialisierte, wurde in Europa in Austerität übersetzt – mit der Hauptlast auf den Schultern der südlichen Länder.
Zu Beginn hoffte Europa, das Schlimmste möge bald vorüber sein. Das funktioniert das seit Anfang 2014 nicht mehr. Befürchtungen machten die Runde, es könne zu einer Deflation kommen, die nicht nur die bereits am Rande des Zusammenbruchs stehenden südlichen Ökonomien bedrohen würde, sondern sogar Deutschland. Als Draghi das in der Euro-Zone unanständige Wort »quantitative Lockerung« aussprach, brach sofort eine erbitterte Auseinandersetzung aus.
Ein Grund dafür ist, dass im Unterschied zu den USA die Euro-Zone aus 18 unterschiedlichen Staaten besteht, die ihre je eigenen Anleihen ausgeben, weshalb die politische Entscheidung nicht leicht ist, welche Anleihen die EZB kaufen soll und welche nicht. Sollte sich die EZB auf die südlichen Staaten konzentrieren, die mehr Bedarf haben, oder auf die nördlichen, die als sicherer gelten?

Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund: Könnten europäische Staaten eigene Staatsanleihen ausgeben, die von der EZB gekauft würden, würden die Ideologie und der Mechanismus der Kontrolle durch Austerität, die das Krisenmanagement in der Euro-Zone dominieren, schneller zusammenbrechen als die Janukowitsch-Regierung in der Ukraine. Wenn Staatsschulden nicht mehr das Schreckbild wären (weil die EZB Staatsanleihen kaufen und in einem tiefen Brüsseler Bunker begraben würde), würde der Grund für die Austerität einfach verschwinden.
Natürlich würden Deutschland und die Austeritätsideologen ihre Kinder lieber als Müllwerker sehen denn einem solchen einfachen Ausweg zustimmen. Ungeachtet der diversen phantastischen Wirtschaftstheorien, die sie aufgestellt haben, um die Effektivität der quantitativen Lockerung in Frage zu stellen, wäre eine Zustimmung zur quantitativen Lockerung (nach Art der USA) in der Euro-Zone unterm Strich das Eingeständnis, dass ihr heißgeliebtes Austeritätsmanagement ein kompletter Flop ist. Wie die Deutsche Bank in ihrer Beurteilung einer möglichen Politik der quantitativen Lockerung in der Euro-Zone beiläufig erwähnte, würde diese den Druck von den Staaten nehmen, die notwendigen Strukturreformen voranzutreiben – das ist das Thema des moral hazard.

Doch was ist der beste Weg, um aus dieser Blockade herauszukommen? Weil für europäische Poli­tiker die Krise in der Euro-Zone nichts mit der in den USA zu tun hat, wird die Lösung auch nichts mit der ihrer transatlantischen Freunde zu tun haben. Obwohl sie es quantitative Lockerung nennen, wird es nicht wie eine solche aussehen. Und die EZB wird wohl keine Staatsanleihen, sondern nur Papiere kaufen, die auf dem privaten Anleihemarkt ausgegeben werden. Wie in der FAZ erneut beiläufig erwähnt wurde, als die Ankündigung öffentlich gemacht wurde, ist die Frage in der Euro-Zone, ob »der private Anleihemarkt in Europa groß genug« für die quantitative Lockerung sei.
Mit diesem Kleingedruckten wird Draghis Erklärung vom vergangenen Jahr, »alles Notwendige zu tun«, um die Euro-Zone zu retten, offenbar gekonnt in eine Politik der Weiterführung des business as usual transformiert, egal was passiert. Diese Politik versichert den europäischen Politikern, dass die vorgesehene Quantitative Lockerung auf nichts anderes herausläuft, als es privaten Unternehmen und Banken weiterhin zu erlauben, ohne Bedingungen Geld zu erhalten.
Dieses Schlupfloch dient einem doppelten Zweck. Es erlaubt Deutschland, weiterhin Austeritätsmaßnahmen zu verhängen, während fran­zösischen, italienischen und spanischen Banken und Unternehmen zu verstehen gegeben wird, dass es für ihre Länder immer noch einen Grund geben könnte, in der Euro-Zone zu bleiben – angesichts dessen, dass einige sich verständlicherweise fragen, warum eigentlich sie dies bislang tun.

Das Wirtschaftsprogramm der griechischen linken Oppositionspartei Syriza jedenfalls glorifiziert Draghis Vorschlag als lange erwartete Wende der EU-Politik. Ihr Vorsitzender Alexis Tsipras meinte sogar, Draghis Vorschlag sei genau das, was Syriza seit Beginn der Krise vertreten habe, als der Partei allgemein vorgeworfen wurde, sie sei »zu radikal«. Vermutlich versucht Syriza einfach, es allen recht zu machen, während sich die Partei darauf vorbereitet, die nächste Regierung in Griechenland zu bilden. Und glaubt man dem, was im Economist, in der Financial Times und einigen der wichtigsten Mainstream-Zeitungen in Griechenland zu lesen ist, liegt Syriza mit dieser Strategie wohl richtig.
Die Zurückhaltung, die die sogenannte Troika aus EZB, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission an den Tag legte, als es um die Details des Bailout-Programms in den Verhandlungen mit der griechischen Regierung aus Pasok und Nea Dimokratia (ND) ging, sollte in diesem Licht gesehen werden. In der politischen Klasse in Europa verbreitet sich die Ansicht, dass die griechische Regierung nicht bis zum ­regulären Ende ihrer Amtsperiode im Jahr 2016 Bestand haben wird. Kürzlich kam ein parlamentarisches Vertrauensvotum für die griechische Regierung auf lediglich 155 Stimmen, viel zu wenig, um einen neuen Präsidenten zu wählen, wofür 180 Stimmen erforderlich sind. Nach der griechischen Verfassung führt das Scheitern der Wahl des Präsidenten zur Auflösung des Parlaments und zu Neuwahlen. Da Syriza in den Wahlumfragen vorne liegt, scheinen europäische Politiker weitere Vereinbarungen über ein Bailout-Programm für Griechenland lieber mit einer Regierung treffen zu wollen, die stabiler als die heutige ist.
Am Montag beschlossen die Finanzminister der Euro-Zone eine zweimonatige »technische Verlängerung« des Bailout-Programms bis Ende Februar. Die letzte Tranche von 1,8 Milliarden Euro wird Griechenland nicht mehr dieses Jahr erhalten. Ein Grund dafür war ein Konflikt über den in der Nacht zum Montag vom griechischen Parlament verabschiedete Haushalt, die Troika zweifelt an der Korrektheit der dort zugrunde gelegten Zahlen. Ein weiterer Grund waren strittige Fragen über weitere Strukturreformen.
Offenbar sah Ministerpräsident Antonis Samaras die Verlängerung als eine Gelegenheit und verkündete daraufhin plötzlich, die Wahl eines neuen Präsidenten werde auf den 17. Dezember vorverlegt. Das scheint darauf hinzudeuten, dass Samaras zuversichtlich ist, 180 Stimmen im Parlament für seinen Kandidaten zu bekommen, aber das ist ungewiss. Dies könnte Syriza die Chance eröffnen, im Februar eine neue Regierung zu bilden.
Wie auch immer die Präsidentschaftswahl ausgehen wird, die Troika wünscht, dass eine stabile Regierung am Platz ist, um neue Maßnahmen durchzusetzen. Auch wenn der Gehorsam von Nea Dimokratia und Pasok gegenüber der Troika vorausgesetzt werden kann, scheint eine Anzahl von wirtschaftspolitischen Treffen zwischen einer Syriza-Delegation und europäischen Vertretern diese zu der Überzeugung gebracht zu haben, dass Syriza keine Bedrohung für die Fortsetzung der Austeritätspolitik darstellt.
Wie immer hängt die zukünftige Entwicklung eher von politischen Entscheidungen als von harten ökonomischen Tatsachen ab. In dem Maße, in welchem der Schein politischer Stabilität wichtig ist, kann sogar eine Syriza-Regierung von der Troika »unterstützt« und ihr genügend Zeit eingeräumt werden, Strukturreformen voranzutreiben. Sie müsste nur ein Kaninchen aus dem Hut zaubern und irgendeinen imaginären Haushaltsüberschuss oder einen noch lächerlicheren »Marktzugang« verkünden (vgl. Jungle World 7/2014). Diese Strategie, und nicht eine tatsächliche wirtschaftliche Erholung, war jedenfalls das einzige, das die Regierung Samaras die ganze Zeit über Wasser hielt.