Atilla Ara-Kovács im Gespräch über die ungarische Außenpolitik 

»Orbán ist sehr isoliert«

Seit Viktor Orbán 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident Ungarns wurde, ist das Land unter seiner Regierung nach rechts gerückt. International gerät es immer wieder in die Kritik. Atilla Ara-Kovács ist der außenpolitische Sprecher der ungarischen Oppositionspartei Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Im Europaparlament gehört die DK der sozialdemokratischen Fraktion an. Ara-Kovács hat Philo­sophie studiert und als Diplomat und Publizist gearbeitet. Mit ihm sprach die Jungle World über außenpolitische Fehler und Korruption unter Orbán.

Die ungarische Regierungspolitik wirkt wie absurdes Theater.
Wie alle abgefeimten, jedoch ungebildeten Politiker, ist Orbán gleichzeitig gefährlich und lächerlich. Für die meisten Bürger bedeutet das ein schreckliches Ausgeliefertsein, doch ihm droht das unvermeidliche, unrühmliche Scheitern. Wir sind entsetzt über die radikale Verschlechterung des amerikanisch-ungarischen Verhältnisses, gleichzeitig lachen wir laut über den jüngsten absurden Vorschlag, dass alle Jugendlichen, Poli­tiker und Journalisten jährlich eine Urinprobe für einen Drogentest abgeben sollen. Mit dieser Maßnahme, die Kriminalität bekämpfen und Kinder schützen soll, hofft die Regierung vergeblich, von der Krise abzulenken.
Ungarn hat sich international isoliert, doch gerade jetzt, wo man es dringend braucht, wird das Außenministerium drastisch umgebaut.
Ich korrigiere, nicht Ungarn hat sich isoliert, sondern seine Regierung und Ministerpräsident Viktor Orbán persönlich haben dies vollbracht. Wo immer ich in der Welt hinreise, nirgendwo spüre ich, dass man mich misstrauisch anschaut. Dieser Eindruck wird von vielen Intellektuellen bestätigt, die während der vergangenen Jahre das Land verlassen haben. Eher spürt man eine Art von Mitleid beziehungsweise Solidarität mit all jenen, die nicht Mittäter dieser schändlichen Regierung sind. Deren »säkularer« Teil ist eine mafiöse Gruppe, das »intellektuelle Hinterland« jedoch – wie es der Publizist Rudolf Ungváry festgestellt hat – eine Art »faschistische Mutation«. Orbán ist tatsächlich sehr isoliert. Die politisch interessierten Kreise wissen, wie er auf der internationalen Ebene darum bettelt, man möge ihn anerkennen oder wenigstens in einer westlichen Hauptstadt empfangen. Das Verhältnis zu Deutschland ist eine Ausnahme, doch man hört, dass er bei seinen Treffen mit Angela Merkel ständig mit Vorwürfen konfrontiert wird. Sie soll Ungarn im Februar 2015 für lediglich fünf Stunden besuchen. Überall wird vor Orbáns Nase die Türe zugeschlagen und höchstens solche Länder der Dritten Welt empfangen ihn, deren geschätzter Gast früher Ceauşescu war, der 1989 erschossene rumänische Diktator. Doch im Gegensatz zu Ceauşescu, der einen großen diplomatischen Apparat hatte tätig werden lassen, ruiniert die ungarische Regierung gerade das Außenministerium.
Man hört von Massenentlassungen.
Ja, aber das ist nicht das erste Mal. Bereits 2010 – mit der ersten Zweidrittelmehrheit der Regierung im Parlament – wurde eine bedeutsame Säuberung durchgeführt. Damals wurden mit fadenscheinigen Begründungen diejenigen Diplomaten entfernt, die nicht zu den Rechten gewechselt sind. Dies wirkte sich auch spürbar auf das professionelle Niveau des Ministeriums aus. Der damalige Außenminister, János Martonyi, war vor 1989 Mitarbeiter des kommunistischen Geheimdiensts. Diese Tatsache hat ihn nicht daran gehindert, bei einigen Kollegen in seinem Ministerium eine Tätigkeit im gleichen Geheimdienst als Vorwand für die Entlassung zu nutzen.
Nach dem Sieg bei den jüngsten Parlamentswahlen 2014 wurden dann sogar alte Mitglieder von Fidesz entlassen; mit wenigen Ausnahmen fanden sich fast alle Fachleute auf der Straße wieder. Das sind mindestens 200 Mitarbeiter! Eine Rolle spielten dabei der dem außerordentlich beschränkten neuen Außenminister, Péter Szijjártó, gegebene unbegrenzte Wirkungskreis und die Arroganz, die übrigens die Politik von Fidesz und auch von Orbán persönlich charakterisiert, seit er nach 1989 in das öffentliche Leben gelangte, eine Rolle. Innerhalb des Ministeriums wird keine wesentliche Arbeit mehr geleistet, alle warten auf den morgigen Tag beziehungsweise irgendeinen Zusammenbruch. Währenddessen fürchten sie sich vor den Vertrauten Szijjártós, seinen jungen Freunden, die nun seit Oktober Schlüsselpositionen bekleiden – ohne Fremdsprachenkenntnisse, oft sogar ohne irgendein Diplom.
Das Außenministerium soll doch umstrukturiert werden.
Die verbleibenden Diplomaten könnten dem Amt des Ministerpräsidenten zugeordnet werden. Das kann sich aber ändern, wenn der jetzige Außenminister beauftragt wird, als Außenhandelsminister zu dienen oder als Staatssekretär für die Öffnung Richtung Osten.
Das bedeutet doch, Orbán hat gemerkt, dass bezüglich des Außenministeriums ein ernster Fehler begangen wurde.
Schon möglich, dass er so fühlt, aber wir können nicht erwarten, dass er dies auch eingesteht. Die Regierung wird nichts rückgängig machen, sondern – so wie sie das bislang getan hat – nach vorne flüchten. Dass der jetzige Außenminister »gescheitert« ist, bedeutet nicht das Eingestehen eines Fehlers, sondern ist das Resultat des Drucks der entlassenen Fidesz-Diplomaten beziehungsweise ihrer Unterstützer. Unter diesen professionellen Diplomaten gab es einige, die eine gute Leistung zeigten. Auch sie jedoch haben alle europafeindlichen hysterischen Angriffe Orbáns mitgemacht, solange sie ihren gut bezahlten Posten als Botschafter hatten. Sie haben diese für Ungarn katastrophale Politik unterstützt, die Gegnerschaft zum Westen, beziehungsweise das Bedienen der Interessen der russischen Regierung.
Sie behaupten, Orbán »flüchtet nach vorn«. Wo ist dieses Vorne?
Was sich in Ungarn abspielt, hat ein Chaos erzeugt und drängt die aus mafiösen Quacksalbern bestehende Regierung zu permanenter Improvisation. Doch man kann nicht behaupten, dass die Durchsetzung der Ziele von Fidesz nicht logisch wäre. Orbán will auf alle Fälle an der Macht bleiben, die nicht nur ihm Vorteile bietet, sondern außerdem ökonomische Bedingungen schafft, die die Privilegierten seines Regimes zu den einzigen Profiteuren macht.
Das kann innerhalb der westlichen Rahmenbedingungen, für die Transparenz, Rechtssicherheit, Demokratie und Rotation zwischen den verschiedenen politischen Kräften Voraussetzung sind, nicht funktionieren. Daher ist es in Orbáns Interesse, sich von solchen hemmenden Bedingungen zu befreien und solche zu finden, die – im Gegensatz zu den westlichen – nicht seine Hände binden.
Infolgedessen ist sein Interesse, schlussendlich die westliche politische und wirtschaftliche Gemeinschaft zu verlassen. Deswegen sucht er Alternativen der Finanzierung, dafür bevorzugt er Russland, die arabische Welt und andere Staaten, wohin er gegebenenfalls einen Teil der Privatvermögen retten könnte. Die Diplomatie konzentriert sich nicht auf den Schutz ungarischer Interessen oder auf größere Bewegungsfreiheit, sondern darauf, das Fidesz-Eigentum zu verteidigen und zu mehren. Der neue Außenminister erhielt dafür eine Ermächtigung, und wenn er daran scheitert, dann setzt er die gleiche Arbeit im Außenhandel fort. Wer Orbáns Ungarn verstehen will, der muss den grenzenlosen Mafiacharakter und seine Habgier erkennen. Das Wesen dieses Systems ist die Korruption. Das Schrecklichste ist, dass dieses System mit seiner Korruption von der EU finanziert wird.
Haben die USA auf das Wesentliche hingewiesen, als sie einige führende Staatsangestellte Ungarns wegen Korruption mit Einreiseverboten belegten?
Ja, und das Wichtigste ist, dass heute immer mehr Menschen in Ungarn dies verstehen. Die Regierung versteht es auch, kann es aber nicht anerkennen. Es wäre ganz einfach, diese korrupten Personen nicht mehr zu schützen. Aber wenn Orbán dies täte, würde sein System zusammenbrechen, in dem alles und alle – im Zeichen der Korruption – sich verbinden.
Es genügt, die Oberfläche anzukratzen: In den führenden Kreisen des Fidesz sind fast alle Milliardäre, derjenige, der nur ein paar hundert Millionen hat, wird als mittelmäßig begabter Kerl bemitleidet. Das ist allgemein bekannt. Zum Beispiel hat ein enger Freund Orbáns vergessen, etwas mehr als drei Millionen Euro in seiner Steuererklärung anzugeben. Die Einreiseverbote der USA signalisieren, dass fast die ganze Fidesz-Führung schon morgen aus dem gleichen Grund davon betroffen sein könnte. Und ich hoffe sehr, dass dies bald im Interesse Ungarns und sogar Europas passiert. Das würde vielleicht auch die Augen in Brüssel eröffnen.
Denken Sie wirklich, dass man in der EU die ­Situation in Ungarn nicht kennt?
Ich habe in letzter Zeit zahlreiche westliche Politiker und Diplomaten getroffen. Die ahnen eher instinktiv, was in Ungarn vorgeht. Mehrheitlich haben sie es nüchtern und mit verständlicher Vorsicht so ausgedrückt: »In Ungarn kann nur das Chaos die Alternative zu Orbán sein.«
Wenn das System scheitert, wäre Orbán bereit, die extremistische Lumpenschicht einzusetzen, die er schon vor langer Zeit gekauft hat und mit der er sein Bündnis während der Straßenunruhen 2006 besiegelt hat. Diese bildet den Kern der sogenannten Friedensmärsche. Ich ergänze jedoch: Dieses Chaos ist eine Situation, die das Orbán-System mutwillig herbeigeführt hat, nicht seine Alternative.