Mathieu Gauidère im Gespräch über Sex und Sharia

Das Paradox der arabischen Sexualität

In seinem 2012 erschienenen Buch »Sex und Sharia« vertritt der tunesisch-französische Islamwissenschaftler Mathieu Guidère die These, dass die sexuelle Befreiung das wichtigste Ziel des »arabischen Frühlings« war. Inzwischen habe der »Islamische Staat« die Revolte gekapert und die Sexualität der Jugend grausam instrumentalisiert.

Welche Rolle hat die Sexualität während des »arabischen Frühlings« gespielt?
Im »arabischen Frühling« spielt die sexuelle Befreiung eine wichtige, außerordentliche und noch nie dagewesene Rolle. Etwas, das wir in vergangenen Volksbewegungen in der arabischen Welt nicht gesehen haben. Es gab andere Revolutionen in der Geschichte, etwa die ägyptische Revolution von 1952, die immer noch eine wichtige Referenz für die Ägypter ist und ein solches Phänomen der sexuellen Befreiung nicht kannte. Es war das erste Mal, dass insbesondere die Jugend sich sexuell befreite. Diese Befreiung wurde möglich durch das Zusammentreffen junger Männer und Frauen in öffentlichen Räumen. Sie haben sich in den Straßen getroffen, wochen-, manchmal monatelang miteinander demonstriert, sich daran gewöhnt, in der Nacht aufeinander zu achten. Dadurch haben sie sich besser kennengelernt. Sie sind offener und leidenschaftlicher geworden, mitgerissen vom Geist der Revolution. Leider ist das zu dieser Zeit nicht von den Medien transportiert worden. Die sexuelle Befreiung war keine mediatisierte, sie war weder in den Nachrichten noch der gedruckten Presse sichtbar. Sogar die sich emanzipierenden Frauen wurden nicht gewürdigt, nicht in den arabischen Ländern und auch nicht in Ländern des Okzidents, abgesehen von einer Nischenberichterstattung.
Heute ist klar, dass sich der Wunsch nach sexueller Freiheit nicht durchsetzen konnte. In Ägypten etwa wählte die Jugend anschließend die Muslimbruderschaft an die Macht. Wie erklären Sie den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach sexueller Freiheit und dem nach einer islamischen Ordnung?
In Wirklichkeit handelte es sich beim »arabischen Frühling« um politische Revolutionen als Reaktion auf die alten Regime, aber nicht um eine Revolution der Sitten und Mentalität. Das bedeutet, dass die Menschen mit den Islamisten Gegner der alten Regime wählten, aber weder mit deren Werten, noch mit deren Politik einverstanden waren. Hieraus ergibt sich das »arabische Paradox«: liberale Tendenzen im zwischenmenschlichen Verhalten, aber konservative Tendenzen im politischen Verhalten. Dieses Paradox, also das Zusammentreffen einer konservativen Revolution mit dem Streben nach Freiheit, hat dazu geführt, dass die sexuelle Befreiungsbewegung von den Islamisten vereinnahmt werden konnte. Sie wurde schon im Keim erstickt, ohne sich richtig entwickeln zu können, wie es etwa im Jahr 1968 in Europa und dem Okzident geschehen ist. 1968 gab es keine Rückkehr der Kirche ins Politische während der sexuellen Befreiung der Jugend. Ganz im Gegenteil, es hat sogar eine soziale Revolution stattgefunden, die die Mentalität radikal verändert hat. Genau das hat in der arabischen Welt nicht stattgefunden.
In Ihrem Buch »Sex und Sharia«, das vor dem Aufstieg des Islamischen Staates erschienen ist, sprechen Sie davon, dass die sexuelle Befreiung der arabischen Jugend politisch instrumentalisiert worden sei.
Es gab zahlreiche Beispiele der Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Sexualität der Jugend. Zum Beispiel haben junge Frauen im Laufe der revolutionären Wochen mit Männern geschlafen und dadurch ihre Jungfräulichkeit verloren. Die Islamisten haben dieser Praxis einen islamischen Anstrich verliehen, indem sie von »temporärer Ehe« sprachen, anstatt sie als haram, also sittenwidrig, zu verurteilen, wie sie es zuvor getan hatten. Das geschah aus dem Grund, dass die Islamisten Angst hatten, die Jugend könne sich gegen sie erheben und sie zu Fall bringen, wie sie die diktatorischen Regime vor ihnen zu Fall gebracht hatten. In der Folge sind Formen der unions spéciales entstanden: die »Lustehe« – für eine Stunde oder eine Nacht –, die »temporäre Ehe« – für eine Woche oder einen Monat –, die »Ehe auf Distanz« – für die Liebhaber neuer Technologien – und die »Ehe des Reisenden« – für alle, die in mehreren Ländern an Revolutionen teilgenommen haben. Es fand eine Multiplikation sogenannter »islamischer« Ehen statt, die in Wirklichkeit nichts anderes war als eine Anerkennung freier Vereinigungen, denen ein islamischer Stempel aufgedrückt wurde. Durch die aposteriorische Veröffentlichung von Fatwas wollten die Islamisten persönlichen und intimen Praktiken, die in dem Moment, in dem sie stattfanden, nichts Islamisches an sich hatten, wieder in einen islamischen Rahmen einfügen.
Warum gab es dieses starke Bedürfnis auch von der Jugend selbst, neuen sexuellen Praktiken, die offensichtlich nichts mit dem islamischen Gesetz gemein hatten, einen islamischen Anstrich zu verleihen? Warum gab es keine deutlicheren Versuche, Sexualität aus dem Zusammenhang der Religion zu lösen?
Das Bedürfnis, solche Praktiken in ein islamisches Gewand zu hüllen, ist vor allem ein Imperativ ideologischer und politischer Kohärenz. Anders ausgedrückt: Wenn die Islamisten es zugelassen hätten, dass die sexuellen Sitten sich weiter ohne spezifische Reglementierung außerhalb eines islamischen Rahmens entwickeln, wären sie nicht in der Lage gewesen, die konservative Revolution weiterzuführen. Schließlich hätte das im Konflikt gestanden mit den liberalen sozialen Normen und dem Sexualverhalten. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, wurde es notwendig, die liberalen Praktiken der Jugend durch Fatwas einzuhegen, also religiöse Texte neu zu interpretieren, um individuelles Handeln zu legitimieren. Daher ist Kohärenz oberstes Ziel dieser Fatwas. Um sich nun deutlich vom alten Regime abzusetzen, welches die Jugend derart unterdrückt und frustriert hatte, war es notwendig, den Jugendlichen einen gewissen, auch sexuellen Handlungsspielraum zu geben, diesem aber gleichzeitig einen islamischen Charakter zu verleihen, um sich politisch zu unterscheiden. Im Endeffekt ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit. Wollte man glaubwürdig im Sinne der Revolution erscheinen, musste man diese Intimitäten dulden. Um aber auch politisch glaubwürdig zu bleiben, mussten sie notdürftig eingebettet werden, um die Illusion eines islamischen Regimes aufrecht zu erhalten, das sich von der vorherigen Diktatur unterscheidet. Wären alle diese sexuellen Praktiken und Zusammenkünfte religiös verurteilt und für sittenwidrig erklärt worden, hätte sich die Jugend sofort gegen die Islamisten gewandt und die Religion als neue Tyrannei abgelehnt.
Die Islamisten wurden gestürzt, allerdings nicht von der Jugend, sondern vom Militär. Die sexuelle Befreiungsbewegung war am Ende. Warum hat es keine kulturelle Umwälzung gegeben?
Das zweite Paradox des »arabischen Frühlings« besteht darin, dass eine Veränderung des Verhaltens, aber nicht der Mentalität stattfand. Die Jugendlichen haben intim miteinander verkehrt, aber ihre Einstellung und ihre Denkweisen haben sich nicht verändert; sie haben ihre Vorstellungen über Sex, Frauen, Lust und Begehren, Gleichheit und Respekt nicht grundlegend umgewandelt. Schaut man sich zum Beispiel junge Männer an, die in der Euphorie der Revolution mit Frauen geschlafen und sich so sexuell geöffnet haben, so bemerkt man, dass sich ihre traditionell-konservative Haltung etwa gegenüber ihren Schwestern oder Frauen innerhalb der Familie nicht geändert hat. Der Großteil von ihnen hat später, bei den ersten freien Wahlen, für konservative Ordnungsparteien gestimmt. Diese Diskrepanz zwischen Mentalität und individuellem Verhalten ist das zweite große Paradox, welches den »arabischen Frühling« im Nachhinein belastet.
Welche Rolle haben die Frauen in dieser zögerlichen sexuellen Befreiungsbewegung gespielt?
Die Rolle der Frauen während der sexuellen Befreiung ist zentral. Es gab viele Frauen, die sich Tag und Nacht auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen aktiv eingebracht und damit die engagiertesten Männer beeindruckt und begeistert haben. Die Frauen haben in ihrem Versuch, Verhalten und Anschauungen weiter zu entwickeln, vom revolutionären Moment profitiert. Besonders im Hinblick auf das Sexuelle waren Frauen der Motor der Befreiung, ein Katalysator des Begehrens und des Übergangs zum Akt. Das Problem war, dass sie sich dann in der Falle sahen, angesichts einer immensen sexuellen Frustration der Männer, Männer, die, sich über Jahrzehnte nicht so an Frauen annähern konnten, wie sie das während der revolutionären Wochen taten. Aus diesem psychologischen Schock heraus entstehen inakzeptable männliche Verhaltensweisen, unter anderem Gewalt und sexuelle Aggressionen inmitten der allgemeinen Euphorie und auf öffentlichen Plätzen. Die gewaltige sexuelle Frustration der Männer hat den Weg für eine sexuelle Befreiung der Frauen blockiert. Im Feuer der Frustration gab es keinen Respekt mehr, was dazu geführt hat, dass die Frauen sich zurückzogen und eine Revolution der Sitten abbremsten, für die sie zuvor noch eingetreten waren.
Es scheint, als sei von dem Streben nach einer selbstbestimmten individuellen Sexualität nichts übrig geblieben. Denken wir heute an Sex und Sharia in der arabischen Welt, fallen uns vor allem die Verbrechen des Islamischen Staates ein: Massenvergewaltigungen, Zwangsheiraten, sexuelle Gewalt in jeglicher Form. Ist die Sexualpolitik des IS der grausame Endpunkt der verlorenen sexuellen Revolution?
Schon auf dem Tahrir-Platz, dem Symbol der arabischen Revolutionsbewegung, gab es zwei Seiten der sexuellen Befreiung, eine gute und eine schlechte. Es gab die Seite der Frauen, die eine sexuelle Revolution auf der Grundlage von Gleichheit und gegenseitigem Respekt vor dem Begehren und dem Körper des anderen anstrebten. Aber es gab zur gleichen Zeit, am selben Ort, auch Männer, die Frauen als Sexualobjekt angesehen und deren machistischen Verhaltensweisen sich in sexuelle Aggressionen übersetzt haben. Heute weiß man, dass vom »arabischen Frühling« nur diese zweite, die negative Seite geblieben ist. Das, was bleibt, sind die politische Instrumentalisierung der jugendlichen Sexualität sowie die sexuelle Aggression gegen Frauen. Und da die Islamisten seit 2011 überall von der Macht verdrängt wurden, sind ihre heutigen Erben die Jihadistengruppen als Vertreter derselben islamischen Sexualideologie. Sie verwenden vor allem dieselben Fatwas bezüglich der Typen von »Ehe« – »Lustehe«, »Zeitehe«, »Ehe auf Distanz« –, mit denselben theologischen Argumentationen und unter Bezugnahme auf dieselben religiösen Rahmenbedingungen, um die Sexualität von Jugendlichen in ihrem Jihad zu nutzen.
Vor allem jungen Frauen aus dem Westen, die sich in den Dienst des Jihad stellen und IS-Kämpfer heiraten wollen, werden gemeinhin mit dem Begriff »Jihad al-Nikah« in Verbindung gebracht. Übersetzt bedeutet das »sexueller Jihad«, doch eine Fatwa hierzu existiert nicht. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der »Jihad al-Nikah« nicht existiert. Halten Sie daran fest?
Das Konzept des »Jihad al-Nikah« ist eine Erfindung; er hat in der muslimischen Geschichte niemals existiert. Aber die Mediatisierung dieses Konzepts hat es populär gemacht und so existiert es in der Vorstellung einiger ungebildeter und verlorener Jugendlicher. Heute, in der Organisation des IS, nimmt er die Form der wiederholten »Ehe auf Zeit« an. Jedes Mal, wenn ein »Ehemann« im Kampf stirbt, wird ein »Bruder« gerufen, die Witwe zu »ehelichen« und so fort. Angesichts der oft kurzen Lebenszeit jihadistischer Kämpfer wechseln die Frauen recht häufig von einem Mann zum nächsten. Dieser Aspekt zieht Jugendliche an, die Vorteile darin sehen, dass der IS ihnen sagt: »Kommt zu uns, hier könnt ihr euch einfach heiraten. Kommt zu uns, ihr habt Zugang zum Paradies. Ihr könnt euch für eine Nacht verheiraten, dann in den Kampf aufbrechen und als Märtyrer sterben. Ihr könnt euch auf Distanz verheiraten und findet euren Ehemann im Paradies wieder« und so weiter. Vor allem für die »Ehe auf Distanz« – über Skype – wird viel geworben, und sie hat großen Erfolg bei den westlichen Jugendlichen: Dank des Internet können sie sich »verheiraten« und finden bei der Ausreise nach Syrien oder in den Irak bereits einen Ehepartner vor. Diese Praktiken werden durch die selben Fatwas gerechtfertigt, die im Laufe des »arabischen Frühlings« zwischen 2011 und 2013 formuliert wurden. Auf dem vom IS kontrollierten Gebiet sind »Heiratsbüros« eingerichtet worden, die nach diesen Prinzipien funktionieren. Hier können sich die Jugendlichen für die Heirat registrieren, aber das Ziel ist es, sie für den Kampf zu gewinnen und so ihren sexuellen Trieb zu kanalisieren. Man gibt ihnen ein Haus, eine Ehefrau, hilft ihnen sich einzurichten, damit sie sich dann, ohne Ablenkung durch das Sexuelle, dem Jihad opfern können. Man kann also beobachten, dass der IS eine echte »Sexualpolitik« installiert, die sich dem verschrieben hat, was die islamistischen Regime zwischen 2011 und 2013 umsetzen wollten.
Arie W. Kruglanski, Professor für Psychologie der Universität Maryland, schreibt in seinem Artikel »Joining Islamic State is about ›sex and aggression‹, not religion«, dass die Ideologie des IS nicht politisch, sondern im Grunde sexuell motiviert sei. Würden Sie zustimmen?
Von außen betrachtet handelt es sich natürlich um eine Kontrolle über die individuelle Sexualität durch pseudoreligiöse Motive und Rechtfertigungen. Da wird im Namen der Religion eine inakzeptable Kontrolle über die privatesten Bereiche, die persönliche Intimität, den menschlichen Körper ausgeübt. Aber aus Sicht jener Jugendlichen, die Teil des IS sind, ist es keinesfalls Unterdrückung. Im Gegenteil: Sie empfinden es als Befreiung im Namen der Religion. Vor allem in den arabischen Ländern haben die muslimischen Jugendlichen diese Möglichkeiten nicht. Trotz des repressiven Rahmens des IS erscheint die Sexualpolitik, die auf dem von ihm kontrollierten Territorium durchgesetzt wurde, für die von der Außenwelt abgeschotteten Jugendlichen, die dort leben, freier als die der autoritären Regime in den Ländern, aus denen sie gekommen sind. Das ist ein weiteres Paradox der »arabischen Sexualität«: Der extrem repressive, autoritäre IS, der massiv in das Intimleben eingreift, wird absurderweise von einigen frustrierten Jugendlichen als in sexuellen Belangen freier wahrgenommen.
Welche Perspektive gibt es für die sexuelle Befreiung in der arabischen Welt?
Es ist sicher, dass die Generation, die diese Zeit zwischen 2011 und 2013 erlebt hat, in der sich für kurze Zeit sexuelle Möglichkeiten eröffnet haben, dies nicht so bald vergessen wird. Ähnlich wie in der Generation der Achtundsechziger. Auch wenn sich die Dinge in der Folge nicht positiv entwickelt haben, bleibt doch die Erinnerung an den Moment der sexuellen Freiheit. Heute hängt es von der Entwicklung der politischen Regime in der arabischen Welt ab. Wenn diese sich in eine Richtung entwickeln, in der sie sozial und kulturell an die Regime vor 2011 erinnern, also politisch laizistisch, aber sozial konservativ sind, dann werden wir wohl einen neuen Aufstand der Jugend und einen Ausbruch der Gewalt erleben. Die Jugendlichen, die den Geschmack dieser Freiheit erlebt haben, werden es nicht akzeptieren, wieder unterdrückt zu werden, was auch immer der dahinterstehende Grund ist. Das kann einen Moment lang gut gehen. Wer aber den Geschmack der Freiheit kennt, für den wird es schwierig zu leben, ohne noch einmal davon zu kosten.