Sex und die Sonderwege der Natur

Die Natur findet ihren Weg

Sex wird überbewertet. Geschlechtsverkehr jedenfalls ist für die Reproduktion nicht notwendig, viele Lebensformen pflanzen sich asexuell fort. Über die Sonderwege der Evolution.

Organismen müssen immerfort mit sich verändernden Umweltbedingungen klarkommen. Mal bricht hier ein Vulkan aus, mal schlägt dort ein Komet ein, die Kontinentalplatten rutschen sowieso dauernd lustig über die Erdkugel, und außerdem tauchen ständig irgendwelche Günstlinge der Evolution auf, die einem körperlich überlegen sind und an die Zellsubstanz wollen. Deswegen müssen Arten sich anpassen, und genau dazu dient Sex. Durch die Verschmelzung mit dem Erbgut eines weiteren Individuums entstehen Veränderungen. Die meisten davon sind völlig unerheblich. Manche aber führen zu etwas Neuem, das handfeste Vorteile beschert und damit die Möglichkeit, das eigene Erbgut besonders erfolgreich weiterzugeben.
Der Preis für Sex ist aber hoch. Es muss ein mitunter absurder Aufwand betrieben werden, um Partner zu finden – wem muss man das an dieser Stelle erklären? Trotzdem hat sich die geschlechtliche Fortpflanzung dauerhaft durchgesetzt. Wer allerdings glaubt, sie sei die einzige oder auch nur die erfolgreichste Form des Lebens, sitzt einem anthropozentrischen Irrtum auf.
Denn die meisten Wesen auf Erden pfeifen auf Sex. Das Myriadenheer der Bakterien, Einzeller und Viren sowieso, und doch ist es sowohl an der Arten- wie der Individuenzahl gemessen ausnehmend erfolgreich. Gut, Viren lassen die Drecksarbeit einfach andere für sich machen, viele von ihnen sind daher indirekt durchaus auf Sex angewiesen. Bakterien und Einzeller aber leben üblicherweise vollständig keusch. Wenn die Zeit gekommen ist, teilen sie sich einfach und kopieren ihr eigenes Erbgut. Alle Abkömmlinge sind damit identische Repliken ihrer selbst, echte Klone also.
Neben Mikroorganismen pflanzen sich auch höher entwickelte Lebensformen asexuell fort. Viele Pflanzen vermehren sich so, eine Tatsache, die jedem Fensterbankgärtner und Gemüseanbauer bekannt ist. Durch einfache Ableger und Ausläufer entstehen ohne Befruchtung neue Pflanzen, etwa bei Kartoffeln, Erdbeeren oder Efeu. Auch eine ganze Reihe vielzelliger Tiere hält es so, etwa viele Schwämme und Nesseltiere (Quallen, Seeanemonen, Polypen, Korallen). Obwohl also eine durchaus beeindruckende Vielzahl recht unterschiedlicher Lebewesen den neumodischen Sex-Kram nicht mitmacht (entwicklungsgeschichtlich ist Sex erst vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren »erfunden« worden, die drei bis vier Milliarden Jahre zuvor ging es komplett asexuell zu auf Erden), fällt doch auf, dass die Traditionalisten insgesamt ein wenig schlicht gestrickt sind. Denn sie haben einen großen Nachteil: Sie können auf Veränderungen nicht schnell reagieren. Zwar ist natürlich auch das asexuelle Leben keineswegs bis in alle Ewigkeit fixiert – sonst hätte sich Sex ja nie entwickeln können. Durch verschiedene Einflüsse, vor allem durch energetische Strahlung, die zu Kopierfehlern führt, kommt es immer mal wieder zu spontanen Mutationen und damit zu Änderungen der genetischen Ausstattung. Aber insgesamt ist diese Form der Entwicklung eben doch eher träge und vor allem völlig zufällig, nicht zielgerichtet.

Sexuelle Wesen dagegen haben die Möglichkeit, die Qualität ihrer genetischen Fortentwicklung selbst zu beeinflussen, indem sie auswählen, mit wem sie sich paaren. Diese sogenannte sexuelle Selektion basiert darauf, dass beispielsweise ein Tier dem Partner signalisiert, wie gut sein genetisches Material ist. Mit den bekannten Folgen: grellbunte Farben, absurde Körperanhänge, tumbes Macho-Gehabe. Aber alles Gebettel um körperliche Vereinigung nutzt nichts, wenn kein passender Partner zur Verfügung steht.
Deshalb beherrschen viele Arten beides. Sie sind geschlechtliche Wesen, brauchen zur Vermehrung aber keineswegs einen Partner. Passend zur Weihnachtszeit heißt diese Variante Jungfernzeugung (Parthenogenese). Tatsächlich sind Weibchen vieler Arten zur unbefleckten Empfängnis befähigt. Zu ihnen gehören eine ganze Reihe von Insekten und Krebstieren, etwa Stabheuschrecken, Wandelnde Blätter, Läuse, Wasserflöhe, aber auch viele Reptilien, wie manche Warane, Schienenechsen, Geckos, Riesenschlangen und Vipern. Die meisten von ihnen sind fakultativ parthenogenetisch; sie genießen normalerweise also die Vorzüge von ungezügeltem Sex, sorgen zur Not aber auch ohne für Nachwuchs. Das erleichtert ihnen die Neukolonisation von Lebensräumen, etwa wenn ein Waranweibchen irgendwo in der südostasiatischen Inselwelt durch Stürme auf eine bislang unbesiedelte Insel gespült wird. Ein Männchen mit demselben Schicksal muss darauf hoffen, dass mit dem nächsten Taifun vielleicht noch ein Weibchen nachgeliefert wird, oder es ist in einer evolutiven Sackgasse angelangt. Ein Weibchen aber stellt einfach auf Jungfernzeugung um und sorgt so selbst für ein bisschen Gesellschaft auf der einsamen Insel.
Anders als bei der asexuellen Vermehrung entstehen die Klone bei der Parthenogenese allerdings nicht durch schlichte Zellteilung, sondern sie entwickeln sich, wie für sexuelle Wesen üblich, aus den Eizellen der Mutter. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die alten Jungfern hierfür keine Befruchtung benötigen. Was sie keineswegs zwingend von Sex abhält: Manche der nordamerikanischen Rennechsen etwa sind sogar ausschließlich parthenogenetisch, das heißt, es gibt überhaupt keine Männchen. Sie frönen der lesbischen Liebe, erst durch Sex mit einer Partnerin werden Eisprung und die Entwicklung der geklonten Nachkommen ausgelöst. Dabei übernimmt dann ein Weibchen den männlichen Part, verhält sich also so, wie bei zweigeschlechtlichen Echsen Männchen zu agieren pflegen, die sich etwa im Nacken der Partnerin festbeißen und die eigene Kloake unter die der Gespielin drehen. Welches der Rennechsenweibchen dabei den Kerl gibt, hängt vom Hormonstatus ab, der während eines recht exzessiven Balzrituals abgeprüft wird. Kurz vor dem Eisprung hat das Weibchen viel Östrogen im Blut und verhält sich weiblich. Mit sinkendem Östrogenspiegel übernimmt es die männliche Rolle.
Ein weiterer Spezialfall der Parthenogenese ist die Gynogenese. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Amazonenkärpfling aus Südamerika. Auch bei dieser Art gibt es ausschließlich Weibchen, deren Eizellen sich aber erst entwickeln, nachdem sie Sex mit einem Männchen hatten – allerdings einer anderen Art. Das fremde Spermium dringt zwar in die Eizelle ein, es kommt aber nicht zur Verschmelzung der Zellkerne. Es verreckt einfach in der Eihülle und hat den einzigen Zweck, somit die ungeschlechtliche Eientwicklung auszulösen.

Wenn wir mal den biologisch unbelegten Fall Marias beiseite lassen, sieht es so aus, als fehlte dem Menschen die Möglichkeit der Jungfernzeugung. Bekanntermaßen aber ermöglicht die Reproduktionsbiologie inzwischen auch unsereinem die Fortpflanzung ohne Sex. Zwar wird dafür immer noch das Erbgut von zwei Individuen benötigt, das miteinander verschmolzen wird, Geschlechtsverkehr ist aber längst nicht mehr erforderlich.
Da mag Sibylle Lewitscharoff sich noch so gruseln wegen der angeblichen Unnatürlichkeit des Geschehens – im Grunde zeigt sie damit nur ihre beschränkten biologistischen Kenntnissen. Denn wie obige Beispiele zeigen, hat die Evolution zahlreiche Sonderwege und Reproduktionsmodi zur Fortpflanzung geschaffen. Es ist eben ihr Wesen, dass Arten sich immerfort weiterentwickeln. So wurden aus asexuellen Ursuppentierchen irgendwann fröhlich pimpernde Mehrzeller, die wild ihr Erbgut durcheinandermischen, was im Ergebnis eben nicht nur zur quasi CSU-konformen Vater-Mutter-Kind-Kernfamilie geführt hat, sondern auch zu Sex, der völlig losgelöst ist von jeder Reproduktionsaufgabe (Homosexualität, Verhütung), aber unterm Strich natürlich dennoch beim Überleben der Art hilft. Von Halbwesen also keine Spur. Um den großen Philosophen Ian Malcolm aus »Jurassic Park« zu zitieren: »Die Natur findet ihren Weg.«
In der Evolution des Menschen ist zwar nicht die praktische Möglichkeit der Jungfernzeugung entstanden, dafür aber durch stete (natürlich ebenfalls evolutiv bedingte) Steigerung der Geisteskraft die Möglichkeit von Retortenbabys und künstlicher Befruchtung. Evolution endet nie. Momentan erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass auch der Mensch sich in gewisser Weise zur Parthenogenese entwickeln wird. Allerdings wohl nicht durch Mutationen im Urogenitaltrakt, sondern durch Aufrüsten im Köpfchen und daraus resultierenden Innovationen der Reproduktionsmedizin. Dann wären wir da, wo Wasserfloh und Rennechse schon lange sind, nämlich bei einer bunt gemischten Gesellschaft aus Klonen und genetisch frisch Rekombinierten. Wem das zu sehr gruselt zum Trost: Immerhin der Sex dürfte uns in jedem Fall erhalten bleiben.