Die Reform der Sexualpädagogik

Die Vakuumpumpe ist kein Küchengerät

Die Debatte über die Reform der Sexualpädagogik war der Aufreger des ausgehenden Jahres.

Seit Beginn des Jahres tobt ein Kampf um die »Pädagogik der sexuellen Vielfalt« im Schuluntericht. Auslöser ist der neue baden-württembergische Bildungsplan für Schulen, der 2015 in Kraft treten und den veralteten Sexualkundeunterricht, angesiedelt im Fach Biologie, ablösen sollte. Stattdessen sollte fächerübergreifend die »Akzeptanz sexueller Vielfalt« als Lernziel im Unterricht festgeschrieben werden – für alle Schulformen von der ersten Klasse bis zum Abitur.
Die Initiative war von den Grünen ausgegangen: Sie hatten vorgeschlagen, das Thema »sexuelle Vielfalt« stärker zu gewichten, den Aufklärungsunterricht vom naturwissenschaftlichen Unterricht zu trennen und in den Ethik-, Sprachen- und Sozialkundeunterricht zu verlagern. Ähnliche Ziele verfolgen auch SPD und Grüne in Niedersachsen. Im März forderten die Fraktionen, die Kerncurricula aller Klassenstufen so zu ergänzen, dass »die Lebenswirklichkeit von Menschen verschiedener sexueller Identitäten hinreichend Berücksichtigung und angemessene Behandlung findet«. Konkret stand in dem viel geschmähten Antrag: »Die unzureichende Thematisierung von Homo-, Bi-, Trans- und Inter- und Asexualität in Schulbüchern und im Schulunterricht führt dazu, dass homo-, bi-, inter- und trans- und asexuelle Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu wenig unterstützt werden und sich selbst als abweichend von der Norm erleben. Das macht es ihnen schwer, ein positives Selbstbild zu entwickeln.« Gruppen wie das ehrenamtliche Netzwerk SchLAu (Schwul­lesbische­BiTrans*Aufklärung), die Projekte »Mit Sicherheit verliebt« und »Jugend gegen Aids« sollten – so heißt es im Antrag – mit Unterstützung des Landes Aufklärungsprojekte an Schulen durchführen dürfen.
In Nordrhein-Westfalen gibt es ähnliche Vorschläge. So soll dort ein »Kondomführerschein« eingeführt werden, denn die Zahl der Aidsinfektionen ist immer noch besorgniserregend hoch. Und ungewollte Schwangerschaften sind auch nach wie vor ein Problem, nicht nur in der sogenannten Unterschicht.
Gegen den Reformwillen hat sich bundesweit Protest formiert: Kritiker stören sich anw dem Lernziel »sexuelle Vielfalt«. Demonstranten zogen mit rosafarbenen und blauen Luftballons durch die Stuttgarter Innenstadt, um vor der angeblichen »Frühsexualisierung« zu warnen. Rosa und blau, so simpel ist das Geschlechterbild der Demonstranten, bloß keine Abweichungen! Auf den Plakaten las man Sprüche wie »Gender – seelische Vergewaltigung unserer Kinder«. Eine Initiative nennt sich »Besorgte Eltern«.
Der Realschullehrer Gabriel Stängle aus dem Nordschwarzwald störte sich an der »Überbetonung« der sexuellen Vielfalt und initiierte eine Online-Petition: »Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens«. Rund 190 000 Unterzeichner hat er hierfür gewonnen, von denen sich offenbar niemand vorstellen kann, dass auch sein Kind anders sein könnte, als die Heteronormativität vorgibt.
Stängle schreibt zwar, man dürfe die LSBTTIQ-Lebensstile (lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer) nicht diskriminieren, aber er warnt sogleich: »Aus der gleichen Würde jedes Menschen folgt noch nicht, dass jedes Verhalten als gleich gut und sinnvoll anzusehen ist.« Und er schürt erfolgreich Angst. So schreibt er, homosexuelle Jugendliche seien besonders suizidgefährdet und anfällig für Alkohol und Drogen, für HIV oder psychische Erkrankungen. Einige Unterzeichner meinen, dass man über Homosexualität »am besten gar nicht reden« sollte oder nur, wenn man sie moralisch bewerte – als nicht erstrebenswert. Manche behaupten, Toleranz gegenüber Homosexuellen sei gleichbedeutend mit Intoleranz gegenüber christlichen Werten. Der baden-württembergische Kultusminister Andreas Stoch (SPD) erhielt E-Mails mit reaktionären Beschimpfungen: »Sie wollen, dass unsere Kinder nicht mehr fruchtbar sind« oder »Homosexualität ist eine Krankheit«.
Insbesondere richten sich die Proteste gegen Elisabeth Tuider, die an der Universität Kassel das Fachgebiet »Soziologie der Diversität« leitet. Ihre Schwerpunkte sind Genderforschung, Sexualpädagogik und Prävention von sexueller Gewalt. Anlass ist das von Tuider, Stefan Timmermanns und anderen Sexualpädagogen herausgegebene, für Lehrkräfte und Jugendarbeiter vorgesehenes Handbuch »Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit«. Das Buch erschien bereits 2008 im Beltz-Verlag. Gegen Tuider brach 2014 ein Shitstorm los, sie erhielt zahlreiche Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Akif Pirinçci würde sie gern im »Knast verrotten« sehen, die AfD-Politikerin Beatrix von Storch erklärte, »Sexualausbildungsleitfäden für Kinder und Jugendliche, die Analverkehr und Sexspielzeuge zum Inhalt haben, sind pervers«. Die FAZ meinte, in der Publikation »Postmoderne Entgrenzungen« von Tuider Anzeichen einer Pädophilie fördernden Literatur zu finden. Aber Tuider erklärte in einem Interview recht gelassen dazu: »Genderforschung und Sexualpädagogik kennen das Problem der Diffamierung (…) schon länger.« Für ihr Buch hatte sie Sexualpädagogen im ganzen Bundesgebiet um die Zusendung bewährter Unterrichtsmethoden gebeten. Herausgekommen ist eine Materialsammlung für Schule und Jugendarbeit. Es handelt sich um ein wissenschaftliches Buch, allerdings kann man sich vorstellen, dass viele der Gruppenaufgaben nicht dem Geschmack eines wertkonservativen christlichen Bürgertums entsprechen. In dem Buch werden Begriffe wie »Gangbang« oder »Analsex« erläutert und Fragen gestellt wie: »Wo könnte der Penis sonst noch stecken?« Es gibt darin Aufgaben wie das »Sex-Quiz« ab zwölf Jahren, das unter anderem diese Fragen enthält:

»Was ist eine Vakuumpumpe?
a) Ein Gerät zur Zubereitung luststeigernder Lebensmittel
b) Eine Plastikpumpe zum Aufbau und zur Verstärkung der Erektion
c) ein Gummipuppen-Sterilisator

Was ist Gang-Bang?
a) Sex in einer Gruppe von vielen Männern und Frauen
b) Sex zu dritt
c) Wenn eine Person mit mehreren Männern, die in einer Schlange anstehen, hintereinander Sex hat (urspr. Gruppenvergewaltigung).«

Oder die Aufgabe: »Das erste Mal«. Altersstufe: ab 13 Jahren.
»Die Jugendlichen bilden Vierergruppen und ziehen vier Karten, auf denen verschiedene erste Male stehen. Neben das erste Mal Eifersucht, Händchenhalten oder Küssen gibt es auch das erste Mal Petting und das erste Mal Analverkehr. Die Jugendlichen sollen dann ein erstes Mal auswählen und es in frei gewählter Form (zum Beispiel als Gedicht, als Bild, als Theaterstück oder Ähnliches) darstellen.«
Tuider erklärte dazu in einem Interview mit dem Spiegel: »Die Jugendlichen geben die Themen vor – nicht die pädagogisch Tätigen. Und machen wir uns nichts vor: 70 Prozent der 13jährigen Jungs und 30 Prozent der Mädchen sehen regelmäßig Pornographie – und haben Fragen dazu. Ob eine Schülergruppe über Prostitution, Oralverkehr oder Schmetterlinge im Bauch reden will, entscheidet sie selbst. Die Fachkräfte, die zumeist von außen in die Schulen kommen, finden in unserem Buch dann Vorschläge für Übungen, um mit den Teenagern darüber ins Gespräch zu kommen.«
Eine Grundregel sei im Übrigen: Jeder und jede könne jederzeit aussteigen. Lehrpersonen müssten die Methoden auch nicht umsetzen, sie seien nicht verpflichtend.
Kritisiert wurde auch die im Vorwort des Handbuches getroffene Feststellung zur »dekonstruktivistischen Sexualpädagogik« gehöre die »Verstörung von Selbstverständlichkeiten«. Ihre Gegner meinen, »abnorme Sexualitäten« würden hier bewusst gefördert. Der von Tuider und ihren Kollegen verfolgte Ansatz jedoch will gängige Vorurteile zum Beispiel zur Homosexualität in Frage stellen. »Verstören« ist im Sinne von »in Frage stellen« gemeint. Dass das Buch vom Pro-Familia-Landesverband in Niedersachsen empfohlen wird, hat die Gegner besonders aufgebracht, denn Pro Familia ist ein gemeinnütziger Verein und wird mit öffentlichen Mitteln gefördert.
Der Protest gegen den Bildungsplan ist nicht der erste seiner Art: Im vergangenen Jahr sorgte ebenfalls in Baden-Württemberg ein für den Deutschunterricht vorgesehenes Buch für Protest: Dirk Kurbjuweits Novelle »Zweier ohne« handelt von einem elfjährigen Jungen, der einen Seelenverwandten sucht. Den findet er schließlich in Ludwig. Ludwig lebt in der Nähe einer Brücke, von der schon mehrfach Lebensmüde gesprungen sind. Das Kultusministerium in Baden-Württemberg hatte »Zweier ohne« (der Titel bezieht sich auf eine Segelpartie) eigentlich zur Prüfungslektüre für Schüler der 10. Klasse bestimmt. Dagegen wurde aus christlichen Kreisen Einspruch erhoben, die es als anstößig empfanden, 16jährige einen Roman lesen zu lassen, in dem erotische Szenen und eine bedrückende Begegnung mit einem Selbstmörder vorkommen. Die Kritiker stellten die Tauglichkeit des »Sexbuchs« (der christliche Nachrichtendienst Topic) wegen seiner erotischen Passagen und der »Störung der Totenruhe« als Pflichtlektüre in Frage. Prompt gab die rot-grüne Regierung in Baden-Württemberg ein und stellte es den Schulen anheim, ob sie »Zweier ohne« oder »Andorra« von Max Frisch als Lektüre wählen.
Die Proteste sind auch in anderen Fällen erfolgreich gewesen: Unlängst gab Grün-Rot bekannt, in Baden-Württemberg davon Abstand zu nehmen, »Akzeptanz sexueller Vielfalt« als Querschnittsthema in allen Fächern in den Bildungsplan aufzunehmen. Die Regierungskoalition präsentierte jedoch eine neue Idee: Die bislang fünf Leitprinzipien im Bildungsplan sollen in »Leitperspektiven« umbenannt und um eine sechste Leitperspektive ergänzt werden. Darin wird sehr allgemein für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt geworben, das wichtige Wort »sexuell« aber fehlt. Unter dieser Überschrift soll Toleranz nicht nur gegenüber homosexuellen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen gelehrt werden, sondern auch gegenüber der sozialen Herkunft, Religion, Kultur oder Ethnie von Menschen. Das alles klingt nach arger Verwässerung, nach Ethikunterricht. Ob da von einem reformierten, fächerübergreifenden Sexualkundeunterricht noch etwas übrig bleiben wird? Vermutlich nicht.
Stängle, der Initiator der Online-Petition gegen den Bildungsplan, ist entsprechend erfreut darüber, dass seine Sichtweise von der Politik übernommen wurde: »Als Petitionsinitiative war es uns von Anfang an wichtig, dass sich die ›Leitprinzipien‹ gegen alle Formen der Ausgrenzung richten und nicht nur eine Interessengruppe überbetont wird.«
Die Abkehr von der »Akzeptanz sexueller Vielfalt« in der Schule ist eine gravierende Fehlentscheidung, denn unter Schülern ist Homophobie nach wie vor – Hitzlspergers Outing hin oder her – extrem verbreitet. So hat ein Lehrer, der im selben Landkreis wie Gabriel unterrichtet, erklärt, dass unter seinen Neunt- und Zehntklässlern »schwule Sau« eine gängige Beschimpfung sei. Als er ansprach, dass der ehemalige Außenminister Guido Westerwelle homosexuell ist, habe die Mehrheit seiner Klasse empört reagiert.