Neue Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat

Ermittlungen mit Gschmäckle

Die Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat von 1980 werden wieder aufgenommen. Das ist ein erster Erfolg für die überlebenden Opfer.

»Ich habe heute angeordnet, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden«, verkündete Generalbundesanwalt Harald Range in der vergangenen Woche in Karlsruhe. 34 Jahre nach dem Anschlag auf das Münchener Oktoberfest soll die Sache erneut untersucht werden. Zuvor hatte die Bundesanwaltschaft eine neue Zeugin vernommen, die sich erst im Sommer gemeldet hatte. »Die Aussage der Zeugin war so werthaltig, dass ich entschieden habe, wir wollen der Sache noch einmal nachgehen«, sagte Range.

Der Anschlag auf das Oktoberfest war das größte Attentat der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Am 26. September 1980 starben 13 Menschen, 211 wurden verletzt, 68 von ihnen schwer. Das Attentat fiel mitten in die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs. Der damalige Kanzlerkandidat der Union, Franz Josef Strauß, versuchte sofort, das Ereignis für seinen Wahlkampf zu instrumentalisieren und den Anschlag der RAF anzulasten. Er kritisierte vor allem die in seinen Augen zu laxe Politik des sozialliberalen Innenministers Gerhart Baum (FDP) gegenüber dem »linken Terrorismus«. Nachdem klar geworden war, dass die RAF-These nicht zu halten war, tat die bayerische Landesregierung alles, um einen organisierten rechtsterroristischen Hintergrund zu vertuschen. Die Behörden legten sich schnell auf einen Einzeltäter fest. Der Student Gundolf Köhler sollte die Bombe aus Liebeskummer und wegen psychischer Probleme gelegt haben. Ein politischer Hintergrund der Tat und eine mögliche Beteiligung der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann, zu der Köhler Kontakt hatte, wurden von den Behörden bestritten. Das erste Verfahren wurde bereits im November 1982 eingestellt.
Dass der Fall erneut aufgerollt werden muss, ist auch der hartnäckigen Arbeit des Münchener Anwalts Werner Dietrich zu verdanken. Er vertritt seit 1982 mehrere Opfer des Attentats, die sich mit der Einzeltätertheorie nicht zufrieden geben wollen. Der Neuaufnahme der Ermittlungen ging ein zäher Kampf voraus. »Wir mussten die Bundesanwaltschaft zum Jagen tragen«, sagte Dietrich während einer Veranstaltung im bayerischen Landtag in der vergangenen Woche. Bei Dietrich hatte sich die neue Zeugin zuerst gemeldet, die den Anlass für die Wiederaufnahme der Ermittlungen gab. Für den Anwalt ist klar, dass es ohne den NSU-Komplex und das dubiose Vorgehen der Behörden vermutlich nicht so weit gekommen wäre. Seit der Selbstenttarnung des NSU ist auch das Medieninteresse am Oktoberfest-Attentat wieder stark gestiegen. »Dadurch wurde der Druck auf die Ermittlungsbehörden enorm erhöht«, so Dietrich.
In den achtziger Jahren waren Menschen wie Dietrich und der Journalist Ulrich Chaussy, die Zweifel an der offiziellen Version der Behörden äußerten, politisch isoliert. Chaussy, Reporter beim Bayerischen Rundfunk, hat über Jahrzehnte versucht, die Hintergründe des Attentats aufzudecken, was in dem Spielfilm »Der blinde Fleck« dargestellt wird. Offensichtlich war die Premiere des Films im bayerischen Landtag so eindrucksvoll, dass Innenminister Joachim Herrmann (CSU) in der anschließenden Podiumsrunde dem Opferanwalt Dietrich umfassende Einsicht in die noch vorhandenen Akten versprach.

»Die Behörden haben die Akten wie heiße Kartoffeln behandelt und sie ohne systematische Auswertung einfach an das bayerische Hauptstaatsarchiv abgegeben«, wundert sich Dietrich. So sind allein 80 Ordner aus der bayerischen Staatskanzlei zur Wehrsportgruppe Hoffmann im Staatsarchiv gelandet. Hinzu kommen noch 887 Spurenakten zu den damaligen Ermittlungen und sieben Ordner aus dem bayerischen Innenministerium. Die Unterlagen aus dem bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz sind nicht einsehbar. Der Geheimdienst beruft sich darauf, dass Karl-Heinz Hoffmann, der frühere Anführer der gleichnamigen Wehrsportgruppe, immer noch überwacht wird. Weitere Unterlagen zum Oktoberfest-Attentat lagern noch beim BND, beim BKA und beim Bundesamt für Verfassungs­schutz.
Die neue Zeugin war zum Zeitpunkt des Attentats als Sprachlehrerin in einem Aussiedlerlager tätig. Dort unterrichtete sie einen jungen Mann aus »Oberschlesien« mit offenkundig rechtsex­tremer Gesinnung. Am Morgen nach dem Anschlag entdeckte die Frau nach eigenen Angaben zufällig im Spind des jungen Mannes zwei Pistolen und einen Stapel Flugblätter. Auf den Flugblättern habe groß der Name Gundolf Köhler gestanden, der Mann sei als »Held der Bewegung« gefeiert worden. Am Morgen nach dem Attentat war Köhler allerdings noch nicht öffentlich als Täter bekannt.
Der Sprachschüler war am folgenden Tag spurlos verschwunden. Später stellte sich heraus, dass er nach Argentinien ausgereist war. Name und Geburtsort der Person sind bekannt. 2004 reiste der Mann unter seinem richtigen Namen wieder nach Deutschland ein. Er scheint danach wieder im Raum München gelebt zu haben. Die Lehrerin gibt an, ihn 2004 in München getroffen zu haben. Sie habe ihre Beobachtungen sofort der Polizei gemeldet. Doch diese habe kein Interesse gezeigt.
Mittlerweile haben sich noch fünf weitere Zeugen bei Dietrich gemeldet. Alle sind auf der Verletztenliste des Attentats aufgeführt, wurden aber nie offiziell vernommen. Sie bestätigen die Aussagen des Zeugen Frank Lauterjung, der bereits 1992 starb. Lauterjung hatte angegeben, unmittelbar vor dem Anschlag einen Streit zwischen Köhler und weiteren Personen beobachtet zu haben. Die Männer schienen sich gut zu kennen.
Einer der neuen Zeugen, ein IT-Fachmann, sah Köhler nach eigenen Angaben in direkter Nähe des Tatorts mit zwei weiteren Personen. Ein Ehepaar bestätigt den Streit zwischen Köhler und zwei Personen. Ein weiterer Zeuge, ein ehemaliger Finanzbeamter, gibt ebenfalls an, Köhler in der Nähe des Tatorts im Streit mit mehreren Personen beobachtet zu haben, die sich in einem PKW befanden. Außerdem gibt es von einer anderen Person Hinweise auf einen möglichen zweiten Sprengsatz, der nicht explodierte. Dies deckt sich mit den Äußerungen des mutmaßlichen V-Manns Ulrich Behle, eines Mitglieds der Wehrsportgruppe Hoffmann, der sich auf seiner Flucht in den Libanon in einem Hotel in Damaskus mit dem Oktoberfest-Attentat brüstete und ebenfalls von einer zweiten Bombe gesprochen hat. Behle machte seine Aussagen bereits im März 1981. Diese wurden von den Behörden als »alkoholbedingte Aufschneidereien« bewertet.
Ein weiterer Zeuge, in dessen Körper noch Splitter der Bombe stecken, hat sich mittlerweile bereit erklärt, die Splitter operativ entfernen zu lassen, um sie mit anderen Sprengsätzen aus der damaligen Zeit vergleichen zu können. Die Bundesanwaltschaft ließ bereits 1998 alle Asservate zum Oktoberfest-Attentat vernichten. Bisher hat die Bundesanwaltschaft nur die Sprachlehrerin vernommen. Die neuen Zeugenaussagen hat Dietrich in der vergangenen Woche der Bundesanwaltschaft nachgereicht. Außerdem hat er alle Unterlagen auch direkt an Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) weitergeleitet. Hier vermutet Dietrich eine »größere Offenheit für eine ergebnisoffene Prüfung des neuen Materials«. Der Austausch zwischen Ministerium und Bundesanwaltschaft dürfte seitdem rege gewesen sein.

Auch wenn die Wiederaufnahme der Ermittlungen für die überlebenden Opfer des Attentats ­einen wichtigen Erfolg darstellt, dämpft ein wichtiges Detail die Erwartungen: Das bayerische LKA leitet die Untersuchung. Es hatte als erste Behörde bereits nach acht Monaten die Ermittlungen zum Attentat eingestellt und in den folgenden 33 Jahren alle Zweifel an der Einzeltäterthese beharrlich ignoriert. Dass nun ausgerechnet dieses LKA allein mit den Ermittlungen beauftragt wird, hat für Opferanwalt Dietrich durchaus »ein Geschmäckle«.